Berge – Schafe – Käse in einem multilingualen Umfeld. Betrachtungen zum Sprachatlas der Karpaten.

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Schlagwörter: Karpaten , Sprachatlas

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  1. Referenz auf den gesamten Beitrag:
    Wolfgang Dahmen (2021): Berge – Schafe – Käse in einem multilingualen Umfeld. Betrachtungen zum Sprachatlas der Karpaten., Version 1 (31.05.2021, 16:33). In: Stephan Lücke & Noemi Piredda & Sebastian Postlep & Elissa Pustka (Hrsgg.) (2021): Linguistik grenzenlos: Berge, Meer, Käse und Salamander 2.0 – Linguistica senza confini: montagna, mare, formaggio e salamandra 2.0 (Korpus im Text 14), Version 1, url: http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=75190&v=1
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1. Vorbemerkungen

Die montane Hirtenkultur hat auf Romanisten bereits in früher Zeit eine ganz besondere Faszination ausgeübt, erinnert sei nur an die berühmte Forderung, die Heinrich Lausberg (1969, 13) im ersten Band seines Handbuches zur Romanischen Sprachwissenschaft aufstellt: „jeder Romanist sollte einen Teil seiner Zeit regelmäßig bei Hirten in den Abruzzen, in Sardinien, in den Pyrenäen, in Rumänien verbringen.“ Dieses Interesse ist sicherlich vor allem dadurch zu erklären, dass die Pastoralwirtschaft ein ganz typischer Zweig der „primitiven Volkskultur“ ist, wie Lausberg dies an der zitierten Stelle nennt. Damit lässt sich zudem erklären, warum dieser Bereich schon frühzeitig in den einschlägigen Sprachatlanten der Romania eine gewichtige Rolle gespielt hat, was in besonders starkem Maße zu konstatieren ist, seitdem – beginnend mit dem AIS – neben den rein sprachwissenschaftlichen auch die damit verbundenen ethnographischen Elemente in diesen Werken berücksichtigt wurden.

Dabei muss man bedenken, dass in vielen Teilen der Romania, insbesondere in den Pyrenäen, in den Abruzzen, in den Karpaten und in den Berglandschaften des Balkanraums, also gerade in den von Lausberg genannten Regionen, lange Zeit verschiedene Formen der Fernweidewirtschaft stattgefunden haben: Hirten waren nicht sesshaft, sondern wanderten mit ihren Herden umher, sei es in Form von Nomadismus, sei es in Form von Transhumanz oder sei es in Form von mediterraner Almwirtschaft (terminologische Unterscheidung nach Kahl 2007, 102-107). Entsprechende Wanderungen fanden dabei insbesondere zwischen Winterweidegebieten in den Ebenen und Sommerweidegebieten in den Berglandschaften statt. Natürlich sind Hirten auf solchen Wanderungen in erheblich stärkerem Maße mit anderen und unterschiedlichen Sprachformen in Berührung gekommen als die „normale“ sesshafte Bevölkerung. Auch dies mag das Interesse der Sprachwissenschaftler an dem entsprechenden semantischen Feld sowie an sprachlichen Eigenheiten von Hirten erklären. Dabei kann man dann noch einmal unterscheiden, ob diese Wanderbewegungen in einem Gebiet mit lediglich dialektaler Varietät stattfinden oder stattgefunden haben oder aber in einem Gebiet, in dem von einer wirklichen Multilingualität auszugehen ist. Letzteres ist aus romanistischer Sicht natürlich vor allem in den Randgebieten der Romania gegeben, wo romanische Sprachen an nicht-romanische Idiome angrenzen.

Das Phänomen des Transportes von Sprachgut in einer vielsprachigen Umgebung durch umherziehende Hirten ist besonders verbreitet im südosteuropäischen Raum. Nicht zuletzt ist hier die bekannte Existenz eines Balkansprachbundes, d.h. über das Lexikon hinausgehende Parallelen im Bereich der Morphosyntax, aber auch der Phonetik und Phonologie zwischen nicht oder nur sehr entfernt miteinander verwandten Sprachen, zu erwähnen. Beispielhaft genannt seien etwa Erscheinungen wie der postponierte bestimmte Artikel, der eingeschränkte Gebrauch des Infinitivs oder die Reduplikation des Objekts, um nur die bekanntesten Gemeinsamkeiten vor allem von Rumänisch, Bulgarisch und Albanisch anzuführen, denen sich andere Sprachen wie Griechisch, Serbisch, Türkisch in unterschiedlichem Ausmaß anschließen. Zwar können diese Übereinstimmungen nicht ausschließlich als Resultat solcher Wanderbewegungen erklärt werden, aber ein nicht unbedeutender Faktor sind diese sicherlich gewesen.

Dass gerade im Bereich des Wortschatzes und ganz besonders im Gebiet der Terminologie der durch die Hirten gewonnenen Milch- und Käseprodukte solche gegenseitigen Beeinflussungen zu finden sind, liegt auf der Hand, selbst wenn man Kahl zustimmt, der für die Hirten im albanisch-griechisch-nordmazedonischen Grenzgebiet postuliert, dass die „einfachen“ Wanderhirten einsprachig waren und die Mehrsprachigkeit auf „Führungspersönlichkeiten“ beschränkt war: „Hingegen muss man sich die Wanderhirten als weitgehend einsprachige Gesellschaften vorstellen, innerhalb derer einzelne Schlüsselpersonen für Außenkontakte zuständig waren und entsprechende Sprachkenntnisse besaßen“ (Kahl 2007, 22-23). Die einschlägige Fachterminologie hat sicherlich auch auf diese Weise Elemente aus anderen Idiomen übernehmen können. Mit Recht verweist etwa Gottfried Schramm (1997, 306-335) in seinen „Thesen zur Lokalisierung der lateinischen Kontinuität in Südosteuropa“ auf die Bedeutung der romanischen Hirten für die Herausbildung der heutigen Sprachverteilung auf dem Balkan und spricht von einer „schafzüchterischen Fluchtromania“ und betont die Eigenart der frühen Rumänen ab etwa dem Jahre 1000: „Überall treten die Wlachen als kleine, wenig ortsgebundene Gruppen in das Licht der Geschichte. Ihre Spezialität ist die Schafhaltung im Gebirge, aus der verwandte Beschäftigungen hervorgegangen sind“ (Schramm 1997, 328). Auch die Analyse der von I. I. Russu (1970, 131-216) gesammelten etwa 70 rumänischen Substratwörter, die Parallelen im Albanischen haben, belegt die frühen Sprachkontakte gerade durch Hirten, denn rund ein Drittel der Wörter entstammt dem semantischen Bereich der Schaf- und Ziegenwirtschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass es verschiedene Arbeiten gibt, die sich mit der Pastoralterminologie des Rumänischen an sich und obendrein mit Blick auf die benachbarten Sprachen beschäftigen. Exemplarisch genannt seien neben dem schon erwähnten Werk von Kahl (2007) aus länger zurückliegender Zeit noch Arbeiten des Bukarester Sprachwissenschaftlers Ovid Densusianu, der mehrfach auf die Bedeutung gerade dieses semantischen Bereiches für die rumänische Sprache hingewiesen hat. In einer seiner frühen Arbeiten (Densusianu 1913; dazu Cancel 1913) will er gemeinsame phonetische Züge des Rumänischen und piemontesischer und bearnesischer Mundarten durch den Einfluss von Wanderhirten erklären, und in einem seiner umfangreichsten Werke (Densusianu 1922 - 1923) analysiert er, in welcher Weise sich das Hirtenwesen als ein ganz typischer Zug der rumänischen Volkskultur in der rumänischen Volksdichtung reflektiert. Ferner gibt es Mitschriften von Vorlesungen, die Densusianu zu diesem Thema an der Bukarester Universität gehalten hat (Densusianu 1933/1934; Densusianu 1934/1935). Genannt werden müssen in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeiten zweier russischer Sprachwissenschaftlerinnen: zum einen eine Analyse der slavischen Pastoralterminologie in den Karpaten von Galina P. Klepikova (Клепикова 1974), die auch an dem im Folgenden erwähnten Sprachatlas der Karpaten (ADC) mitgearbeitet hat, zum anderen ein albanisch-ostromanisches Lexikon der Viehzucht von Mariana V. Domosileckaja (Домосилецкая 2002).

Geht man also davon aus, dass gerade Hirten in besonderer Weise mobil sind, gewinnen solche Sprachatlanten ein besonderes Interesse, die einen mehrsprachigen Raum berücksichtigen, in dem die Pastoralwirtschaft eine bedeutende Rolle spielt. Dabei muss man freilich stets eine Besonderheit bzw. mögliche Gefahr im Auge behalten: Das Ziel, das gerade die ersten Forscher hatten, die sprachgeographische Untersuchungen begonnen haben, nämlich Sprach- und/oder Dialektgrenzen durch die Erstellung von Sprachatlanten deutlich herausarbeiten zu können, ist hier besonders schwer zu erreichen. Im Extremfall stößt man im Sommer auf Informanten, die man im darauf folgenden Winter an einem viele Kilometer entfernten Ort wiedertrifft. Dies ist eine Eigenheit gerade des südosteuropäischen Raumes, der damit ganz andere Herausforderungen an Dialektologen stellt als etwa Frankreich, wo Edmond Edmont bei den Enquêten für den ALF nach Möglichkeit Personen befragte, die ihr Heimatdorf zeitlebens nicht verlassen hatten. Die traditionell hohe Mobilität gerade der vom Hirtenwesen lebenden Bevölkerungsschichten erklärt auch, warum für das rumänische Sprachgebiet eine diatopische Gliederung weitaus komplexer und schwieriger ist als für andere Bereiche der europäischen Romania. Akzeptiert und berücksichtigt man aber diese Einschränkungen, bleiben die Sprachatlanten als Materialsammlung selbstverständlich eine unersetzliche Quelle.

Für den südosteuropäischen Raum sind vor allem zwei Sprachatlasunternehmen zu nennen, in denen eine über die einzelsprachlichen Grenzen hinausgehende Darstellung zu finden ist. Dies ist zum einen das ursprünglich von der DFG sowie dem russischen geisteswissenschaftlichen Fonds geförderte Projekt von Helmut Schaller und Andrej N. Sobolev des Kleinen Balkansprachatlas (МДАБЯ; Schaller 2001), das aber mit der Auflösung der Slavistik in Marburg nach der Pensionierung von Helmut Schaller ins Stocken gekommen ist. Bei diesem Projekt ist aus romanistischer Sicht ohnehin anzumerken, dass von den lediglich zwölf Aufnahmepunkten keiner in Rumänien liegt (was dem rumänischen Verständnis von „Balkan“ sicherlich entspricht). Nur ein aromunischer Punkt (Κρανιά/Turia) im Pindusgebirge ist berücksichtigt, wo die Sprachaufnahmen immerhin u.a. von Maria Bara und Thede Kahl, also zwei ausgewiesenen Fachleuten auf dem Gebiet der Erforschung des Aromunischen, durchgeführt wurden. Zum anderen ist der Sprachatlas der Karpaten (ADC) zu nennen, auf den im Folgenden ein kurzer Blick geworfen werden soll. Beide Atlanten sind in der romanistischen Fachwelt sicherlich vor allem wegen des nicht ganz leichten sprachlichen Zugangs – in beiden Atlanten dominiert das Russische als Metasprache, im ADC sind zumindest die Vorworte in der Regel auch auf Französisch – bislang wenig berücksichtigt worden. Immerhin wird mit dem ADC aber ein Gebiet aufgenommen, das von der Pastoralkultur in ganz besonderer Weise geprägt ist.

2. Der Sprachatlas der Karpaten (ADC)

Das Projekt des Karpatensprachatlas ist auf den ersten Blick ein faszinierendes Unterfangen. Bei genauerer Betrachtung muss man aber sicherlich vor allem aus romanistischer Sicht gewisse Einschränkungen machen. Dies beginnt schon bei der Planung des Projekts. Es handelt sich ganz eindeutig um ein Unterfangen, bei dem bestimmte politische Rahmenbedingungen Einfluss genommen haben. Die Initiative zu diesem Unternehmen kam aus der Sowjetunion, der spiritus rector war im Wesentlichen Samuil Borisovič Bernštejn, seinerzeit Vorstand im Institut für Slavistik und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, der in den Bänden unter den etwa 20 namentlich genannten Redakteuren mit dem Zusatz председатель ‚Vorsitzender‘ bzw. in der französischen Fassung als „Président de la Rédaction“ bezeichnet wird. Konkret wurden erste Konzeptionen 1973 zunächst in Moskau und dann in Warschau vorgestellt (Einzelheiten sind leicht zu finden bei Бернштейн 1981 und Siatkowski 1991; diesen Quellen sind auch einige der folgenden Angaben entnommen). Bernštejn hat allerdings, ebenso wie einige andere Redakteure, den Abschluss des Projekts mit dem Erscheinen des siebten und letzten Bandes im Jahre 2003 nicht mehr erlebt.

Die Federführung lag also in den Händen eines sowjetischen Wissenschaftlers, die weiteren beteiligten Personen waren zum Zeitpunkt, als das Projekt startete, Dialektologen aus anderen Sowjetrepubliken sowie aus Bulgarien, Jugoslavien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, die in der Regel Mitglieder der jeweiligen nationalen Wissenschaftsakademien und/oder Professoren an entsprechenden Universitäten waren (Liste bei Бернштейн 1981, 1-2). Deutlich ist, dass es sich um ausgewiesene Spezialisten handelte, genannt sei etwa Rubin Udler, der Verantwortliche für den wenige Jahre zuvor erschienenen moldauischen Sprachatlas. So bekommt man den Eindruck, dass es sich um ein Projekt handelte, das von höchster Stelle gefördert wurde, politisch angehauchten Prestigecharakter hatte und der Vorstellung eines internationalen Gemeinschaftswerks – natürlich unter Führung durch Moskau – entsprach. In dieses Bild passt, dass die Koordination der einzelnen Bände jeweils Institutionen der beteiligten Länder übertragen wurden, so dass die sieben Bände auch an sieben verschiedenen Orten erschienen sind: 1: Chişinău, 2: Moskau, 3: Warschau, 4: L’viv, 5: Bratislava, 6: Budapest, 7: Belgrad – Novi Sad.

Somit waren alle sozialistischen Länder Europas der damaligen Zeit einschließlich Jugoslaviens mit ihren Akademien vertreten, lediglich Albanien, Rumänien und die DDR fehlten. Während man die DDR natürlich beim besten Willen nicht zum Gebiet der Karpaten rechnen konnte, war Albanien, das zu dieser Zeit unter Enver Hoxha seinen eigenen ideologischen Weg zu gehen versuchte, aus politischen Gründen nicht dabei. Politische Veränderungen und sprachpolitische Differenzen haben in der Folge mehrfach zu Korrekturen des Projekts geführt: Bulgarien, das anfangs mit seiner Akademie der Wissenschaften vertreten war, zog sich 1982 zurück, da es Differenzen um den Status des Mazedonischen gab, so dass die in Bulgarien vorgesehenen 15 Aufnahmepunkte, die auf den Entwürfen zu den ersten Karten bereits berücksichtigt waren, entfielen (Siatkowski 1991, 259). Besonders gravierend waren natürlich die 1989/90 in Ost- und Südosteuropa einsetzenden politischen Umbrüche, die u.a. zum Zusammenbruch der UdSSR, der Zerteilung Jugoslaviens und zur Trennung der Tschechoslowakei führten. Die Auswirkungen auf das Unternehmen des Karpatensprachatlas waren aber nicht so dramatisch, wie man das zunächst vermuten würde. Hier macht sich positiv bemerkbar, dass von Anfang an viele Institutionen beteiligt waren, die sich dann zwar auf einmal in einer neuen Rolle wiederfanden, damit aber offenbar weniger Probleme hatten als man befürchten musste. In der UdSSR waren von Anfang an neben der Akademie in Moskau die regionalen Akademien der Ukraine und der Moldau sowie die Universität Užgorod beteiligt, in Jugoslavien neben den Akademien in Belgrad und Zagreb auch die mazedonische in Skopje, die bosnisch-hercegovinische in Sarajevo, die montenegrinische in Titograd (heute Podgorica) und die kosovarische in Priština, und in der Tschechoslowakei neben der Prager Akademie die slowakische in Bratislava. Dass die Ereignisse der 1990er Jahre aber natürlich insgesamt nicht gerade förderlich für die Erstellung des Sprachatlas waren, liegt auf der Hand, man lese dazu nur einmal genau die Einleitung zum siebten und letzten Band des ADC, der im Jahre 2003 in Belgrad und Novi Sad publiziert wurde, wo u.a. „difficultés de communication“ (ADC 7: 10) beklagt werden. Dazu gehören Differenzen bei der Transkription und eine erhebliche Verzögerung bei der Fertigstellung des Projekts – Siatkowski (1991, 260) war noch davon ausgegangen, dass der letzte Band im Jahre 1992 in Druck gehen könnte, dies hat dann aber noch einmal mehr als zehn Jahre gedauert.

Daneben sind auch kleine sprachpolitische Veränderungen zu konstatieren, deutlich sichtbar beispielsweise an der Einstellung zum so genannten „Moldauischen“: Im ersten Atlasband, der 1989 in Chişinău erschien, das damals noch die Hauptstadt der „Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ war, geht man natürlich von der Zweisprachentheorie aus, nach der Rumänisch und Moldauisch zwei unterschiedliche ostromanische Sprachen seien. Das Vorwort des verantwortlichen Redakteurs (ADC 1: 9) ist demzufolge „moldauisch“, also rumänisch in kyrillischen Buchstaben: „Дин партя редакторулуй респонсабил ал волумулуй ынтый ал АДКК“. In den ersten Bänden erfolgen die Eintragungen des entsprechenden Wortes im Kartentitel demzufolge in Kyrilliza, so z.B. taucht das rumänische brînză ‚Käse‘ als moldauisch брынзэ (ADC 3: 22) auf. Nachdem sich die Moldau zur unabhängigen Republik erklärt und man sich – bei manchen Streitigkeiten über die Bezeichnung der Staatssprache (Rumänisch oder Moldauisch) – zumindest auf die Verwendung des lateinischen Alphabets geeinigt hat, geht man in den letzten Bänden dazu über, die entsprechenden Wörter lateinisch zu schreiben, allerdings gibt es auch hier noch Unterschiede. Im sechsten und vorletzten Band ist bei der Auflistung der Sprachen (ADC 6: 20) von „Moldauisch“ gar nicht mehr die Rede, sondern nur von „Rumänisch“, entsprechend werden die Formen in lateinischem Alphabet gegeben (z.B. măgar ‚Esel‘; ADC 6: 21). Im siebten und letzten Band hingegen verwendet man zwar das lateinische Alphabet (z.B.  păcurar ‚Hirte‘, ADC 7: 17), gibt aber als Sprachbezeichnung „moldauisch“ an und erwähnt Rumänisch in der Sprachenauflistung (ADC 7: 16) überhaupt nicht. So können länger dauernde sprachwissenschaftliche Projekte auch indirekt zu Zeugnissen sich wandelnder sprachpolitischer Einschätzungen werden!

Auf den ersten Blick wirkt es natürlich erstaunlich, dass Rumänien an diesem Projekt nicht beteiligt ist, denkt man doch – nicht nur als Romanist – wenn von den Karpaten die Rede ist, sicherlich zuallererst an Rumänien, auf dessen Territorium ja der größte Teil dieses Gebirges liegt. Auch dafür sind natürlich politische Gründe ausfindig zu machen: Gerade in den 1970er Jahren, als das Projekt startete, versuchte die politische Führung unter Nicolae Ceauşescu bekanntlich, einen eigenen Weg zu gehen. Dabei setzte man sich gerne in bewussten Widerspruch zum Führungsanspruch der UdSSR. Hinzu kommt, dass in der Sowjetunion zu dieser Zeit das Dogma galt, dass das Moldauische eine eigene romanische Sprache sei – die Verwendung von Kyrilliza zur Wiedergabe rumänischer Sprachformen war zu dieser Zeit in Rumänien sicherlich überhaupt nicht erwünscht. Die für den ADC Verantwortlichen haben sich damit beholfen, dass sie entsprechende Angaben aus den damals bereits vorliegenden Sprachatlanten des dakorumänischen Sprachgebietes genommen und eingefügt haben. So sind für einen großen Teil der Aufnahmepunkte (auf dem Gebiet Rumäniens liegen immerhin 59 der insgesamt 210 Punkte) keine eigenen Sprachaufnahmen für den ADC gemacht worden, sondern Daten vor allem aus dem ALR, s.n. extrahiert worden. Dies ist natürlich nicht unproblematisch, denn abgesehen von der chronologischen Differenz zu den Aufnahmen in den anderen Ländern ist zu berücksichtigen, dass es Unterschiede bei der Transkription gibt und dass zudem nicht immer deckungsgleiche Fragen dargestellt wurden. Nicht selten gibt es in den rumänischen Sprachatlanten keine entsprechenden Fragen, so dass dann der größte Teil der Karpaten überhaupt nicht dargestellt ist. Umgekehrt gibt es aber auch vereinzelt Karten, auf denen die Aufnahmepunkte in Rumänien bestens vertreten sind, während für die Punkte in den anderen Ländern nur zu einem geringeren Teil Angaben zu finden sind, weil man hier offensichtlich die entsprechenden Fragen nicht gestellt hat (z.B. ADC 3, K. 28: „Lait bouilli ou chauffé, caillé par utilisation de présure“). So bleibt an diesem Punkt ein zwiespältiges Gefühl: Einerseits ist es natürlich misslich, dass es solche Unterschiede bei der Gewinnung und Wiedergabe des Materials gibt, andererseits muss man anerkennen, dass die Verantwortlichen des ADC aus der für sie misslichen Situation sicherlich noch das Beste gemacht haben, zumal durch die Aufteilung auf unterschiedliche nationale Komitees ohnehin eine gewisse Heterogenität zu erwarten war.

Dabei sind die phonetischen Probleme sicherlich als sekundär zu betrachten, da das Hauptaugenmerk des Sprachatlas auf dem Bereich des Lexikons liegt. Eindeutig war es die Intention der Verantwortlichen, über die Einzelsprachen hinaus gehende Gemeinsamkeiten im Wortschatz, also „Karpatismen“, zu finden: „les auteurs de l’Atlas considèrent opportun de se borner seulement à la sphère lexico-sémantique dans laquelle se reflètent non seulement les influences mutuelles linguistiques, mais aussi historiques et culturelles“ (ADC tome introductif, 5). Dabei gibt es neben den traditionellen onomasiologischen Karten, die nach der Bezeichnung für etwas fragen, auch semasiologisch ausgerichtete, die sich vor allem im ersten Band finden: Hier wird nach der Bedeutung gefragt, die man jeweils einem weit verbreiteten Lexem gibt.

Ein markantes Beispiel hierfür ist ADC 1, K. 31, das die unterschiedlichen Bedeutungen von strungă ‚Melkpferch‘ wiedergibt und zeigt, wie weit sich dieses Lexem offensichtlich durch umherziehende Hirten verbreitet hat. Es handelt sich um eines der Wörter, die in der etymologischen Forschung des rumänischen Lexikons am umstrittensten sind, da es sehr wahrscheinlich vorlateinischen Ursprungs ist und sich auf einen der als für die nationale Volkskultur typisch erachteten Bereich bezieht. Für Russu (1970, 200), der die vorgeschlagenen etymologischen Deutungen ausführlich diskutiert, ist es eines der rund 70 Substratwörter, die das Rumänische mit dem Albanischen gemeinsam hat: „Aspectul obscur, ‚enigmatic‘ al acestui modest, dar important element al economiei pastorale a provocat multe opinii şi teorii asupra limbii de obîrşie şi a etimologiei cuvîntului“. Die semantisch ausgerichtete Karte belegt die weite Verbreitung dieses Lexems, das nicht nur in den Karpaten selbst zu finden ist, sondern überdies in den Randgebieten bis in die Slowakei und nach Tschechien sowie in der ungarischen Tiefebene und in Montenegro, und selbstverständlich würde man es auch in Albanien finden, wenn der Sprachatlas dieses Gebiet berücksichtigt hätte. Andererseits werden zudem die verschiedenen Bedeutungen dokumentiert, die strungă hat und die bei der etymologischen Diskussion immer eine große Rolle gespielt haben: Neben dem Durchgang, durch den die Schafe zum Melken getrieben werden, kann sich das Wort auf einzelne Teile desselben (Dach, Umzäunung) oder auf denjenigen, der die Schafe treibt (Mensch oder Hund), den Prozess des Melkens als solchen wie auch im übertragenen Sinne auf Lücken (etwa bei Zähnen) beziehen.

Viele andere Karten, die sich auf die Pastoralkultur oder auf Bergformationen beziehen und die in Rumänien – wie anfangs darzulegen versucht wurde – gerne als ganz typisch für die eigene Volkskultur betrachtet werden, zeigen ein ähnliches Bild mit einer fast die gesamte Fläche umfassenden Verbreitung. Dies trifft etwa zu für vatră ‚Feuerherd‘ (ADC 1: K. 55 – 59): Auch dieses Wort ist bis nach Montenegro und in die Slowakei verbreitet, zeigt eine Fülle von Bedeutungen wie ‚Feuer‘, ‚glühende Kohle‘ bis hin zu ‚Dorf(zentrum)‘ und gilt ebenfalls als eines der Substratwörter, die das Rumänische mit dem Albanischen gemeinsam hat und das vom Rumänischen ausgehend in die benachbarten Idiome gewandert ist. Russu (1970, 210-211) wendet sich zwar ausdrücklich gegen die Etikettierung von vatră als „Hirtenwort“, da es sich ja gerade um etwas handele, das eine Form der Stabilität bezeichne, doch wenn man als ursprüngliche Bedeutung ‚Feuerstelle‘ annimmt, ist der Ausgangspunkt sehr wohl im Hirtenwesen zu sehen, und das Wort stellt dann einen schlagkräftigen Beleg für den Wandel einer ursprünglich nicht oder nur wenig sesshaften Bevölkerung zu einer mit festen Wohnsitzen dar, mit der ein Bedeutungswandel des Wortes von ‚Feuerstelle‘ über ‚Herd‘, ‚Stelle im Haus, wo es warm ist und wo man beisammen ist‘ bis zu ‚Dorf‘ einhergeht. Wie stark in Rumänien das Gefühl ist, es gerade bei diesem Wort mit etwas zu tun zu haben, das etwas für die eigene traditionelle Volkskultur ganz Typisches bezeichnet, zeigen neben mehreren Toponymen wie Vatra Dornei, Vatra Moldoviţei entsprechende Namensgebungen, die von Hotels und Gaststätten über Musikbands bis zu Produkten wie Rucksäcken usw. gehen. Vergessen sei auch nicht, dass am Ende des 19. Jahrhunderts einige der damals bekanntesten Literaten wie Ion Luca Caragiale, George Coşbuc und Ioan Slavici eine literarische Zeitschrift mit dem Titel Vatra herausgaben. Als weiteres Beispiel dieser Art genannt sei etwa coş (ADC 1: K. 54), das über die Grundbedeutung ‚Korb‘ hinaus verschiedene Formen von Fuhren sowie Hirtenhütten bezeichnen kann und das ebenfalls im gesamten Aufnahmegebiet des ADC verbreitet ist.        

3. Fazit

Es konnte natürlich nicht das Ziel dieses kurzen Beitrags sein, eine umfassende Interpretation der Daten zu geben, die der Karpatensprachatlas liefert. Bei allen Einschränkungen, die vor allem hinsichtlich der Gewinnung des Materials gemacht werden können, bleibt doch festzuhalten, dass er deutlich macht, wie eng verflochten Idiome sein können, die ganz unterschiedlichen Sprachfamilien angehören. Die Karpaten erweisen sich in der Regel nicht als scharfe Sprachgrenze. Das kann anders aussehen, wenn man genauere phonetische Untersuchungen anstellt, aber zumindest in lexikalischer Hinsicht gilt dies nicht. Vergleicht man die Karpaten mit den Alpen, sind somit durchaus Unterschiede sichtbar. Dies hat sicherlich mit der geringeren Höhe zu tun, aber gewiss auch mit der – natürlich von der Höhe der Berge abhängigen – Form der Hirten- und Viehwirtschaft. Während in den Alpen schon seit langem die jahreszeitlich abhängige Bestoßung von Almen aus den jeweiligen Tälern üblich war, war in den Karpaten über lange Zeit hinweg eine viel umfangreichere Mobilität normal. Dass diese – sicherlich gerade in den Wintermonaten – sehr weit aus den Bergen in die Ebenen geführt hat, ist eine der Erkenntnisse, die der Sprachatlas der Karpaten vermittelt. Insofern ist es zu begrüßen, dass man ein auf den ersten Blick so überraschend großes Aufnahmegebiet, das bis nach Tschechien und an die Adria reicht, gewählt hat. Für die Annahme, dass sich in vielen Karten des ADC sehr frühe Formen von Hirtenwanderungen widerspiegeln, spricht zudem, dass es häufig Wörter sind, die vermutlich dem autochthonen Wortschatz angehören. Ob es dann immer rumänischsprachige Gruppen waren, die dieses Wortgut weiter verbreitet haben, ist wahrscheinlich, doch nicht immer sicher und letztlich ohne tiefergehende Bedeutung. Sicher ist, dass es Karpatismen gibt, die sich natürlich vor allem in der Terminologie des Hirtenwesens und der damit verbundenen Bereiche der Milch- und Käseprodukte sowie auch der Bezeichnungen des Reliefs zeigen. Wenn dieser kurze Beitrag dazu anregen könnte, dass die vielen Angaben, die der ADC gerade in diesen Bereichen bietet, von romanistischer Seite einmal intensiver untersucht würden, wäre eines seiner Anliegen erfüllt. Immerhin beziehen sich mehr als 150 Fragen (Fragen 560 – 718) alleine auf das Hirtenwesen, hinzu kommen Fragen zu Käse, Milch und ähnlichen semantischen Feldern. In einem weiteren Schritt wäre dann zu klären, ob die karpatischen Gemeinsamkeiten sich auf den hier skizzierten Bereich beschränken, wie z.B. Fellerer (1998, 187) vermutet: „Im allgemeinen aber ist der gemeinsame rumänischstämmige Wortschatz aller slavischen Karpatendialekte an das enge Lexikon der Schafzucht gebunden.“ Wenn es nämlich etwa in der Forstwirtschaft, die man sicher als eine chronologisch spätere Wirtschaftsform als die Pastoralwirtschaft ansehen muss und die im ADC ebenfalls, wenn auch mit weniger Fragen, vertreten ist, eine deutlich geringere Zahl an Übereinstimmungen gibt, wäre dies ein weiterer Beweis für die sprachvermittelnde Rolle früher rumänischer Hirten auf der Balkanhalbinsel bis in den ostmitteleuropäischen und den adriatischen Raum.

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