Die folgenden Überlegungen sind Thomas Krefeld gewidmet. Sie stehen in einem Dank- und Freundesband für einen Kollegen mit einem umfassenden, auf verschiedenen Gebieten innovativen und europaweit gespannten Œuvre von beeindruckender Intensität und Anregungskraft. Sie sollen ein Beitrag zu einem Diskurs sein, der in der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München so nie hat zustande kommen können angesichts einer Arbeitssituation, die in der universitären Aufgabenverteilung von einer Überlast der administrativen wie der Lehranteile gegenüber denen der Forschung geprägt war. So bot sie bei weitem nicht die eigentlich für eine Universität ja charakteristischen Möglichkeiten einer Kooperation, wie sie von der Sache her überall dort erwünscht und erforderlich gewesen wäre, wo Gemeinsamkeiten von Fragestellungen und Herausforderungen dies unmittelbar nahegelegt hätten. Dies gilt selbst und auch für das Projekt LIPP, an dessen Einrichtung und Umsetzung wir beide stark engagiert waren. Es hätte sich vielleicht (vgl. etwa Naglo 2007) zu einer solchen Plattform für Kooperation weiterentwickeln können. Nun, tempi passati… So kann auch dieser kleine Text nur ein Ball sein, der „über Bande“ ins Spiel kommt. Immerhin: die Hoffnung, dass die Zeit „nach der Entpflichtung“ nicht zuletzt auch Zeit für Forschung sein könne, ist vielleicht nicht ganz trügerisch. Dies jedenfalls ist dem Jubilar zu wünschen.
1. Europäische Sprachensituationen
Sprachen sind nicht nur ein Ensemble von Lauten, Tönen, Silben, von Phonemen und Morphemen, von Syntax und Lexikon. Sie haben es zugleich mit der sprachlichen Verfasstheit von Gruppen, von Gesellschaften und Regionen als einem zentralen Teil menschlicher Identitäten zu tun. Diese sind alle historisch bedingt und geschichtlich verfasst. Das wird nirgends deutlicher als in der fulminanten Sprachengeschichte des europäischen Kontinents. Auch die Konzeptualisierungen von dem, was Sprachen sind, sind wesentlich von der sprachlichen Entwicklung der letzten 300 Jahre selbst bestimmt – und zwar sowohl in der Sache, der Sprache, wie auch hinsichtlich dessen, was als eine solche überhaupt anzusehen und in welcher Weise Analysen in Bezug auf dieses Objekt einer eigenen Wissenschaft zu bearbeiten seien.
Die europäische Geschichte der Neuzeit ist vor allem auch Sprachengeschichte. Der Ausgang aus dem Mittelalter ab dem 13. Jahrhundert bis ins 17./18. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt im 15. und 16. Jahrhundert war eine medial verfasste und beschleunigte Veränderung der Sprachenlandschaft, einer Landschaft, die in großen Teilen des Mittelalters bei allen Modifikationen im Einzelnen doch eine relativ überschaubare Situation bot – überschaubar dort, wo und soweit Daten vorliegen. Diese waren vor allem schriftlich. Die Mündlichkeit war kein primäres Objekt für Linguistiken der damaligen Zeit, soweit sie überhaupt linguistische Relevanz gewann. Die sprachliche Entwicklung seit dieser Veränderung kulminierte ab dem späten 18.Jahrhundert in einer neuen Karriere von Sprache als Identitätskonstituenz, die bestimmt ist durch die Ablösung der Gesellschaftsstrukturen von einem dynastisch verfassten politischen Grundmodell mit seiner klerikalen Parallelstruktur. Für die Identitätsbildung bedurfte es einer Alternative zu den zuvor gültigen gesellschaftlichen Strukturierungsmöglichkeiten. Genau dafür gewann Sprache eine zentrale Rolle, und zwar in Kombination mit einem neu gefassten gesellschaftlichen Grundmodell, der Nations-Konzeptualisierung, die außerordentlich attraktiv war, sich freilich nirgends zu einer vollständigen Umsetzung entwickeln sollte.
Diese Prozesse erfassten den europäischen Sprachenraum - wenn auch mit einer großen, mehrhundertjährigen zeitlichen Erstreckung - fast vollständig. Die Vermittlung der Entwicklungen hin zu den betroffenen Sprachen zeitigte dabei unterschiedliche Konsequenzen. Ein Teil der Sprachen wurde Medium der geschichtlichen, insbesondere der sozialen Veränderungen und Neukonstituierungen politischer Einheiten im Ab- und Auflösungsprozess der dynastisch-klerikalen Strukturen. Das leitende Konzept, das dabei eingesetzt wurde, eben das „Projekt Nation“, erwies sich als außerordentlich leistungsfähig für die Transformation auch und gerade der sprachlichen Konstellationen. Das „Projekt Nation“ wälzte nicht nur die gesellschaftlichen Gesamtstrukturen um, es führte auch zur Neukonstituierung politischer Einheiten nach großräumlichen Kriterien. Die Ausgangslagen dafür waren im westlichen und mittleren Europa jeweils andere. Die beiden religiös bestimmten konfessionellen Großräume des römischen Katholizismus und, seit dem 16. Jahrhundert, des Protestantismus waren – etwas mühsam – ideologisch noch als bloße Modifikationen des dynastisch-klerikalen Systems einsetzbar gewesen. Mit dessen proklamatorischem Ende seit 1789 erfolgte die Veränderung aus der vertikal strukturierten Gesamtstruktur des Gesellschaftsbildes in dessen Horizontalität, in die Fläche. Der einheitliche Staatsraum wurde zu einem zentralen Organisationsmodell für Staatlichkeit. Dieser einheitliche Staatsraum ergab die Folie für einen einheitlichen Kommunikationsraum, dessen innere Struktur von einer einheitlichen Sprache erfasst und durch sie über verschiedene Umsetzungsprozesse gefestigt wurde. Frühere übergreifende Verkehrssprachen verloren so ihre - teils ökonomisch (im weiträumigen Handelskapital), teils juristisch und verwaltungstechnisch privilegierten - sprachlichen Voraussetzungen. (Exemplarisch ist dafür etwa die sprachliche Situation der Hanse.)
Die Umgestaltung der gesellschaftlichen Gesamtstrukturen, die in der Sache weitgehend von der Umgestaltung der Produktions- und Zirkulationsweisen bestimmt wurde, resultierte in einer Reihe von – jeweils im Einzelnen durch spezifische Konstellationen konkretisierten – Herstellungen solcher einheitlicher Kommunikationsräume mit einer für die Räume zentralen einheitlichen Sprache. Prädynastische Inseln wie etwa die Schweiz erlebten die Transformationsnotwendigkeiten angesichts ihrer früheren kleinräumigen Organisationsformen weniger drastisch als andere, deren Vereinheitlichungen auch vor der eigentlichen Nationalisierung schon weit vorangeschritten waren, wie insbesondere in Frankreich und auf der iberischen Halbinsel. Die Situation in den von Europa abhängigen, aber selbständig gewordenen amerikanischen Kolonien bot sich wiederum anders dar – sowohl im Norden Amerikas wie Amerikas Mitte und Süden.
Das 19. Jahrhundert kann als zentrale Konsolidierungsperiode für die Herstellung solcher staatlicher – und damit sprachlicher – Strukturen angesehen werden. Die meisten heutigen europäischen Staaten datieren nicht weiter zurück als bis zu dieser Periode, einige sind noch immer nicht zu einer solchen Staatsbildung gekommen, streben sie aber an (z.B. das Baskenland oder Katalonien).
2. Nationalsprache als Grundmodell
Das „Projekt Nation“ führte die europäischen Sprachensituationen zu einer Grundfigur, die durch mehrere Vektoren bestimmt ist:
- innere Konsolidierung der zur Nationalsprache erhobenen Sprachvoraussetzungen
- Ertüchtigung der Nationalsprache für alle Bereiche der ökonomisch wie gesamtgesellschaftlich, besonders administrativ-juristisch erforderten, Kommunikationsaufgaben
- Verdrängung von Sprachen, die, in Teilen dieser Bereiche zuvor weit entwickelt, über entsprechende sprachliche Ressourcen verfügten und Nutzungsansprüche in der kommunikativen Praxis realisiert und durchgesetzt hatten
- Marginalisierung von möglichen Alternativen (gegebenenfalls durch Ausschluss einzelner, meist grenzmäßiger Bereiche aus dem gemeinsamen Kommunikationsraum und deren Verselbständigung zu eigenen „Projekt-Nation“-Gebilden)
- Abgrenzung des Kommunikationsraums gegen andere Kommunikationsräume
- politische wie sprachenpolitische Auseinandersetzungen mit anderen politisch verfassten Nationen und deren Sprachen bei gleichzeitiger Entwicklung einer weitgehend spezialisierten partiellen Mehrsprachigkeit für einzelne Kommunikationsbereiche
- Management der sprachlichen Verhältnisse in den jeweiligen Grenzbereichen zu den benachbarten nationalen Projekten.
Für die Ausarbeitung der neuen Grundfigur ist die Grenze ein fundamentaler Parameter (vgl. Ehlich 2005). Grenzbegegnungen wie Grenzmarkierungen sind dafür wesentlich – von entsprechenden semiotischen und materiellen Markierungen bis weit in die inneren Strukturierungen des Sprachwissens der beteiligten Bevölkerungen hinein.
Dadurch konstituieren sich Konfliktareale, die sowohl gesellschaftlich wie individuell eine erhebliche Virulenz entwickeln. Der Grenzraum wird zu einem exemplarischen Feld für die Bearbeitung der Konflikte, als die sich diese Problematik gesellschaftlich und geschichtlich ausarbeitet.
3. Sprachliche Konstellation, Sprach-Konzeptualisierung und Sprachdidaktik
Zu einer zentralen Weiterung dieser Struktur gehört die systematische Ausbildung eines Sprachkonzeptes, das ihr Zentrum in einer Anthropologie der Monolingualität hat. In dieser Konzeptualisierung kommt die Praxis der Nationalisierung von Sprachen zu einem ihrer Höhepunkte.
Die in diesem Kontext entwickelten Sprachwissenschaften verinnerlichen derartige Konzepte so intensiv, dass sie präsuppositionell erkenntnisleitend werden konnten. In dieser Weise werden sie ihrerseits in die Nationalisierungspraxis von Sprache zurückgespielt.
Die hauptsächlichen Mittel der Durchsetzung dieser Grundfigur waren und sind zwei: einerseits die in der inneren Konsolidierung gewonnene sprachliche Vereinheitlichung und Normierung und andererseits die Formierung in einem entwickelten Schulsystem, dem als wesentliche institutionelle Zweckbestimmung die Alphabetisierung der Gesamtbevölkerung in ihrer jeweils neuen Generation und deren elementare Einübung in die Nationalsprache als Ressourcen-Ensemble obliegt. In der Sprachdidaktik finden diese Aufgaben die zentrale Agentur der gesellschaftlichen Herstellung der nationalisierten Einsprachigkeit.
Die nationalsprachliche Fundierung von Nationalstaatlichkeit stößt mit der kommunikativen Realität in vielen dieser Nationalstaaten permanent als Binnen-Konflikt-Potential zusammen. In kaum einem der Staaten mit proklamierter nationalsprachlicher Monolingualität ist das nationalsprachliche Konstrukt tatsächlich gesellschaftlich und staatspolitisch vollständig umgesetzt worden. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eklatiert der Konfliktcharakter dieser Situation immer wieder – zuletzt etwa in den politischen, militärischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Balkanraums. Von einer Beruhigung der Situation kann bis heute kaum gesprochen werden. Von den Rändern, von den Grenzen her, erhält sich eine Unruhe, die sowohl innerstaatlich wie staatenübergreifend dauerhaft in der Gefahr steht, dass Latenz in politische Aktualität umschlägt.
Der Stellenwert, der den Bildungsstrukturen bei der Herstellung und Erhaltung nationaler sprachlicher Identität zukommt, wird angesichts der Drastik politischer Entwicklungen leicht übersehen. Dieser Stellenwert bedeutet aber gerade jene langwährende und die einzelne Generation übersteigende Kontinuität, die für die Leistungsfähigkeit des „Projekts Nation“ von grundlegender Bedeutung ist. Dies wird besonders deutlich, wenn es um die Gewinnung von Modellen geht, die Nationalität in einer sinnvollen Weise in Transnationalität und Postnationalität überführen können.
Für die europäischen Sprachensituationen wäre ein solches Vorhaben nicht zuletzt ein Friedens-Programm für einen Kontinent, dessen Geschichte durch Friedlosigkeit in einer geradezu exemplarischen Weise gekennzeichnet ist.
4. Europa als Sprachenraum
Die Bildungsprozesse, denen die Nationalsprachlichkeit ihre Wirksamkeit zentral verdankt, liegen jenseits einer unmittelbaren kommunikativen Naturwüchsigkeit. Gerade die mittlere Reichweite, die den Nationalsprachen gegenüber der Engräumigkeit der „Dialekte“ zukommt, ist individuell nicht durch unmittelbare Kommunikationserfahrungen jenseits derjenigen zu gewinnen, für deren Ermöglichung die Bildungsinstitutionen die zentrale Verantwortung tragen. Für ein Europa, wie es die Europäische Union anstrebt, sollte von daher die bildungspolitische Relevanz des Modells evident sein – ist es aber de facto nicht. Europa steht vor der eigenen Mehrsprachigkeit ratlos. Dies wird an den hilflosen Versuchen der Thematisierung von Mehrsprachigkeit innerhalb der EU-Programmatik unmittelbar deutlich. Die Sprachbildungsaufgaben als zentrale europäische Aufgaben sind innerhalb der Europäischen Union weitgehend ausgelagert in andere Institutionen, etwa den Europarat, der wiederum kaum über politische Handlungspotentiale verfügt. Über das Konstrukt der Subsidiarität werden gerade die Sprachbildungsaufgaben zurückgespielt an die nationalen Organisationsformen. In Teilen der Union haben sie tatsächlich auch organisatorisch nationale Formen entwickelt, so etwa in Frankreich. In anderen Bereichen, exemplarisch in Deutschland, werden die nationalen Bildungsaufgaben wiederum im politisch-organisatorischen Sinne „weiter nach unten“ „durchgereicht“: Die „Kulturhoheit der Länder“ weist diesen die zentrale Verantwortung zu, ohne dass dies bei den politischen Akteuren in einer relevanten Weise bewusst ist.
Dies führt nicht zuletzt zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Herausforderungen, die eine europäische Sprachbildung darstellt. Das, was an nationalen Identitätsbildungen faktisch tradiert und didaktisch wirkmächtig gemacht wird, verhindert eine Reflektion der grundlegenden Aufgaben, vor denen eine europäische Sprachbildung steht. Während der Markt zahlreiche praktikable grenzübersteigende Verkehrsformen entwickelt hat, bleibt das Sprachdenken in die mittleren Grenzen nationaler Konzeptualisierungen eingebunden. Damit gehen im Schatten der Reflektionsverweigerung zu den national-postnationalen Thematisierungen Bemühungen hin zu einer pränationalen Sprachlichkeit Hand in Hand, die jene rechtliche Verbindlichkeiten zu gewinnen trachten, die ihnen im Nationalisierungsprozess vorenthalten worden waren und sind.
Der Alpenraum nun ist als multipler Grenzraum in besonderer Weise für diese Problematik aufschlussreich. Dabei ist er sprachlich als Begegnungsraum für die drei großen europäischen Sprach-„Familien“ geradezu dazu prädestiniert, als Laboratorium für die Sprachenproblematik gesehen zu werden; er könnte sich andererseits auch als ein Raum anbieten, in dem transnationale und postnationale Konfigurationen hin zur Entwicklung anderer Grundfiguren als der nationalstaatlichen hin geöffnet und entwickelt werden könnten. In der Erstreckung im Westen berühren sich verschiedene Teile der Romania. Im mittleren Teil konzentriert sich die Kombination romanischer und germanischer Sprachlichkeit; im Osten sind romanische wie slawische Sprachen im permanenten Kontakt; zugleich berühren sich dort slawische und germanische Sprachlichkeit.
Die zerrissene politische Gestaltung dieses Alpenraums im 19. und 20. Jahrhundert, also in den Hoch-Zeiten der Realisierungsformen der Nationalstaatlichkeit und damit zugleich der Nationalisierungsentwicklungen der Sprachlichkeit, zeigt faktisch der Gesamtraum die Sprachenproblematik in einer konzentrierten und z.T. geradezu toxischen Form hinsichtlich der Auswirkungen, die die Inanspruchnahme von Sprache zur Erstellung von staatlichen Identitäten mit sich bringen kann.
5. Individuelle Sprachlichkeit
Die monolinguale Anthropologie tangiert nicht nur die Vergesellschaftungsformen, sondern sie tangiert vor allem und zuerst die individuelle Sprachlichkeit. Sprachlicher Reichtum erscheint in ihr als problematisch. Die monolinguale Didaktik grenzt solchen Reichtum ein und aus und benennt ihn als eine Defizienz, die es zum Verschwinden zu bringen gilt. Sekundär werden allenfalls für einen Teil der jeweiligen Generation eine oder mehrere Fremdsprachen, nämlich andere Nationalsprachen, dem attribuiert - dies das Programm seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in der Ablösung der „klassischen Sprachen“ Latein und Griechisch.
Tatsächlich aber lebt der einzelne Sprecher, die einzelne Sprecherin in einem Kommunikationsraum, der durch differenzierte Sprachlichkeit gekennzeichnet ist, und dies im Kontext einer wachsenden partiellen oder umfassenden Mobilität mit einer sich steigernden Intensität. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit ist so zu einem zentralen Lebens- und Erlebensdesiderat geworden, das weit über die Opposition „Dialekt“ – „Hochsprache“ hinausgeht.
Thomas Krefeld hat dafür unter Aufnahme von Überlegungen von Frémont (vgl. Frémont 1974, Frémont 1976) ein programmatisches Konzept entwickelt, den espace vécu, den spazio vissuto, den erlebten Raum, der individuell sich als sprachliche Lebenswelt realisiert. Es ist das Individuum „con una mobilità caratteristica“, das in einem solchen differenzierten Lebensraum sich aufhält. Migrantische Existenz wird so zu einem Prototyp für eine Existenzweise, die über die Grenzen der monolingualen Anthropologie hinausdrängt - bzw. hinausgedrängt wird (vgl. Ehlich 1991). Das differenzierte Konzept, das Krefeld 2002 vorstellt, benennt Dimensionen dieser individuellen sprachlichen Lebenswelt. Diese ist ihrerseits freilich nicht denkbar und nicht verstehbar ohne jene gesellschaftlichen Strukturen, zu denen die Sprache zentral gehört. Von den drei Dimensionen von Sprache (der teleologischen, der gnoseologischen und der kommunitären) ist es letztere, die im Horizont von Mehrsprachigkeit in besonderer Weise akut ist - für die individuellen sprachlichen Handelnden wie für die Gesellschaft insgesamt.
Welche Differenziertheit der linguistische Umgang mit der individuellen Sprachlichkeit erfordert, wie wenig insbesondere eine sozusagen naiv-oberflächliche Datengewinnung und -auswertung an die tatsächlichen sprachlichen Gegebenheiten heranzukommen in der Lage ist, zeigt exemplarisch Krefeld 2007. Das Zählen von Daten enthebt nicht von der hermeneutischen Aufgabe des kommunikativen Verstehens, sondern setzt deren Erfüllung voraus - eine Erfahrung, die gerade beim "data-mining" der Korpuslinguistik leicht übersehen wird.
Dass über der kommunitären Dimension die anderen beiden nicht aus dem Blick geraten dürfen, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber nicht immer (und häufig gerade auch nicht in der Linguistik) als theoretische wie analytische Aufgabe verstanden. Das Projekt VerbaAlpina beleuchtet, wenn ich es richtig verstehe, einen spezifischen dieser Aspekte exemplarisch im Horizont solcher mehrsprachigkeitssensibler Linguistik.
6. Zwei Pole
Individuelle Sprachlichkeit und Gruppensprachlichkeit sind die beiden Pole, zwischen denen sich Sprachlichkeit als ganze bewegt und entwickelt. Was individuell zur kommunikativen Realität werden soll, erfordert die Nutzung einer gesellschaftlich ausgearbeiteten Sprachlichkeit, soll das kommunikative Handeln nicht in einer „Privatsprache“ sich auflösen. Andererseits ist die gesellschaftliche Sprachlichkeit nicht ohne die Realität vielfältiger individueller Sprachlichkeit. Diese wiederum erfordert Ausgleichsbewegungen, um kommunikativ erfolgreich sein zu können. Die Breite des Varietätenraums legt davon Zeugnis ab für den Fall des kommunikativen Gelingens. Die Prozesse der Normierung und der Formierung stellen Verfahren dar, um im kommunikativen Großraum erfolgreiches Kommunizieren – oder doch wenigstens die Bedingungen seiner Möglichkeit - realisieren zu können.
Das Gelingen von Kommunikation ist freilich immer auch von seinem Gegenteil, dessen Misslingen, bedroht. Misslingen bereits die Vermittlungen der Partizipationsmöglichkeiten am Medium Sprache, so schlägt die gesellschaftliche Bestimmtheit von Sprachlichkeit in individuelle kommunikative Katastrophen um. Gerade „der Fremde“ ist davon immer bedroht – bis hin zum habitualisierten Schweigen.
7. Transnationale Sprachwissenschaft
Das monolingualisierte Sprachenkonzept wirkt sich nicht nur individuell kommunikationsverhindernd aus; es verstärkt nicht nur die Nutzung von Sprache als Mittel der Kennzeichnung von Nichtzugehörigkeit und der Errichtung kommunikativer Grenzen. Es bestimmt vielmehr nicht zuletzt das Sprachdenken der Disziplinen, die sich mit Sprache, ihren Strukturen und ihren Vermittlungen professionell in einer arbeitsteiligen Wissensgesellschaft befassen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer mehrheitlich noch immer präsenten nationalsprachlichen Fundierung des linguistischen Geschäftes selbst. Eingebunden in wiederum nationalstaatlich organisierten Wissenschaftsstrukturen, wird die Übersteigung der nationalstaatlichen Grenzen bildungsorganisatorisch ausgesprochen schwierig. Vor allem aber ist die Gewinnung von wissenschaftlich kommunikablen Sprachkonzeptionen und deren bildungsökonomische Fundierung in transnationalen wissenschaftlichen Organisationsformen jenseits sporadischer transnationaler Begegnungen in Wissenschaftskongressen und im Austausch des Publizierens, Lesens und wissenschaftlichen Streitens ein schwer zu bewerkstelligendes Unternehmen. Die Naturwissenschaften sind hier zum Teil deutlich weiter – dies allerdings um den Preis einer neuen wissenschaftlichen Einsprachigkeit, also in einer Transformation der neuzeitlichen wissenschaftssprachlichen Mehrsprachigkeit in ein neues monolinguales Konzept.
Zu den europäischen Aufgaben würde es gehören, demgegenüber exemplarisch die Ermöglichung multilingualer Sprachlichkeit für die wissenschaftliche Tätigkeit zu befördern, weiterzuentwickeln und alle dafür erforderlichen Infrastrukturen bereitzustellen. Kaum etwas ist dafür im europäischen sprachenpolitischen Raum absehbar.
Das von Thomas Krefeld wesentlich entwickelte und vorangetriebene Projekt VerbaAlpina bietet für einen Teilbereich der Linguistik eine exemplarische Bearbeitung. Es lässt so für einen Sprachenraum von großer Dichte erkennbar werden, welche Möglichkeiten transnationaler wissenschaftlicher Kooperation sich gerade auch durch die Möglichkeiten der Digitalisierung ergeben.
8. Die „Mühen der Gebirge“ als „Mühen der Ebene“
Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Situation für die sprachenpolitischen Konstellationen. Hier ist derselbe Sprachenraum durch ein historisch bedingtes Scheitern nicht nur im ausgehenden 19. und im desaströsen 20. Jahrhundert gekennzeichnet. Wie schwierig sich die Umsetzung einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit in individuelle Ressourcen und in erweiterte kommunikative Praxen gestaltet, zeigt ein Herzstück dieses Raumes der Sprachbegegnung mit hochgradig spezifischen Determinanten, das Beispiel Südtirol. Als politisches Gebilde eigener Art ist es entstanden als Schnittpunkt mehrerer der Nationalisierungsparameter zugleich. Inzwischen gegenüber der Situation der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts einigermaßen pazifiziert (jedenfalls werden derzeit keine Bomben mehr zur Explosion gebracht), ist alle Konfliktträchtigkeit doch nach wie vor nur von einer recht dünnen Decke staatsrechtlich-ökonomischer Art verhüllt und kann immer neu eklatieren (vgl. Risse 2013). Naglo kommt bei seinem Vergleich Luxemburgs, Südtirols und des Baskenlandes hinsichtlich der „Rollen von Sprache in Identitäsbildungsprozessen multilingualer Gesellschaften in Europa“ für Südtirol zu der Einschätzung: „Generell lässt sich festhalten, dass in Südtirol die Gefahr besteht, eine historische Chance zu verspielen: Zwar existieren alle Voraussetzungen und Strukturen für die Umsetzung einer ‚gelebten‘ Mehrsprachigkeit und oft auch der Wunsch nach gegenseitiger Öffnung, faktisch wird dies jedoch durch politische Verteilungskämpfe zwischen den Sprachgruppen häufig verhindert und über juristisch-politische Entscheidungen verfestigt“ (2007, 174).
Zu diesen neuen Strukturen gehören inzwischen mehrere Institutionen einer mehrsprachigkeitsoffenen Wissenschaft, deren wichtigste die „Europäische Akademie Bozen / Accademia Europea Bolzano“ (seit 1993, vgl. exemplarisch Abel/Stuflesser/Putz 2006) und die 1997 gegründete „Freie Universität Bozen“ mit ihrem bildungswissenschaftlichen Standort Brixen sind. Die zahlreichen Anstrengungen der beteiligten Bildungssysteme für die drei Sprachen und Sprachgruppen (Deutsch / Italienisch / Ladinisch) zeigen, wie groß die Mühen sind, die das adaptierte Zitat Brechts (“Wahrnehmung“, 1949; Brecht 1967, 960) für die „Ebenen“ vor Augen stellt, Mühen, die nicht zuletzt mit der Umsetzung eines gelebten Mehrsprachigkeitskonzepts bis in eine neue und andere, eine postnationale Sprachdidaktik zu tun haben – und wie retardierend die monolinguale Anthropologie sich auswirkt.
Die Mühen im Alpenraum als Ort einer exemplarischen Innovation des Sprachdenkens und der Sprach(en)wirklichkeit(en) machen die Größe der Aufgabe deutlich, vor der nicht zuletzt Europa steht. Es wird wohl entschiedenerer und beherzterer Einmischungen und Eingriffe auch der Sprachwissenschaft und ihrer Expertise bedürfen, um etwa zu einem Gesamtsprachencurriculum für die nächsten Generationen, die in diesem Europa leben, zu kommen (vgl. Ehlich 2005, Ehlich 2017). Der Arbeit von Thomas Krefeld und der seiner wissenschaftlichen italianistischen Schule wird dabei gerade auch deshalb ein großer Stellenwert zukommen, weil sie theoretisch wie empirisch auf dem Weg zu einer anderen als der überkommenen Sprachwissenschaft ist.
Bibliographie
- Abel/Stuflesser/Putz 2006 = Abel, Andrea / Stuflesser, Mathias / Putz, Magdalena (eds.) (2006): Mehrsprachigkeit in Europa / Plurilinguismo in Europa / Multilingualism across Europe, Bozen/Bolzano, EURAC.
- Brecht 1967 = Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke, Band 10. Gedichte 3, Frankfurt am Main, Suhrkamp.
- Ehlich 1991 = Ehlich, Konrad (1991): Linguistic „integration“ and „identity“ – the situation of migrant workers in the E.C. as a challenge and opportunity, in: Florian Coulmas (ed.), A Language Policy for the E.C., Berlin et al., de Gruyter, 195-213, Contributions to the Sociology of Language 61.
- Ehlich 2005 = Ehlich, Konrad (2005): Sprachenvielfalt – Grenzenvielfalt?, in: Holger Huget / Chryssoula Kambas / Wolfgang Klein (eds.), Grenzüberschreitungen. Differenz und Identität im Europa der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 105-133, [Forschungen zur Europäischen Integration 12].
- Ehlich 2017 = Ehlich, Konrad (2017): Ein Gesamtsprachencurriculum für die deutsche Schule des frühen 21. Jahrhunderts: Erforderliche Ziele, absehbare Risiken, in: Michael Becker-Mrotzek / Hans-Joachim Roth (eds.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder, Münster/New York, Waxmann, 249-271, [Sprachliche Bildung 1].
- Frémont 1974 = Frémont, Armand (1974): Recherches sur l’espace vécu, vol. L'Espace Géographique, 3, 231-238.
- Frémont 1976 = Frémont, Armand (1976): La région: espace vécu, Paris, Flammarion.
- Krefeld 2002 = Krefeld, Thomas (2002): Per una linguistica dello spazio vissuto, in: Krefeld, Thomas (Hrsg.), Spazio vissuto e dinamica linguistica. Varietà meridionali in Italia e in situazione di extraterritorialità 15, Frankfurt am Main [u.a.], Lang, 11-24.
- Krefeld 2007 = Krefeld, Thomas (2007): Sprachwissenschaftler, Sprecher und die schwere Entbindung der Sprache von der Situation, in: Angelika Redder (ed.), Texte und Diskurse, Tübingen, Stauffenburg, 81-86.
- Naglo 2007 = Naglo, Kristian (2007): Rollen von Sprache in Identitätsbildungsprozessen multilingualer Gesellschaften in Europa. Eine vergleichende Betrachtung Luxemburgs, Südtirols und des Baskenlandes, Frankfurt am Main et al., Peter Lang, [Arbeiten zur Sprachanalyse 50].
- Risse 2013 = Risse, Stephanie (2013): Sieg und Frieden. Zum sprachlichen und politischen Handeln in Südtirol/Sudtirolo/Alto Adige, München, iudicium, [Studien deutsch 41].