1. Einleitung
Jede*r Tourist*in oder Migrant*in aus dem „bundesdeutsch“ (wie man in Österreich sagt) sprechenden Ausland bemerkt beim Spazieren durch Wien schnell: Französische Einflüsse sind hier omnipräsent – allerdings nicht dieselben wie in Deutschland und auch nicht unbedingt diejenigen, die laut Wörterbüchern und wissenschaftlicher Literatur, Zeitungen, Blogs und Belletristik zu erwarten wären (vgl. insbesondere das Österreichische Wörterbuch auf https://www.oesterreichisch.net).1 Trottoir [tʁo̞toˈaː]2 ‘Gehsteig’, Lavoir ‘Waschschüssel’ (auch <Lavur> oder <Lavor> geschrieben) und Fauteuil (sprich [foˈtøː]/[foˈtøə]) ‘Ohrensessel’ – Sessel wiederum bedeutet ‘Stuhl’ – scheinen mittlerweile passé zu sein. Dafür spricht auch, dass die 1964 geborene österreichische Schriftstellerin Hanna Midhov diese Wörter in ihrem Roman Bilder einer Kindheit. Alltag mit Oma thematisiert:
Wir gingen am ‘Trotoaar’ (Troittoir3), dem Gehsteig, den Bus lenkte der ‘Schofföör’ (Chauffeur), (…), wir saßen gemütlich im ‘Fottöö’ (Fauteuil), etwas auf der anderen Straßenseite war ‘wisawie’ (vis-à-vis) (…) die Toten wurden vom ‘Pompfineberer’ (Pompe funèbre) bestattet und im Garten wuschen wir uns in einer blechernen Waschschüssel, der ‘Lawua’ (Lavoir).(Midhov 2019, 43‒44)
Heute dagegen springt die Melange, die dem Cappuccino sehr ähnelt (bzw. dem französischen Touristengetränk café crème), schon anlässlich des ersten Kaffeehausbesuchs beim Lesen der Speisekarte ins Auge. Wichtig: Es ist die Melange im Femininum und ohne accent aigu – ganz im Gegensatz zu fr. le mélange – und man spricht sie mit deutscher Auslautverhärtung mit finalem [ʃ] und nicht wie im Französischen mit stimmhaftem [ʒ] aus. Abends im Burgtheater und in der Oper wird dann (das für besondere Tage reservierte) Jourgebäck angeboten (vgl. fr. jour ‘Tag’), d.h. deftig belegte Semmeln/Brötchen oder Kornspitze im Miniaturformat. Wer aus München kommt, wird sich wundern, auf Empfängen typischerweise auch Brötchen zu finden – ein Wort, das in München als das Schibboleth für ‘Norddeutsch’ gilt, also alle Varietäten nördlich des ‘Weißwurstäquators’ (entlang der Donau). Doch Brötchen sind in Wien nicht etwa Semmeln (also sternförmig eingeschnittene weiße Kaisersemmeln – alle anderen heißen Gebäck). Brötchen sind kleine reichhaltig belegte Brotscheiben, also eine Art Smørrebrød, Cicchetti oder – um zu den französischen Fremd- und Lehnwörtern zurückzukommen – Canapés. Hat man das Geld dazu nicht passend parat, bekommt man etwas retour [ʁeˈtuːɐ].4
Diese Salienz (Purschke 2011, Krefeld 2013) von Gallizismen in der österreichischen Linguistic Landscape lässt sich mittlerweile multimedial per Crowdsourcing explorieren. Mit der Smartphone-App Lingscape von Purschke 2016 können (Hobby-)Linguist*innen en passant fotografieren, die Fotos nach Sprachen taggen und mit Kommentaren versehen. Danach lassen sie sich geolokalisiert auf eine Google Maps-Karte mit angeschlossener Datenbank ins Internet hochladen, wo sie ohne Zeitverzögerung online sichtbar sind (vgl. Abb. 1 sowie Abb. 6 und 7 in Kapitel 4). Mit dieser Methode kann man nicht nur neue Entlehnungen dokumentieren und einen Eindruck über die Frequenz französischer Fremd- und Lehnwörter gewinnen, sondern auch die Kategorisierungen verschiedener Typen von Sprecher*innen vergleichen: Welche Wörter fallen beispielsweise älteren und jüngeren Österreicher*innen auf, welche denen, die Französisch können und denen, die es nicht können, welche Sprecher*innen aus Deutschland, denen andere Gallizismen bekannt sind, und welche schließlich L1-Sprecher*innen des Französischen (unterschiedlicher Länder)?
Mit dieser neuen Technik lassen sich unter Einbezug der Bürger*innen (Citizen Science) effizient eine Vielzahl neuer Daten erheben. Auf deren Basis lassen sich Wörterbücher aktualisieren und sprachwissenschaftliche Analysen durchführen, z.B. im Bereich der Lehnwortintegration.
Es handelt sich damit also um eine ein „virtuelles Forschungslabor“ Krefeld 2019 mit folgenden Funktionsbereichen:
- Dokumentation, die in unzulässiger Vereinfachung oft mit Forschungsdaten gleichgesetzt wird;
- Kooperation, womöglich in unterschiedlichen epistemischen Horizonten, nämlich mit Laien und Wissenschaftlern;
- Publikation;
- Datenerhebung durch Crowdsourcing. (Krefeld 2019, 8)
Dieses Potential der Smartphone- und Web-basierten Linguistic Landscape Studies möchte ich mit einer kleinen Pilotstudie zur Wiener Josefstadt (8. Bezirk) demonstrieren. Um zu verdeutlichen, welche neuen Möglichkeiten diese Methode eröffnet, fasse ich zunächst ausführlich den aktuellen Stand der Forschung des Kultur- und Sprachkontakts zwischen Frankreich und dem deutschsprachigen Raum zusammen (Kapitel 2). Es folgt eine kurze Einführung in die Methodik der Linguistic Landscape-Forschung und die App Lingscape (Kapitel 3). Die sich dadurch eröffnenden neuen Möglichkeiten der kontaktlinguistischen Analyse präsentiere ich anhand der Ergebnisse eines sprachwissenschaftlichen Spaziergangs durch die Wiener Josefstadt, die sich zwischen Innenstadt und Universität befindet (Kapitel 4).
2. Stand der Forschung
Französische Entlehnungen in der deutschen Sprache interessieren die Sprachwissenschaft schon länger, jedoch eher sporadisch, wie der große zeitliche Abstand zwischen den zitierten Werken zeigt (vgl. insbesondere Kratz 1968, Kreissler 1973, Volland 1986, Telling 1987, Kramer 1992). Der Schwerpunkt der bisherigen Untersuchungen liegt auf Deutschland, wobei Österreich und die Schweiz eher am Rande miterwähnt werden. Die Angaben der zitierten Werke habe ich durchgängig im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS; https://www.dwds.de) überprüft, da Gallizismen bekanntermaßen leicht mit Italianismen und Latinismen verwechselt werden (vgl. insbesondere die Kritik von Kramer 1992, 69 an Telling 1987).
Beim deutsch-französischen Sprachkontakt und seinen sprachlichen Auswirkungen auf die deutsche Sprache5 müssen historisch zwei verschiedene Fälle unterschieden werden: Französisch ist zum einen Substrat in der Romania Submersa in den heutigen Gebieten Deutschlands an der Grenze zu Frankreich (u.a. Schwarzwald, Mosel; vgl. Kramer 1992, 24). Zum anderen ist es Kulturadstrat im gesamten deutschen Sprachraum, mit unterschiedlichen Einflüssen beispielsweise im Preußen Friedrichs des Großen oder auch im Wien der Habsburger (vgl. Kapitel 2.1). Dabei beeinflusst es sowohl das Standarddeutsche (in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschiedenermaßen) als auch verschiedene deutsche Dialekte (vgl. Kratz 1968, 476). Prominente Beispiele dafür sind die Kölner Stadtmundart mit Lehnwörtern wie Bajasch ‘Gepäck’ und Schandarm ‘Polizist’6 und das „Berlinfranzösisch“ des 19. Jahrhunderts, das mittlerweile gesamtdeutsch verbreitete Pseudo-Gallizismen wie Friseur (vgl. Kapitel 2.2) oder Kneipier7 sowie volksetymologisch umgedeutete französische Wörter wie ratzekahl8 hervorgebracht hat (zu fr. radical bzw. dt. Ratze ‘Ratte’ und kahl; vgl. Kramer 1992, 148, 152, 159). Dieser Beitrag beschränkt sich auf das Kulturadstrat im Standarddeutschen Deutschlands und Österreichs sowie im Wiener Dialekt.
2.1. Kultur- und Sprachkontakt Frankreichs mit Deutschland vs. Österreich
Frankreich spielt seit dem Mittelalter eine führende politische und kulturelle Rolle in Europa. Diese führt zur Verbreitung französischer Ideen und Gegenstände und damit auch zu sprachlichen Entlehnungen in zahlreiche andere Sprachen. In Bezug auf das Deutsche geben die bisherigen Publikationen einheitlich zwei Hochphasen des Einflusses des Französischen auf das Deutsche (Deutschlands) an (vgl. Kratz 1968: 445, Volland 1986, 10-13, Telling 1987, 14, Thiele 1993, 4): das Mittelalter (9.‒13. Jahrhundert) und die Zeit vom Absolutismus bis zu Napoleon (17.‒19. Jahrhundert). Zwischen diesen beiden Phasen war dagegen während des Humanismus der Einfluss des Lateinischen besonders stark. Während der europaweite Sprachkontakt dieselben Folgen für die deutsche Sprache in Deutschland und Österreich hatte, ergaben sich ab dem 18. Jahrhundert Unterschiede v.a. zwischen den beiden Hauptstädten: Berlin war von der Frankophilie Friedrichs des Großen geprägt, Wien von der Heiratspolitik der Habsburger (s.u.).
Im Mittelalter war Frankreich Modell im Bereich des Rittertums, der höfischen Kultur und der Literatur in der Volkssprache. In dieser ersten Phase kam es über unterschiedliche Wege des Sprach- und Kulturkontakts zu Entlehnungen. Zum einen orientierten sich deutsche Dichter wie Hartmann von der Aue oder Wolfram von Eschenbach beim Verfassen ihrer Artus- und Gralsepen an französischen Vorbildern. Zum anderen standen bei den Kreuzzügen französische und deutsche Ritter über längere Zeit in persönlichem Kontakt (vgl. Thiele 1993, 4-5). Der Kultur- und Sprachkontakt begann im 11. Jahrhundert, erreichte seinen Höhepunkt im 12. und 13. Jahrhundert und nahm im 14. und 15. Jahrhundert wieder ab. Im 12. Jahrhundert stellte die höfische Elite französische Sprachlehrer für ihre Kinder an, die zweisprachig wurden. In deutschen Texten finden sich in dieser Zeit ganze Sätze auf Französisch (vgl. Kramer 1992, 50-53).
Während dieser Epoche sind zahlreiche französische Wörter und sogar Sätze in deutschen Ritterromanen und anderen Texten belegt; diese verschwanden allerdings zum großen Teil bald wieder (vgl. Rosenqvist 1932, 25, 53). Heute noch bekannte (und laut DWDS auch tatsächlich direkt aus dem Französischen stammende) Lehnwörter aus dieser Zeit sind insbesondere Turnier, Lanze, Palast und Abenteuer (vgl. Tab. 1). Typische semantische Quelldomänen waren das Rittertum sowie verschiedene Domänen des höfischen Lebens, u.a. edle Stoffe (z.B. Samt, Satin) und Gewürze (z.B. Ingwer, Muskat, Safran). Einen besonders interessanten Fall stellen Dubletten dar: So wurde aus fr. palais zunächst im 12./13. Jahrhundert dt. Palas(t) ‘Schloss’ entlehnt, im 17. Jahrhundert dann Palais ‘schlossartiges Wohngebäude’.
Semantische Domäne | Deutsches Lehnwort | Französisches Quellwort | Erstbeleg im Deutschen laut DWDS |
Rittertum | Lanze | lance | 12. Jh. |
Turnier | to[u]rnei | 12. Jh. | |
Abenteuer | aventure | Ende 12. Jh. | |
Palast | palas | Ende 12. Jh. | |
Stoffe | Samt | samit | 15. Jh. |
Satin | satin | --- (afrz.) | |
Gewürze | Ingwer | gingembre, gingibre | 10. Jh. |
Muskat | noiz muscade | --- (afrz.) | |
Safran | safran | Anfang 13. Jh. |
Tab. 1: Französische Entlehnungen im Deutschen aus dem Mittelalter (vgl. Rosenqvist 1932, Telling 1987, Thiele 1993, DWDS)
Im anschließenden 16. Jahrhundert war der Sprach- und Kulturkontakt zwischen dem Französischen und dem Deutschen geringer und beschränkte sich im Wesentlichen auf die Grenzgebiete sowie die Höfe in den westlichen Gebieten Deutschlands. In dieser Zeit gelangten ca. 150 französische Entlehnungen ins Deutsche, z.B. arrogant, Hast und Poesie (vgl. Kramer 1992, 58-60, DWDS).
Die Phase vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zeichnete sich dann dadurch aus, dass sich die Herrscher der deutschen Kleinstaaten am Absolutismus Ludwig XIV. orientierten, später an der Französischen Revolution (vgl. Thiele 1993, 6). Sie begann mit der Vertreibung der Hugenotten durch das Edikt von Fontainebleau (1685), besser bekannt als Revokation des Edikts von Nantes (1598). Schätzungsweise 40 000 Protestanten kamen in dieser Zeit nach Deutschland, davon 20 000 nach Brandenburg und 7 000 nach Berlin (vgl. Kramer 1992, 78, von Polenz 22013: 53‒115). Sie flohen insbesondere nach Preußen, wo Friedrich der Große ihnen mit dem Edikt von Potsdam (1685) nicht nur ein Recht zur Niederlassung, sondern auch Privilegien anbot (Steuerbefreiungen, Subventionen). Diese Migrationsbewegung führte u.a. dazu, dass geflohene Hugenotten als Hauslehrer in preußischen Adelsfamilien die französische Sprache und Umgangsformen vermittelten. Entsprechend wurde die Oberschicht nun auch hier9 zweisprachig, allen voran Friedrich der Große (1712‒1786) selbst, der von einer französischen Gouvernante erzogen worden war und literarische Werke auf Französisch verfasste. Insgesamt 200 Jahre sprach man nun am Berliner Hof Französisch. Die Königsfamilie nannte Ihre Schlösser Sanssouci (wörtl. ‘ohne Sorge’) und Bellevue (‘schöne Sicht’). In Berlin erinnert heute noch die Toponymie an die Kolonien der Hugenotten, u.a. die Französische Straße und der Gendarmenmarkt. Durch die Napoleonischen Kriege kam es zu weiterem persönlichem Sprachkontakt: 1806 und 1812 besetzten die Franzosen für jeweils zwei Jahre Berlin (vgl. Thiele 1993, 6-10).
Der berühmteste Zeuge für den deutsch-französischen Bilinguismus im Preußen des 18. Jahrhunderts ist sicherlich Voltaire. Er schrieb am 24. Oktober 1750 die viel zitierten folgenden Zeilen:
Je me trouve ici en France. On ne parle que notre langue. L’allemand est pour les soldats et pour les chevaux; il n’est nécessaire que pour la route. En qualité de bon patriote, je suis un peu flatté de voir ce petit hommage qu’on rend à notre patrie, à trois cents lieues de Paris. Je trouve des gens élevés à Königsberg qui savent mes vers par cœur, qui ne sont point jaloux, qui ne cherchent point à me faire des niches. (Voltaire, Brief an den Marquis de Thibouville, 24.10.1750)10
Diese und ähnliche Aussagen werden von der neueren Sprachgeschichtsschreibung allerdings relativiert. Die Tatsache, dass im 17./18. Jahrhundert auf Französisch geschrieben wurde und dass französische Gäste wie Voltaire auf Französisch angesprochen wurden, bedeute noch nicht, dass – wie Kratz (1968, 446) schreibt – „sich in den höheren Kreisen zeitweise eine perfekte Zweisprachigkeit entwickelte“. Es handelte sich wohl vielmehr um eine „Alamode-Sprache“ oder „Alamodestil“ (vgl. frz. à la mode ‘in Mode’). Diese(n) definiert Helfrich (1990, 77) als den „gehäuften Gebrauch von Gallizismen bis zu stark französisch anmutenden syntaktischen Konstruktionen“. Als Paradebeispiel dafür gelten die Briefe der Liselotte von der Pfalz, die im Alter von 19 Jahren Herzogin von Orléans wurde – auch wenn es sich in ihrem konkreten Fall wohl eher um ungewollte Einflüsse der Umgebungssprache Französisch auf die L1 Deutsch handelte als um ein bewusst eingesetztes Stilmittel. In ihren Briefen finden sich insbesondere französische Verben mit dem deutschen Suffix -ieren (z.B. condamnieren), Substantive wie tendresse ‘Zärtlichkeit’ oder chagrin ‘Kummer’ sowie feste Konstruktionen wie etwas in ordre bringen ‘etwas in Ordnung bringen’ (vgl. Helfrich 1990, 78-82).
Dennoch war der deutsch-französische Sprachkontakt in dieser Epoche so umfangreich, dass aus ihr der Großteil der Gallizismen des Gegenwartsdeutschen stammt. Etwa die Hälfte der Lehnwörter aus dieser Zeit hat sich bis heute erhalten (vgl. Kramer 1992, 69). Einen Einblick in die Entlehnungen des 17.‒19. Jahrhunderts geordnet nach semantischen Domänen gibt Tab. 2:
Semantische Domäne | Beispiele |
Verwandtschaftsbezeichnungen | Papa, Mama, Onkel, Tante, Cousin, Cousine |
Kultur | Ball, Ballett, Feuilleton, Pointe, Premiere, Repertoire, Matinee, Soiree, Vernissage |
Essen und Gastronomie | Aspik, Biskuit, Bonbon, Bouillon, Café, Champignon, Gelee, Kaffee, Kompott, Konfitüre, Kotelett, Likör, Mayonnaise, Omelett(e), Pommes Frites, Ragout, Remoulade, Restaurant |
Schönheit und Mode | Parfüm, Perücke, Plüsch, Puder, Teint, Toupet; frisieren |
Architektur und Garten | Allee, Balkon, Bassin, Buffet, Etage, Fassade, Niveau, Palais, Terrasse |
Militär | Bombe, Attacke, Marine, Militär, Truppe, Uniform |
Politik und Gesellschaft | Milieu, Minister, Regime |
Finanzen | Baisse, Hausse, Devisen, Ressource |
sonstiges | Chance |
Tab. 2: Französische Entlehnungen im Deutschen vom 17. bis 19. Jahrhundert (vgl. Thiele 1993, 7-8, DWDS)
Die Geschichte des französisch-österreichischen Kultur- und Sprachkontakts zu dieser Zeit ist eine ganz andere. Im Gegensatz zu Deutschland ist Österreich kein Nachbarland Frankreichs und war auch nie Ziel einer größeren Migrationsbewegung wie der der Hugenotten. Verbindungen ergaben sich vielmehr durch die Heiratspolitik der Habsburger: Maria-Theresia (1717‒1780), Erzherzogin von Österreich sowie Königin von Ungarn und Böhmen, heiratete Franz Stephan von Lothringen, der als Franz I. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wurde. Maria-Antonia (1755‒1793) wurde nach ihrer Heirat mit Louis XVI unter dem Namen Marie-Antoinette französische Königin, und nach der Französischen Revolution wurde Marie-Louise (1791‒1847) die zweite Ehefrau Napoleons. Die Napoleonischen Kriege führten neben den zwei Besetzungen Berlins (s.o.) auch zu zwei Besetzungen Wiens (1805 und 1809) und schließlich zum Wiener Kongress (1814/1815).
Einem Mythos zufolge hat Marie-Antoinette sogar das croissant nach Frankreich gebracht, das in einer Wiener Bäckerei nach der erfolgreichen Abwehr der Türkenkriege als Abbild des Halbmonds auf der türkischen Flagge erfunden worden sei. Entsprechend findet man auch im etymologischen Wörterbuch von (Bloch/Wartburg [1932] 1949):
Croissant, ‘sorte de gâteau’, XIXe siècle, est une traduction de l’allemand Hörnchen; les premiers croissants furent fabriqués à Vienne pour célébrer la victoire de 1689 sur les Turcs dont l’emblème national, comme on sait, est un croissant. (Bloch/Wartburg [1932] 1949, 164)
Rainer 2007 kritisiert diesen Eintrag, der in den aktuellen Wörterbüchern übernommen und noch ausgebaut wird, sehr ausführlich: Insbesondere entspricht fr. croissant dt. Halbmond und nicht dt. Hörnchen (was wiederum auf Französisch petite corne heißen würde). Jedoch sagt man in Österreich gar nicht Hörnchen, sondern Kipferl – und diese gab es schon lange vor dem Sieg gegen die Türken (vgl. dazu auch Chevallier 2009; laut (DWDS) seit dem 13./15. Jh.). Als Marie-Antoinette 1770 nach Versailles kam, brachte sie aber tatsächlich ihren Leibbäcker mit, der ihr zum Frühstück etwas buk, das ihre Kammerfrau Jeanne Campan in ihren Memoiren als „une sorte de pain auquel elle avait été accoutumée dans son enfance à Vienne“ umschreibt (Campan 1826: 105). Es finden sich jedoch keine Belege dafür, dass sich dieses Gebäck, das die Königin zum Frühstück aß, auch im Volk verbreitete. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Wiener Backwaren in Paris in Mode. Dazu trug zum einen die 1838/39 von August Zang gegründete Boulangerie Viennoise in der 92 rue Richelieu bei, zum anderen die Weltausstellung 1867 in Paris. Zu deren Spezialitäten gehörten neben petits pains viennois ‘Wiener Brötchen’ (aus weißem Mehl, Milch und einer besonderen Hefe) und empereurs ‘Kaiser’ oder autrichiens ‘Österreicher’ genannte Kaisersemmeln auch Croissants (vgl. Rainer 2007, 477, Chevallier 2009, 18,44). Scheibenbogen (1896: 112) verwendete hierfür bereits den Kollektivbegriff viennoiseries ‘Wienereien’ (zit. nach Rainer 2007, 10-477). Heute unterscheidet man in Wiener Bäckereien Briochekipferl (in Deutschland Hörnchen) und französische Kipferl (in Deutschland – und auch in Österreich – Croissants).
Das Französische scheint eher umgekehrt das Wienerische beeinflusst zu haben. Insbesondere war das Französische beim Wiener Kongress (1814/1815) omnipräsent:
„A peine les années de guerre sont-elles passées que survient un événement qui fait de Vienne le lieu de rencontre du monde entier d’alors, le Congrès de Vienne, qui pendant plus d’un an sans doute dansa, mais où l’on parla aussi beaucoup, surtout dans le monde distingué ou qui se disait tel; et la langue des diplomates fut le français. Une fois de plus, dans l’espace de quelques décennies, les Viennois furent mis en présence de milliers d’étrangers (on parle de 100 000) dont la langue usuelle était encore le français.“(Kreissler 1973, 18)
In seiner Arbeit zum Französischen im Wiener Theater des 19. Jahrhunderts verweist Kreissler (1973, 171) – entsprechend dem „Berlinfranzösisch“ (s.o.) – auf das „Wiener Französisch“ derselben Epoche. Es handelt sich dabei allerdings wohl nicht um eine Varietät des Französischen, sondern um das „französisch parlieren“ (Kreissler 1973, 18) mit französischen oder Französisch klingenden Wörtern, die in Wien verwendet wurden (und z.T. noch werden) und keine 1:1-Entsprechungen des französischen Wortschatzes Frankreichs sind (vgl. Tab. 3). Betrachtet man diese Wörter jedoch genauer in deutschen und französischen Wörterbüchern (Duden online, TLFi), so stellt man zwei Punkte fest: Erstens sind die Bedeutungen oft gar nicht an sich unfranzösisch, sondern lediglich aus heutiger Sicht veraltet (z.B. lavoir ‘Vx. Petit récipient dont on se sert pour se laver les mains’; TLFi) oder sie stellen eine weniger bekannte Nebenbedeutung dar (z.B. plumeau neben ‘Staubwedel’ auch ‘Édredon, couverture de plumes’; TLFi) (vgl. dazu bereits Kratz 1968, 463). Zweitens handelt es sich oft nicht um Austriazismen, sondern um allgemein bekannte falsche Freunde wie fr. veste/dt. Jacke vs. dt. Weste/fr. gilet; allein bei Trafik ‘Laden für Tabakwaren, Zeitungen u.Ä.’ vermerkt der Duden online „österreichisch“.
„Wiener Französisch“ | Entsprechung im Französischen Frankreichs | Österreichisches Wörterbuch | Duden online | TLFi |
lavoir | cuvette | ‘Waschschüssel’ | ‘Waschschüssel’; veraltet |
auch ‘Vx. Petit récipient dont on se sert pour se laver les mains’ |
chambre séparée | cabinet particulier | --- | ‘kleiner Nebenraum in Restaurants für ungestörte [intime] Zusammenkünfte’; veraltet |
--- |
raseur (friseur) | coiffeur | --- | ‘Barbier’; veraltet |
--- |
parterre | rez-de-chaussé | ‘Erdgeschoss’ | ‘Erdgeschoss’ | 1668 ‘partie du rez-de-chaussée d’une salle de théâtre où le public se tient debout’ |
souterrain | sous-sol | ‘Tiefparterre’ | ‘Kellergeschoss’ | |
recette | ordonnance | --- | --- | |
garde-robe | vestiaire | --- | Garderobe | auch ‘Pièce, chambre où sont rangés les vêtements’ |
veste | gilet | --- | Weste | --- |
privatier | rentier | --- | Privatier; veraltend | --- |
plumeau | édredon | --- | ‘halblanges, dickeres Federbett’ | auch ‘Édredon, couverture de plumes’ |
filiale | succursale | --- | Filiale | 1844 « succursale, annexe » |
trafic | Débit de tabac | --- | Trafik;
österreichisch |
auch ‘Vieilli. Commerce de marchandises. Trafic colonial’ |
antiquaire | bouquiniste | --- | --- | --- |
thé | tisane | --- | (Tee aus dem Niederländischen) | auch ‘Infusion, tisane’ |
Tab. 3: Pseudo-Gallizismen im Wiener Theater des 19. Jahrhunderts (Kreissler 1973, 172; vgl. auch Kratz 1968, 463), Vorkommen und Bedeutung im Österreichischen Wörterbuch sowie Bedeutung und Konnotation im Duden online
Neben den unterschiedlichen Beziehungen zwischen Frankreich zum einen mit Deutschland, zum anderen mit Österreich (die Schweiz stellt noch einmal einen eigenen Fall dar) besteht noch ein weiterer Grund für die Unterschiede zwischen den Gallizismen in beiden Ländern und ihren Standardvarietäten: der anti-französische Purismus im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dieser betraf v.a. den staatlich beeinflussbaren Wortschatz der Post, der Eisenbahn und des Militärs. Bei der Post wurde aus dem Couvert der Umschlag, aus der Correspondenzkarte die Postkarte, aus recommandiert eingeschrieben, aus poste restante postlagernd; bei der Bahn aus dem Perron der Bahnsteig, aus der Barriere die Schranke, aus dem Passagier der Fahrgast, aus dem Coupé das Abteil, aus dem Conducteur der Schaffner und aus dem Retourbillet die Rückfahrkarte (vgl. Kratz 1968, 474, Kramer 1992, 123-125).11 Insgesamt schätzt Kratz (1968: 474) daher den „französische[n] Anteil am Wortschatz (…) in Österreich (…) größer“ ein „als in Deutschland“.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die internationale Vorrangstellung Frankreichs dann von England abgelöst, nach dem zweiten Weltkrieg von den USA. Entsprechend nimmt der Einfluss des Französischen auf das Deutsche ab, gleichzeitig nimmt der Einfluss des Englischen zu (vgl. Thiele 1993, 8). Dies illustriert die Dublette Appartement/Apartment im Deutschen: Im 17. Jahrhundert gelangte aus dem Französischen <Appartement> ‘Kleinwohnung’ [apaʁt(ə)ˈmɑ̃ː] ins Deutsche, im 20. Jahrhundert dann über das Englische <Apartment> ‘Einzimmerwohnung’, das ohne Schwa und ohne Nasalvokal als [apaʁtˈmɛnt] ausgesprochen wird (vgl. Kramer 1992, 129, DWDS, Duden online).
Lebensbereiche, in denen seitdem Frankreich weiterhin eine Vorbildfunktion genießt und entsprechend Wortschatz exportiert sind „Schönheit und Mode“ sowie „Essen und Gastronomie“ (vgl. auch Telling 1987, 14):
[…] das Französische [transportiert], namentlich in den Bereichen Parfum, Mode, Wein und Käse, einen Image-Mix aus Raffinesse, Eleganz und Savoir-vivre […]. (Platen 1997, 58)
Languages are therefore used in intercultural advertising because, through this cultural competence hierarchy, they have symbolic value independent of their utility meanings. Within this competence hierarchy, the Germans have been assigned the role of car-maker/engineer and brewer. Food and drink products, on the other hand, are best left to the European cooks and general culinary experts, the French. (…) Apart from its function as a signifier of good food and drink, the French language has also become a social hieroglyphic for femininity, fashion and beauty in intercultural advertising communication. (Kelly-Holmes 2000, 71, 74)
Beispiele aus diesen semantischen Domänen finden sich in Tab. 4:
Semantische Domäne | Beispiele |
Schönheit und Mode | Dessous, Koteletten, Maniküre |
Essen und Gastronomie | Aperitif, Kroketten, Menü, Mayonnaise, Remoulade |
sonstiges | Garage, Premiere, Prestige, Roulette |
Tab. 4: Französische Entlehnungen im Deutschen im 20. Jahrhundert (vgl. Thiele 1993: 8, DWDS)
Die im Zitat von Platen 1997 angesprochene Eleganz spiegelt sich auch in Assoziationen sowie sozialer und stilistischer Variation wieder:
Es ist nicht zu übersehen, daß die französischen Wörter sehr oft vornehmer, anspruchsvoller sind als die deutschen oder eine vornehmere, anspruchsvollere Variante des Gegenstandes bezeichnen. Eine Dame ist gesellschaftlich höherstehend als eine Frau. Ein Collier ist ein sehr kostbarer Halsschmuck. Eine Fontäne ist ein großer, prächtiger Springbrunnen in einem gepflegten Park. Eine Gesichtsfarbe hat jeder, einen Teint haben nur gepflegte Personen, besonders Damen. Ein Hotel ist vornehmer als ein Gasthaus, und je vornehmer es ist, desto französischer wird die Speisekarte. Dort wird auch nichts aufgetischt, sondern es wird serviert. Eierkuchen und Nachtisch sind bescheidener als Omelett und Dessert. Nur große Theater und luxuriöse Hotels haben ein Foyer. (Kratz 1968, 468)
Wie häufig ist die Bewertung des sozial-stilistisch Höherstehenden ambig:
Mit dem Hauch des Vornehmen ist gelegentlich eine gewisse kühle Förmlichkeit verbunden, aus der sich Gespreiztheit entwickeln kann. Bei einem guten Freund macht man keine Visite, sondern einen Besuch. (Wenn der Arzt eine Visite macht, so liegt das auf einer anderen Ebene: nüchterne, fachlich-medizinische Atmosphäre.) Eine höfliche Entschärfung, Distanzierung liegt vor in beschränkt –borniert (…). – Die Vornehmheit hat allerdings häufig ein großväterlich-altmodisches Aussehen bekommen. In einer modernen Wohnung gibt es keinen Salon mehr (nur der Friseur hat noch einen, aber das ist etwas anderes). Ein Salon riecht nach Plüsch und Spitzendeckchen. (…) Das französische Vorbild in gesellschaftlicher Hinsicht ist schon ein wenig vergilbt und verstaubt. (Kratz 1968, 468)
Es stellt sich also die Frage, inwieweit 20 bis 50 Jahre später zu Zeiten von Hairstylisten und Coffeeshops eine solche Vorbildfunktion noch Realität ist. Hierzu kann eine Linguistic Landscape-Studie neue Antworten geben.
2.2. (Pseudo-)Gallizismen im Deutschen (Deutschland vs. Österreich)
Das Französische ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Kontaktsprachen in der Sprachgeschichte des Deutschen, Thiele (1993, 4) zufolge sogar die wichtigste nach dem Lateinischen. Allerdings bestehen bedeutende Unterschiede zwischen den deutschen (Standard-)Varietäten in Deutschland und Österreich (und natürlich auch in der Schweiz). Dabei berichtet Ebner (1988, 163f.) einerseits, dass die Verwaltungsterminologie in Deutschland eher französisch, in Österreich dagegen lateinisch ist (z.B. deutsch Avis vs. österreichisch Aviso). Andererseits habe Österreich zahlreiche Gallizismen beibehalten, die in Deutschland schon wieder außer Gebrauch gekommen seien (vgl. Kapitel 2.1). Tab. 5 listet die Gallizismen auf, die laut Duden Österreichisches Deutsch (2008: 15) nur in Österreich (bzw. oft nur in Wien; vgl. Ebner 1988) existieren.
Österreichischer Gallizismus | Deutsche Entsprechung / Erklärung |
Apportl | umgangssprachlich; Wurfgegenstand für den Hund |
Assanieren | sanieren |
außertourlich | zusätzlich |
delogieren | zum Ausziehen aus der Wohnung zwingen |
Fadesse | veraltet; Langeweile |
Falott | umgangssprachlich; Gauner |
faschieren | durch den Fleischwolf drehen |
Frappé | Milchmixgetränk |
Karbonade | veraltet; faschierte Laibchen12 |
Kokosette | Kokosflocken |
Magazineur | Magazinverwalter |
Manipulant | Amtsspr.; Hilfskraft |
Parte(zettel) | Todesanzeige |
Pouvoir | Vollmacht |
Pralinee | französisierend; Praline |
Rayon | Amtsbezirk |
retour | zurück |
reversieren | umkehren |
Rondeau | rundes Beet |
schmafu | umgangssprachlich; geizig |
Trafik | Tabakladen |
tentieren | umgangssprachlich; beabsichtigen |
Tab. 5: Österreichische Gallizismen laut Duden Österreichisches Deutsch (2008: 15).
Neben diesen Unterschieden im Inventar französischer Lehnwörter in Deutschland und Österreich bestehen auch Unterschiede in Bezug auf den Grad der Lehnwortintegration. Hierbei kann man entsprechend der phonetisch-phonologischen, graphischen, morphologischen und syntaktischen Integration zwischen Fremdwörtern und Lehnwörtern unterscheiden (vgl. Kramer 1992, 46); dazu kommt noch das vollkommen unintegrierte Code-Switching (vgl. (Poplack 1982) nopar="true"). Dies demonstriert in Abb. 3 fr. café, das sich zu dt. <Café> und <Kaffee> bzw. [ka'fe] und ['ka.fe] entwickelt hat. Als erste Etappe kann das Code-Switching angesetzt werden, das nur bei bilingualen Sprecher*innen vorkommt. Aktuelle Beispiele von deutsch-französisch zweisprachigen Kindern der école maternelle des Lycée Français de Vienne sind etwa „je suis allée avec OMA au SPIELPLATZ“ oder „Und dann nimmt sie ihren DOUDOU mit“ (Heiszenberger 2019, 76, 72). Je nach Prestige der Kontaktsprache kann Code-Switching als mangelnde Sprachkompetenz oder als Snobismus interpretiert werden (vgl. „Alamode-Sprache in Kapitel 2.1). Im Gegensatz zu bilingualen Sprecher*innen integrieren einsprachige Sprecher*innen Entlehnungen tendenziell besonders stark in das System ihrer L1. Dies kann die Konnotation ‘ungebildet’ haben, etwa bei Restaurant [ʁɛestauʁaŋ], muss es aber nicht. So gilt beispielsweise die ältere eingedeutschte Aussprache [jats] für Jazz als die der Expert*innen im Gegensatz zur neueren dem anglo-amerikanischen Original näheren Aussprache [dʒæz].
Code-Switching | Fremdwort | Lehnwort | ||
Graphie | <café> | <Café> | <Kaffee> | <Kaffee> |
Phonologie | [ka'fe] | [ka'fe] | [ka'fe] | ['ka.fe] |
Sozio-stilistische Konnotation | mehrsprachig (evtl. ‘Snob’) |
einsprachig
(evtl. ‘ungebildet’) |
Abb. 3: Unterschiedliche Integrationsgrade von Entlehnungen am Beispiel von fr. café
Auch wenn es sich diachron um ein Kontinuum handelt, kann man synchron zwischen Lehnwörtern wie Abenteuer (vgl. Kapitel 2.1) unterscheiden, die voll integriert sind und deren französische Herkunft dem/der durchschnittlichen Sprecher*in unbekannt ist, und Fremdwörtern wie Cousin oder Matinee, denen man ansieht und/oder anhört, dass sie aus dem Französischen stammen (vgl. dazu Tab. 6).
In der Phonologie zeigen dies die im Deutschen eigentlich unbekannten Phoneme der Nasalvokale (/ɑ̃/, /ɔ̃/, /ɛ̃/ und /œ̃/13) und des stimmhaften post-alveolaren Frikativs /ʒ/ (z.B. in Vernissage). Man kann darüber streiten, ob /ʒ/ und die Nasalvokale zum phonologischen System des L1 Deutsch von Sprecher*innen zählen, die diese Phoneme in französischen Lehnwörtern aussprechen (vgl. dazu auch Kratz 1968, 456, Volland 1986, 61-62). Solche „Phonemimporte“ werfen die grundsätzliche Frage auf, ob sprachliche Systeme als ein homogenes Ganzes oder als ein Kontinuum zwischen einem Kern und einer Peripherie zu modellieren sind (vgl. Heinz 2014, Pustka 2019). Dagegen taucht der typologisch seltene und für L1-Sprecher*innen des Deutschen besonders schwer auszusprechende labiale Gleitlaut /ɥ/ nicht in Lehnwörtern auf: Fr. biscuit [bisˈkɥi] wird in Deutschland zu dt. Biskuit [ˈbɪskvɪt]/[bɪsˈkviːt] (vgl. Duden online), in Österreich auch zu [bisˈkʋiː(t)] (vgl. adaba:). Neben den Unterschieden im Phoneminventar zeichnen sich Fremdwörter aus dem Französischen auch auf prosodischer Ebene aus, nämlich durch die Akzentuierung auf der letzten Silbe (vgl. Kratz 1968, 456). In anderen Fällen sind allein die französischen Grapheme bzw. Graphem-Phonem-Korrespondenzen auffällig (z.B. das <oi> für [wa] in Repertoire). Tab. 6 illustriert dies anhand der Wörter, die ich in Kapitel 2.1 bereits in Bezug auf ihren kulturellen Kontext und ihre semantischen Domänen eingeführt habe.
Französisches Element | Fremdwort im Deutschen | |
Phoneme | /ɑ̃/ | Champignon, Chance, Restaurant |
/ɔ̃/ | Champignon, Feuilleton | |
/ɛ̃/ | Bassin, Cousin, Teint | |
/œ̃/ | Parfüm | |
/ʒ/ | Etage, Garage, Regime, Vernissage | |
Graphem-Phonem-Korrespondenzen | <u> [y] | Buffet (neben Büffet) |
<ai> [ɛ] | Mayonnaise, Palais, Baisse | |
<au> [o] | Hausse, Restaurant | |
<oi> [wa] | Repertoire | |
<oin> [wɛ̃] | Pointe | |
<eu> [œ] / [ø] | Feuilleton, Milieu | |
<ou> | Bouillon, Dessous, Ragout, Remoulade, Toupet | |
<eau> | Niveau | |
<ee> | Allee, Gelee, Kaffee, Matinee, Soiree | |
<c> [k] bzw. [s] | Café, Cousin; Ressource, Chance | |
<ch> | Champignon | |
<ll> | Bouillon, Feuilleton | |
<e> muet | Kotelett, Omelett(e), Pommes Frites |
Tab. 6: Französische Phoneme und Graphem-Phonem-Korrespondenzen in französischen Fremdwörtern im Deutschen
In manchen Fällen schwankt die Aussprache allerdings abhängig von der Region und vom Bildungsgrad der Sprecher*innen und auch von der Stilhöhe des Gesagten sowie der semantischen Domäne des Wortes. So spricht man beispielsweise in Deutschland Bonbon phonologisch integriert als [bɔŋˈbɔŋ]14 aus (mit Oralvokal und velarem Nasal wie in Südfrankreich), in Österreich dagegen als [bɔ̃ˈbɔ̃ː] oder [bɔmˈbɔ̃ː] (vgl. Tab. 7). Dagegen wird Feuilleton stets mit Nasalvokal als [ˈfœjətɔ̃] ausgesprochen. Für Champignon ist sowohl [ˈʃampɪnjɔŋ] als auch [ˈʃampɪnjɔ̃ː] verzeichnet, für Österreich auch [ˈʃampɪnjoːn]. Bei finalem <-ge> /ʒ/ wie in Garage ist die Lage einfacher: Hier spricht man in Deutschland final [ʒə], in Österreich dagegen [ʃ] aus (vgl. Melange in Kapitel 1). Entsprechend steht bei finalem <-se> wie in Mayonnaise deutsches [zə] österreichischem [s] gegenüber. Die deutsche Variante imitiert in beiden Fällen den stimmhaften Sibilanten des Französischen, spricht aber das finale <e> muet nach den Graphie-Phonie-Korrespondenzen des Deutschen aus. Die österreichische Variante übernimmt die Nicht-Realisierung des finalen <e>, integriert in Folge aber den Sibilanten, der durch die Auslautverhärtung stimmlos wird. Zudem behält das österreichische Deutsch die Akzentuierung auf der finalen Silbe öfter als das deutsche Deutsch bei, z.B. wird Kaffee stets [kaˈfeː] ausgesprochen; in Deutschland sind dagegen sowohl [ˈkafeː] als auch [kaˈfeː] möglich (vgl. Duden Österreichisches Deutsch 2008: 467, Duden online, adaba:).
Duden online | adaba: | |||
Deutschland | Österreich | Deutschland | Österreich | |
Bonbon | [bɔŋˈbɔŋ] | [bɔ̃ˈbɔ̃ː] | [ˈbɔŋbɔŋ]/[ˈbombɔŋ] | [bo̞mˈbõː]/[..mˈbɔ̃ː] |
Feuilleton | [ˈfœjətɔ̃], auch [fœjəˈtɔ̃ː] | --- | --- | --- |
Champignon | [ˈʃampɪnjɔŋ], [ˈʃampɪnjɔ̃ː] | auch: [ˈʃampɪnjoːn] | [ˈʃampiŋjɑ̃ː] [sic!] / [ʃamˈpiɔŋ] | [ˈʃampiŋjõː]/[+]-[ˈʃampiŋjɔ̃ː] |
Garage | [ɡaˈraːʒə] | meist: […ʃ] | [ɡaˈʁaːʒə] | [ɡaˈʁaːʒə][..ʃə] |
Mayonnaise | [majɔˈnɛːzə], [majo…] | [majɔˈnɛːs] | --- | --- |
Kaffee | Betonung
Kaffee auch [kaˈfeː] |
nur: [kaˈfeː] | [ˈkafeː] | [kaˈfeː] |
Tab. 7: Aussprache französischer Lehnwörter in Deutschland und Österreich
Neben der phonologischen Ebene kann die Integration natürlich auch auf der graphischen Ebene stattfinden. Dazu gehört zunächst einmal die Großschreibung der Substantive im Deutschen (mit Ausnahme fester Konstruktionen wie en masse). Zudem verschwinden häufig die Akzente, die es im Deutschen eigentlich (außer in wenig integrierten französischen Lehnwörtern wie Café) nicht gibt, z.B. dt. Kaffee. Hier lässt sich häufig beobachten, dass zunächst die Graphie der Quellsprache übernommen wird, anschließend daneben eine eingedeutschte Graphie erscheint und diese sich schließlich durchsetzt. Manchmal werden Wörter auch nur zum Teil graphisch integriert. So schreibt man beispielsweise Ouvertüre mit dt. <ü> statt fr. <u> (ouverture), aber mit dem französischen Digraph <ou>, obwohl im Deutschen /u/ mit <u> verschriftet wird. Daneben kann die Beibehaltung der Originalschreibung aber auch über den Prozess der spelling pronunciation zu einer neuen Aussprache führen. So spricht man beispielsweise in dt. Hotel im Gegensatz zu fr. hôtel das <h> als [h] aus, in Horsd’œuvre15 dagegen nicht. In anderen Fällen wie blond oder prompt führt die spelling pronunciation zur Aussprache finaler Konsonanten, die im Französischen in der Regel stumm sind (vgl. Kratz 1968, 453-456, Duden online). Werden Wörter über die Phonie entlehnt – an die sich dann eventuell die Graphie anpassen kann –, spricht man von eye loans; werden Wörter über die Graphie entlehnt – an die sich dann eventuell die Phonie anpassen kann –, von ear loans (vgl. Pratt 1980, 16).
In zahlreichen anderen Fällen sorgt dagegen eine den deutschen Graphem-Phonem-Korrespondenzen entsprechende, also integrierte Graphie dafür, dass die dem Französischen sehr ähnliche Aussprache von ear loans erhalten bleibt. Dies ist etwa bei Büro [byˈʁo] mit <ü> und <o> für fr. bureau und Likör [liˈkœʁ] mit <k> und <ö> für fr. liqueur der Fall. Bei fr. peluche [plyʃ] > dt. Plüsch [plyːʃ] ist das stumme <e> muet in der ersten Silbe und final in der Graphie weggefallen, [y] wird entsprechend den deutschen Graphem-Phonem-Korrespondenzen statt als <u> als <ü> notiert und [ʃ] statt als <ch> als <sch>. Aber auch die Graphie kann schwanken, und das selbst zwischen den Standardvarietäten des Deutschen. So ist in Deutschland etwa das stärker integrierte <Büffet> (neben <Buffet>) üblicher als in Österreich (vgl. Duden online). Daneben kann ein unterschiedlicher Grad der Lehnwortintegration auch semantische Unterscheidungen codieren, z.B. <Kaffee> (Getränk) vs. <Café> (Gaststätte). Insgesamt scheint damit das Deutsche Österreichs französische Entlehnungen eher zu imitieren, das Deutsche Deutschlands dagegen zu adaptieren.
Neben der Phonologie und Graphie ist auch die Morphologie ein Indikator für den Grad der Integration. Hier sind insbesondere das Genus (vgl. die Melange; s.o.) und die Pluralbildung zu erwähnen. So findet man auf Märkten neuerdings Navetten (< fr. navets ‘Speiserüben’) mit dem deutschem Suffix -en (zur Pluralbildung vgl. auch Kratz 1968, 453).
Ein lexikologisch spannendes Phänomen sind schließlich die oben schon erwähnten falschen Freunde und Pseudo-Entlehnungen. Diese haben auf deutschsprachige Sprecher*innen eine französische Wirkung, existieren aber gar nicht im Französischen selbst. Eine solche „expressive Wirkung von Xenismen und fremdsprachigen Sequenzen“ erfolgt „in erster Linie über die Form“ (Platen 1997, 61). Ein Beispiel aus Deutschland für Falsche Freunde ist Baiser, auf deutsch ein ‘Schaumgebäck aus geschlagenem Eiweiß und Zucker’ (das auf Französisch meringue heißt), auf Französisch dagegen ‘Kuß’ (DWDS); in Österreich sagt man dagegen laut Duden online eher Windbäckerei oder Schaumbäckerei. Ein anderes bekanntes Beispiel ist Jalousie (fr. ‘Eifersucht’, dt. ‘Rolladen’16, was fr. store entspricht). Manche Falschen Freunde beschränken sich dagegen auf Österreich, z.B. österreichisch fad ‘langweilig’ (das im Gegensatz zu Fadesse in Tab. 5 meiner persönlichen Erfahrung nach sehr lebendig ist, z.B. in mir ist fad ‘ich langweile mich’) vs. fr. fade ‘ohne Geschmack’ (vgl. Cheval/Wagner 1997, 49). Auch Melange ist ein faux ami, da es sich nicht um eine beliebige ‘Mischung’, sondern um eine Art Cappuccino handelt (café au lait laut Cheval/Wagner 1997, 113; vgl. bereits Kapitel 1). Eine Pseudo-Entlehnung ist dagegen Friseur (vgl. fr. friser ‘Haare locken’), denn auf Französisch sagt man nicht *friseur, sondern coiffeur. Letzteres ist wiederum in der Wiener Linguistic Landscape ebenfalls sehr verbreitet, wie die Studie von Fröschl 2017 zeigt (vgl. Kapitel 2.3)
2.3. Erste Erkenntnisse zu Gallizismen in der Wiener Linguistic Landscape
Speziell zu den Gallizismen in der Wiener Linguistic Landscape existiert bislang nur die Diplomarbeit von Fröschl 2017 (die neben Gallizismen auch Italianismen untersucht). Sie hat zum einen vier Einkaufsstraßen in Wien auf französische Wörter fotographisch dokumentiert und zum anderen systematisch im Internet nach Namen von Friseurgeschäften und dem Wortschatz von Bäckereigeschäften recherchiert.
Die vier untersuchten Einkaufsstraßen sind der Graben (1. Bezirk: Innere Stadt), die Josefstädter Straße (8. Bezirk: Josefstadt), die Liechtensteinstraße (9. Bezirk: Alsergrund) und die Brunnengasse (16. Bezirk: Ottakring). Während am Graben als dem touristischen Zentrum Wiens und in der Liechtensteinstraße um den Hauptsitz der großen französischen Schulen (mit ca. 2 000 Schüler*innen) herum das Französische auch eine kommunikative Funktion innehat, ist an der Josefstädter Straße und in der Brunnengasse die Funktion im Wesentlichen symbolisch.17 Fröschl 2017 dokumentiert hier v.a. Begriffe aus den üblichen semantischen Domänen Gastronomie (Restaurant, Café/Cafe), Mode (Boutique) und Schönheit (Salon, Parfüm).
Daneben hat Fröschl 2017 auf Basis der Branchenliste sämtliche Bezeichnungen der 1669 Friseurgeschäfte in Wien nach Bezirken kartographiert (vgl. die Synopse in Abb. 2). Dabei hat sie herausgefunden, dass 16% der Geschäfte den Pseudo-Gallizismus Friseur enthalten sowie 4% das in das deutsche Graphemsystem integrierte Frisör. Der französische Coiffeur findet sich dagegen nur in 6% der Ladenbezeichnungen. 14% der Geschäfte haben ferner einen Namen, der das englische Morphem Hair- ‘Haar’ enthält. Die übrigen 60% verteilen sich auf Wortbildungen mit den deutschen Wurzeln Frisier-, Frisur- oder Haar- (insgesamt 11%), Wortspiele (4%), Namen der Besitzer*innen (6%) oder komplett andere Bezeichnungen (14%). Bei den übrigen 23% der Geschäfte war der Name nicht über die Branchenliste identifizierbar.
Fröschl (2017: 68-69) hat diese Bezeichnungskategorien auch nach Bezirken geordnet. Für das französische Coiffeur ergibt sich dabei folgende Verteilung (vgl. Abb. 5):
Abb. 5 zeigt, dass die ‘Hochburgen’ der Coiffeur-Bezeichnungen für Friseurgeschäfte in Wien im 1. Bezirk Innere Stadt (13%), also der touristischen Innenstadt, sowie in den bürgerlichen Wohnvierteln des 8. Bezirks Josefstadt und 13. Bezirks Hietzing (jeweils 10%) liegen. Nach unten weichen der 18. Bezirk Währing (2%) und der 7. Bezirk Neubau (1%) am meisten vom Durchschnittswert von 6% (s.o.) ab. Dabei handelt es sich jedoch keinesfalls um bildungsferne oder wenig kosmopolite Stadtviertel! Hier finden sich vielmehr überdurchschnittlich viele Friseurgeschäfte mit dem aus dem Englischen entlehnten Morphem Hair- (21% im 7. Bezirk, 30% im 18. Bezirk). In den traditionellen Arbeitervierteln Ottakring (16. Bezirk) und Favoriten (10. Bezirk) sind dagegen die klassischen Bezeichnungen mit Friseur-/Frisör- (26% bzw. 24%) überdurchschnittlich verbreitet.
Der zweite Bereich, den Fröschl 2017 in ihrer Arbeit genau dokumentiert, ist der Wortschatz der Backwaren in acht Wiener Bäckerei-Ketten (auf Basis deren Homepages). Als häufigste Morpheme aus dem Französischen identifiziert sie dabei Croissant, Baguette, Jour(-) und Brioche(-). Daneben dokumentiert sie auch Ficelle, Roulade, Tarte, Dessert, Biskuit(-), Pain, Melange, Creme(-)/Crème, Gratin, Mousse, Likör, Nougat, Pain au chocolat, Petit four, Gelee(-) und Souflee(-) (vgl. Fröschl 2017: 76). Bemerkenswert ist die Finlandaise der ebenfalls in Deutschland verbreiteten Kette Le Crobag (deutscher Markenname aus fr. le, cro(issant) und bag(uette)), die die meisten französischen Wörter aller untersuchten Ketten verwendet (insbesondere als einzige Ficelle und Pain au Chocolat): Die Kette verwendet das französische Wort Finlandaise ‘Finnin’ für ein Finnenbrot aus dunklem Vollkornmehl mit hohem Kornanteil in Form eines französischen Baguettes – was in Frankreich meinen Recherchen nach nicht existiert.
Die meisten dieser in Wien dokumentierten Wörtern finden sich im Duden online. Tab. 8 bildet daraus Genus und phonetische Transkription ab. Zusätzlich sind dort z.T. Informationen zu Etymologie und Wortgeschichte aus dem DWDS verzeichnet. Die Reihenfolge entspricht ihrer Frequenz im Korpus von Fröschl 2017.
Duden online | DWDS | ||
Genus | Phonetische Transkription | Erstbeleg | |
Croissant | das | [kʁo̯aˈsɑ̃ː] | (keine Etymologie) |
Baguette | das oder die | [baˈɡɛt] | 20. Jh. |
Jour(-) | ---*18 | --- | (keine Etymologie) |
Brioche(-) | die | [bʁiˈɔʃ] | (keine Etymologie) |
Ficelle | --- | --- | --- |
Finlandaise | --- | --- | --- |
Roulade | ---* | --- | (keine Etymologie)* |
Tarte | die | [ˈtaʁt(ə)] | (keine Etymologie) |
Dessert | das | [dɛˈseːɐ̯], auch: [dɛˈsɛʁt], [dɛˈsɛːɐ̯], [ˈdɛsɛːʁ] | 17. Jh. |
Biskuit(-) | das oder der | [ˈbɪskvɪt], auch: […ˈkviːt], […ˈkvɪt] | 17. Jh. |
Pain | ---* | --- | --- |
Melange | die | österreichisch
[meˈlɑ̃ːʃ] |
1830 in Wien |
Creme(-)/Crème | die | [kʁeːm], [kʁɛːm] | 1. Hälfte des 19. Jh. |
Gratin | der oder das | [ɡʁaˈtɛ̃ː] | (keine Etymologie) |
Mousse | die | [mus] | (keine Etymologie) |
Likör | der | (keine Lautschrift) | Anfang 18. Jh. |
Nougat19 | der oder das | [ˈnuːɡat] | 19. Jh. |
Pain au chocolat | ---* | --- | --- |
Petit four | das | [pətiˈfuːɐ̯] | --- |
Gelee(-) | das oder der | [ʒeˈleː], auch: [ʒəˈleː] | Anfang 18. Jh. |
Souflee(-)20 | das | [zuˈfleː], auch: [su…] | 19. Jh. |
Tab. 8: Eintragungen des französischen Backwarenwortschatzes in Wiener Bäckereigeschäften nach Fröschl 2017 in Wörterbüchern des Deutschen
Im Duden online ist davon lediglich Melange (vgl. Kapitel 1) als spezifisch österreichisches Wort gekennzeichnet. Die übrigen Wörter sind entweder im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet oder tauchen gar nicht im Wörterbuch auf. Auffällig ist, dass bei zahlreichen verzeichneten Wörtern das Genus und die Aussprache schwanken (vgl. Tab. 8), was dafür spricht, dass in verschiedenen Regionen und/oder sozialen Schichten ein unterschiedlicher Integrationsgrad vorliegt. Hierbei können sich Phonologie, Graphematik und Morphologie verschieden verhalten. So klingt beispielsweise Croissant mit seinem Nasalvokal noch sehr französisch und sieht mit dem Digraph <oi> auch so aus; Komposita wie Butter-Croissant, Laugen-Croissant, Marzipan-Croissant etc. (vgl. Fröschl 2017, 78) zeigen dagegen, dass das Wort bereits Teil des deutschen Wortbildungssystems ist (zumindest bei Komposita). Während die allein bei Le Crobag dokumentierten Ficelle und Pain au Chocolat als Code-Switching und Finlandaise als Neologismus oder Markenname angesehen werden können, sind Jour(-) (in Jour-Gebäck, Jour-Semmel, Jour-Salzstangerl, etc.) und Roulade (im Sinne von ‘(mit Marmelade oder Creme gefüllter) Biskuitrolle’, nicht von ‘Fleisch- oder Kohlroulade’!) so verbreitet, dass sie in das Wörterbuch aufgenommen werden sollten.
Die Diplomarbeit von Fröschl 2017 zeigt, wie eine Untersuchung der Linguistic Landscape es erlaubt, die Verbreitung bekannter Fremd- und Lehnwörter zu quantifizieren und sozialgeographisch zu verorten (in Österreich, aber auch in Wien und seinen Bezirken) sowie neue Fremd- und Lehnwörter zu dokumentieren. Diese können die Datenbasis sein, um zu untersuchen, wie die verschiedenen sprachlichen Ebenen bei der Integration von Entlehnungen zusammenwirken.
3. Methodik
Um den Kenntnisstand zum französischen Einfluss auf das österreichische Deutsch zu aktualisieren, bietet sich eine Untersuchung der Linguistic Landscape an. Ich möchte dies in einer kleinen Pilotstudie zum 8. Bezirk Wiens (Josefstadt) demonstrieren. Dazu stelle ich zunächst einmal kurz den methodischen Ansatz der Linguistic Landscape-Forschung vor (Kapitel 3.1), anschließend die Smartphone-App Lingscape, mit der man die Linguistic Landscape digital kartographieren und annotieren kann (Kapitel 3.2) und schließlich das ausgewählte Untersuchungsfeld: Wien bzw. der Wiener Bezirk Josefstadt (Kapitel 3.3).
3.1. Linguistic Landscape-Forschung
Seit den 1970er Jahren hat sich in der Sprachwissenschaft ein Forschungsfeld herausgebildet, das in den vergangenen zehn Jahren durch die Fortschritte in der digitalen Fototechnik geradezu explodiert ist: die Linguistic Landscape Study (vgl. die Forschungsüberblicke in Backhaus 2007 und Gorter 2013). Dabei umfasst die Linguistic Landscape (dt. Sprachlandschaft, fr. paysage linguistique) nach der vielzitierten Definition von Landry/Bourhis 1997 sämtliche Vorkommen von Schriftlichkeit im öffentlichen Raum:
The language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration. (Landry/Bourhis 1997, 25)
Der Fokus der Linguistic Landscape-Forschung liegt auf der Mehrsprachigkeit in der Stadt, weswegen manche statt von Linguistic Landscape auch von multilingual cityscape sprechen (vgl. u.a. Gorter 2013, Shohamy/Ben-Rafael 2015). Dabei liefert die Linguistic Landscape eine Datenbasis sowohl für sprachsoziologische und -politische als auch für sprachinterne Fragestellungen: In ihr spiegelt sich besonders deutlich das Prestige von Dialekten, Minderheitensprachen, Herkunftssprachen, Fremdsprachen sowie Englisch als lingua franca (vgl. Seidlhofer 2009) wider; dieses konstruiert sie gleichzeitig aber auch mit. Die Sprachen können dabei sowohl eine kommunikative als auch eine symbolische Funktion erfüllen: Beim Französischen ist es in vielen Ländern Europas (und darüber hinaus) ein aus der Werbesprache bekannter „Image-Mix aus Raffinesse, Eleganz und Savoir-vivre“ (Platen 1997, 58; vgl. Kapitel 2.1), der v.a. in den Bereichen Mode, Parfüm und Genuss zum Einsatz kommt und aus der Lehnwortforschung gut bekannt ist (vgl. u.a. Volland 1986, Telling 1987; vgl. Kapitel 2.1). In anderen Kontexten kann das Französische natürlich auch eine andere Rolle spielen, wie etwa die Studien von Blackwood 2010 zu Rennes und Perpignan oder Bosquet-Ballah 2012 zu Mauritius.
Die Linguistic Landscape liefert damit einen neuen Datentyp für die Erforschung des Sprachwandels durch Sprachkontakt insbesondere im Bereich des Lexikons, von der Innovation bis zur Lexikalisierung. Hier finden sich alle Stufen der Lehnwortintegration (vgl. Volland 1986, Thomason 2001, Winter-Froemel 2011, Knospe 2014), vom Code-Switching (z.B. „avec OMA au SPIELPLATZ“; vgl. Kapitel 2.2), über Fremdwörter (z.B. Café, Bouillon, Garage; vgl. Tab. 6), Entlehnungen (z.B. Restaurant; vgl. Kapitel 2.1 und 2.2) und Pseudo-Entlehnungen (z.B. Friseur; vgl. Kapitel 2.2 und 2.3) bis zu Hybridformen (z.B. Briochekipferl; vgl. Kapitel 1, 2.1 und 2.3). Insbesondere für das verschriftlichte österreichische Deutsch, das sich als Unterrichts- und Bildungssprache derzeit immer mehr emanzipiert (vgl. De Cillia/Ransmayr 2014), ist in dieser Hinsicht die Dokumentation noch unzureichend. So führt beispielsweise der Duden online das im Wiener Straßenbild sehr präsente Coiffeur (vgl. Kapitel 2.3) lediglich als „schweizerisch, sonst gehoben“ auf.
3.2. App Lingscape
Methodisch hat die Entwicklung der digitalen Kameratechnik mit wachsenden Speicherkapazitäten die Möglichkeiten der Datensammlung in der Linguistic Landscape enorm verbessert ‒ was entscheidend zur Explosion der Forschungstätigkeit beigetragen hat (vgl. Gorter 2013). Ein zweiter Schub ist nun durch neu entwickelte Linguistic Landscape-Apps wie LinguaSnapp (2015, http://www.linguasnapp.manchester.ac.uk/) und Lingscape (2016, http://lingscape.uni.lu/; vgl. Purschke 2017a, Purschke 2017b) zu erwarten, die GPS-georeferenzierte Bilder von Smartphone-Kameras über das Internet direkt in Datenbanken einspeisen.
Bei der hier verwendeten App Lingscape lassen sich die Bilder Sprachen zuordnen und mit Kommentaren versehen (vgl. Abb. 2b in Kapitel 1). Damit wird insbesondere die Erforschung großer Gebiete und die Exhaustivität anstrebende Erhebung einzelner Straßen oder Straßenabschnitte deutlich erleichtert. Die App-Nutzer*innen erhalten durch den unmittelbaren Eintrag in die sowohl in der App als auch im Internet sichtbare Karte ein direktes Feedback zu ihrem Crowdsourcing-Beitrag und können dieses per Facebook und Twitter mit ihren Freunden teilen (ungeeignetes Material wird so schnell wie möglich von den Moderator*innen der App wieder gelöscht, z.B. Fotos von Personen). Die Lingscape-App speist die erhobenen Daten in eine Datenbank ein, die im Anschluss über eine automatisierte Bildanalyse und Texterkennung geostatistische und linguistische Analysen ermöglicht. Die App (kostenlos für iOs und Android) ist seit September 2016 in den Google- und Apple-App Stores verfügbar und anonym21 nutzbar können).
3.3. Untersuchungsfeld: Wien
Für die Untersuchung des Sprachkontakts in der Linguistic Landscape bieten kosmopolite Städte wie Wien ein ideales Feld (vgl. z.B. Calvet 1990 zu Paris, Backhaus 2007 zu Tokyo, Papen 2012 zu Berlin). Durch den Sitz internationaler Organisationen (UNO, OSZE) mit auch Französisch als Arbeitssprache und dem Lycée22 als renommierter Bildungseinrichtung auch für internationale und österreichische Schüler*innen, lässt sich vermuten, dass neben dem Englischen als lingua franca auch das Französische hier besonders präsent ist.
Sprachwissenschaftliche Untersuchungen der Wiener Linguistic Landscape gab es vor Beginn meiner Erhebungen 2016 noch kaum. Englisch in Wien war in zwei kleineren internationalen Studien im Vergleich mit anderen Städten nur mitbehandelt worden (vgl. Scollon/Scollon 2003, Schlick 2003). Im laufenden FWF-Projekt ELLViA (English in the Linguistic Landscape of Vienna, Austria) hatte Barbara Soukup mit ihren Mitarbeiter*innen von April bis September 2015 (quasi-)exhaustiv in sechs Bezirken jeweils zwei Straßenabschnitte von 200 Metern im Hinblick auf den Gebrauch des Englischen dokumentiert (vgl. Soukup 2016, Soukup 2020). Zum Italienischen existieren die Untersuchungen von Ille 2009 und Ille/Vetter 2010. Zum Französischen in Wien liegt dagegen bislang nur die Diplomarbeit von Fröschl 2017 mit dem Fokus auf den Namen von Friseurgeschäften und dem Wortschatz in Bäckereien vor (vgl. Kapitel 2.3).
Mit Verbreitung der Lingscape-App und mehreren Lehr- und Forschungsaufenthalten von Christoph Purschke in Wien ist Wien mittlerweile zur „Stadt mit den meisten hochgeladenen Fotos“ geworden (vgl. Purschke im Druck a). Mit der App Lingscape wurden in Wien per Crowdsourcing bislang über 3 000 Fotos hochgeladen. Bevor ich am 18.07.2019 meine eigenen Fotos hochgeladen hatte, ließen sich jedoch nur 25 speziell französische Wörter über die Website https://lingscape.uni.lu herausfiltern (dafür ca. 1 700 deutsche, 250 englische und 387 deutsch/englische), davon nur 8 in der Josefstadt (6 in der Josefstädter Straße). Der aktuelle Stand sind 26 rein französische Items und 83 Items mit Französisch (vgl. Purschke im Druck a, Purschke im Druck b und Kapitel 3.4) – noch ohne das hier präsentierte Projekt. Diese französischen Items wurden bislang noch nicht analysiert.
Der 8. Bezirk Josefstadt hat sich in Fröschl 2017 mit Blick auf die Verbreitung der Bezeichnung Coiffeur als besonders französisch beeinflusst erwiesen, obwohl es sich weder um die touristische Innere Stadt (1. Bezirk) noch um das Viertel um die französische Schule im Alsergrund (9. Bezirk) handelt. Damit sind hier zum einen besonders viele Gallizismen in der Linguistic Landscape zu erwarten (was ein vergleichender linguistischer Spaziergang durch den benachbarten 16. Bezirk Ottakring bestätigt hat). Zum anderen erklären sich diese nicht durch die kommunikative Funktion, um L1-Sprecher*innen des Französischen anzusprechen, sondern durch die symbolische Funktion.
3.4. Dokumentationsprozess
Bei zwei linguistischen Spaziergängen durch den 8. Bezirk Josefstadt am 10.09.2016 und am 18.07.2019 habe ich auf insgesamt 77 Fotos 117 französische Wörter und Konstruktionen dokumentiert, die ich in Kapitel 4 analysieren möchte.23 Diese 117 token entsprechend 94 types, da einige token mehrfach vorkommen: 7x CAFE/CAFÉ/Café/Cafe, 4x BOUTIQUE, 2x Confiserie etc. (vgl. Tab. 9).
Grundlage ist meine persönliche Wahrnehmung und Einschätzung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Diese wäre aus forschungsökonomischen Gründen im Fall des Französischen in Wien auch schwer durchführbar. Während Barbara Soukup in ihrem FWF-Projekt English in the linguistic landscape of Vienna, Austria (ELLViA) ausgewählte Straßenabschnitte exhaustiv dokumentiert hat, ist dies bei einem Interesse allein am Französischen nicht sinnvoll, da weniger als 1% der öffentlichen Schrift in Wien auf Französisch ist (vgl. Tab. 9).
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über den Anteil des Französischen sowie anderer Sprachen in der Wiener Linguistic Landscape, wie Barbara Soukup sie in ihrem Projekt ELLViA dokumentiert hat (bislang noch unveröffentlichte Ergebnisse). Die Tabelle liefert die Daten zum einen für das Projekt insgesamt (Wien) sowie gesondert für den in diesem Artikel behandelten Bezirk Josefstadt. Sie zeigt, dass Deutsch die mit Abstand am häufigsten auftretende Sprache ist (39% wienweit), Englisch mit einer halb so hohen Frequenz (19%) aber ebenfalls sehr verbreitet ist. Die übrigen Sprachen bleiben mit gemeinsam nur 3,6% sehr weit dahinter zurück. Nur 1% der ausgewerteten Items des ELLViA-Projekts enthalten französische Ausdrücke (94/10 381), nur 0,3% sind ausschließlich französisch (n = 26). In der Josefstadt (Josefstädter Straße und Stolzenthalergasse) enthält das ELLViA-Projekt lediglich 11 Items mit französischem Text, davon nur drei mit rein französischem Text (in allen drei Fällen Zigarettentasten an demselben Automaten: 2x Gauloises blondes, 1x Parisiennes). Dagegen liegen der Studie hier 77 Fotos zugrunde (s.o.).
Deutsch (+/-andere Sprachen) | Englisch (+/-andere Sprachen) | anderen Sprachen (auch in Kombination, ohne Französisch) | Französisch (+/-andere Sprachen) | ausschließlich Französisch | |
Wien | 39% | 19% | 3,6% | 1% (n = 94) | 0,3% (n = 26) |
Josefstadt | 40% | 21% | 5% | 1% (n = 11) | 0,1% (n = 3) |
Tab. 9: Sprachen in den dokumentierten Items des Projekts ELLViA von April bis September 2015 (Daten: Barbara Soukup)2425
Dieser Vergleich zeigt, dass für eine Untersuchung des Französischen eine gezielte Suche in einem größeren Bereich notwendig ist. Diese hat gegenüber einer exhaustiven Dokumentation jedoch stets den Nachteil, dass sie durch die subjektive Wahrnehmung der dokumentierenden Personen gefiltert wird. Daher spricht Purschke (Purschke im Druck a) in Bezug auf die Lingscape-App auch von Crowdscapes:
Gegenüber klassischen Studien zu linguistic landscapes führt die Anlage des Projekts zu einem Bild sprachlicher Landschaften, in dem viele individuelle Perspektiven auf Sprache in der Öffentlichkeit verschmelzen; die Datenstruktur allerdings ist relativ heterogen, weil die gesammelten Bilder von den persönlichen Vorlieben oder projektbezogenen Entscheidungen der Teilnehmer.innen abhängen. Um dabei den Umstand zu reflektieren, dass die Datenbasis kein wirklichkeitsgetreues Abbild einer gegebenen Sprachlandschaft darstellt, werden diese kollaborativen Rekonstruktionen sprachlicher Landschaften im Rahmen des Projekts als Crowdscapes bezeichnet ((Purschke im Druck a))
Tab. 10 gibt den Stand der Lingscape-Datenbank zum 1. August 2019 wieder (Tab. 10). Hier finden sich 26 rein französische Items und insgesamt 83 Items, auf denen auch Französisch zu sehen ist. Die Items des vorliegenden Projekts waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich zugänglich.
Sprachen pro Bild | Deutsch | Englisch | Französisch | Italienisch | Total (x-sprachiger Bilder) |
1 | 1546 (81,9%) | 226 (12%) | 26 (1,4%) | 20 (1,1%) | 1818 (96,4%) |
2 | 484 (94,7%) | 372 (72,8%) | 30 (5,9%) | 34 (6,7%) | 460 (90%) |
3 | 60 (93,8%) | 52 (81,3%) | 22 (34,4%) | 14 (21,9%) | 49 (77,1%) |
4 | 7 (77,8%) | 7 (77,8%) | 5 (55,6%) | 5 (55,6%) | 6 (66,7%) |
Total | 2097 (84,8%) | 657 (26,6%) | 83 (3,4%) | 73 (3%) | 2333 (94,4%) |
Tab. 10: Sprachen in den dokumentierten Items mit der Lingscape-App (Stand: August 2019; Purschke im Druck a, Purschke im Druck b)
Daher wäre es ein Desiderat für künftige Forschungen zu Fremdsprachen, dieselbe Linguistic Landscape durch unterschiedliche Personen dokumentieren zu lassen. Insbesondere wäre es wichtig, die Wahrnehmung von Personen mit unterschiedlichen sprachlichen Profilen (L1 Französisch mit/ohne Deutschkenntnisse, L1 Wienerisches Deutsch mit/ohne Französischkenntnisse, L1 andere deutsche Varietäten, bilinguale Sprecher*innen etc.) zu kontrastieren, denn auf dem Kontinuum zwischen Fremdwort und Lehnwort hängt auch vom sozialen Milieu und den Fremdsprachenkenntnissen der Sprecher*innen ab, was als „französisch“ klassifiziert wird.
Die Fotobelege für alle Wörter finden sich auf der Website unter dem Projekt „Französisch in Wien“ (Kurzname: Francoviennois). Dieses ist von der Publikation dieses Artikels an open access zugänglich und kann weiter ausgewertet und ergänzt werden. Die einzelnen Fotos enthalten im Kommentar-Feld eine Transkription der französischen Wörter und Konstruktionen; nicht berücksichtigt sind dabei Aufschriften in anderen Sprachen, Eigennamen etc. (z.B. nur <CONFISERIE> und nicht <CONFISERIE TORTENBÖRSE> oder nur <La Grèce> und nicht <La Grèce GRIECHISCHE SPEZIALITÄTEN). Zusätzlich sind sie für alle Sprachen, die auf dem Foto vorkommen, getaggt (z.B. FRA für Französisch, DEU für Deutsch etc.; vgl. Abb. 6). Man kann mit der Lingscape-App Fotos, Kommentare und Tags direkt mit dem Smartphone hochladen; Projektleiter*innen können diese zusätzlich im Nachhinein am Computer ergänzen.
Mitmachen!
Wer am Lingscape-Projekt „Französisch in Wien (Francoviennois)“ mitmachen möchte, kann an die Projektleiterin Elissa Pustka eine Mail schicken (elissa.pustka@univie.ac.at) und erhält dann ein Passwort. Dieses muss man nur in den Einstellungen der App eingeben und dann kann es losgehen: fotografieren, kommentieren, taggen! |
Die geographische Verteilung der Daten lässt sich auf einer dynamischen Landkarte darstellen (vgl. Abb. 7). Hier sieht man, dass die meisten französischen Items von den beiden Einkaufsstraßen Josefstädter Straße und Lerchenfelder Straße stammen, die vom Zentrum (Ring um den 1. Bezirk) zum Gürtel in Richtung periphere Bezirke führen.
Abb. 7: Dynamische Karte des Projekts „Französisch in Wien“ auf der Lingscape-Website
3.5. Korpus
Die im Kommentarfeld vermerkten französischen Wörter und Konstruktionen sind in Tab. 11 alphabetisch aufgelistet. Die Zahl in Klammern gibt an, dass dasselbe Wort bzw. dieselbe Konstruktion auf mehreren Fotos dokumentiert ist (z.B. (19) BOUTIQUE: 4x). Die Groß- und Kleinschreibung wird originalgetreu widergegeben (z.B. (22) CAFÉ vs. (23) Cafe).
(1) 12 cubes
(2) A LA CARTE (3) A' LA CARTE (4) ACCESSOIRES (5) AIGLE DEPUIS 1853 mes premières bottes (6) Apropos (7) ART DECO (8) Art en Noir Art deco (9) ATELIER (10) Bukette (11) Baguette Flaguette Brie (12) Bijouterie (2x) (13) Bistro Melangerie Caffeterie (14) BISTROT MOULES FRITES NOIX DE ST. JACQUES POISSONS (15) BISTROT VIANDES (16) BLANC IVOIRE Framboise Chocolat blanc aux pépites de framboises (17) LAIT Perles craquantes Chocolat au lait aux notes de caramel et perles croquantes GRAND CRU (18) BONJOUR Vienne CAFÉ & GOURMET (19) BOUTIQUE (4x) (20) Brioche-Kipferl (21) CAFE (3x) (22) ELTERN-KIND-CAFÉ (23) Cafe La Vie en Rose (24) CAFE RESTAURANT |
(25) Cafesalon Restaurant
(26) Château Briand Sauce Béarnaise Lammcarrée (27) CHOCOLATIER CACAO POUDRE PLANTATION MAÎTRE CHOCOLATIER (28) CLINIQUE Savon visage liquide doux Lotion clarifiante Emulsion hydratante tellement différente (29) COIFFEUR (30) Coiffeur Coiffeur COIFFEUR (31) Confiserie (2x) (32) CONFISERIE (33) Cuvée, Rosé (34) Désolé - nous sommes FERMÉ (35) DESSERT Créme-Brûlée Baiser-Haube (36) DESSOUS (37) EN GROS EN DETAIL (38) FAÇON PARIS prêt-à-porter (39) Filet von der Dorade, gebraten auf Ratatouille, Bouillabaise-Schaum Cremespinat Sous vide gegart (40) Friseur (41) Friseur Chez Feth (42) GALERIE (2x) (43) Gourmet (2x) (44) HUTSALON |
(45) JEAN
(46) La fille du régiment (47) LA FLAMMERIE (48) La Grèce (49) La Trouvaille (50) LAIT RITUAL LAIT CORP .ANTIDESSECHANT (51) LE PARFUM Le Parfum (52) MAITRE CAOUTCHOUTIER AIGLE DEPUIS 1853 (53) MASSAGE (54) Melange (55) Monsieur Claude und seine Töchter (56) Moulin à légumes Bon appétit (57) NOBLESSE OBLIGE (58) Nougat (59) Palais (60) PETIT (61) Plissée Roulieren (62) PROFESSIONNEL (63) Puzzle géant La parade des contes (64) QUAI SUD FRANCE Ingrédients: cacao*en poudre 50%, sucre* de canne, arôme naturel goût vanille 3,1/. *issus de l’agriculture biologique. Poids net: 500g CACAO AROMATISÉ Cacao vanille bio (65) Salon (66) SB-Foyer (67) SOUTERRAIN Atelier (68) SOUVENIRS |
Tab. 11: Französische Items auf den Fotos
4. Ergebnisse
Wie in Kapitel 2.2 ausführlich beschrieben, existiert ein Kontinuum des Integrationsgrads, vom Code-Switching über Fremdwörter bis hin zu Lehnwörtern, die von den Sprecher*innen z.T. gar nicht mehr als solche erkannt werden (z.B. Abenteuer). Um zu entscheiden, welcher Kategorie ein Item zugeordnet werden soll, gibt es methodisch drei Möglichkeiten:
- Orientierung an normativen Werken, d.h. Erscheinen und Klassifizierung in Wörterbüchern (z.B. Duden online)
- Sprachinterne Analyse: Graphematik (z.B. Präsenz französischer/deutscher Diakritika), Morphologie (z.B. Verwendung in Komposita), Syntax (z.B. Wahl des Artikels), evtl. auch Semantik (Zugehörigkeit zu typischen Quelldomänen)
- Perzeptive empirische Forschung: Klassifikation durch verschiedene Gruppen von Sprecher*innen (mit verschiedenen Deutsch- und Französischkenntnissen)
Ich gebe im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über die Präsenz bzw. Absenz sowie die Markierung der Ausdrücke im Duden online (vgl. Tab. 12). Im Anschluss nehme ich eine sprachinterne Analyse vor. Eine perzeptive Studie zur Ergänzung bleibt ein Desiderat für die künftige Forschung.
Der Duden online notiert bei fast allen verzeichneten Wörtern unter „Herkunft“ „französisch“. Bei Galerie ist die Herkunftsangabe „italienisch“, bei Brie, Rosé und Parfum gibt er keine Herkunft an. Dagegen fehlt die Information, dass es sich bei Friseur und Baiser um Pseudo-Französismen handelt (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3). Die Übersicht in Tab. 12 ist nach der geographischen, stilistischen und sozialen Markierung im Duden online geordnet. Während Melange explizit als österreichisch sowie Bijouterie, Coiffeur und Confiserie v.a. als schweizerisch markiert sind, lässt die fehlende Markierung der übrigen Ausdrücke auf eine Verbreitung im gesamten deutschen Sprachraum schließen. In einigen Fällen ist daneben auch eine „süddeutsche“ Aussprache vermerkt (z.B. Salon „[zaˈlɔ̃ː], auch: [zaˈlɔŋ], süddeutsch, österreichisch: [zaˈloːn]“). Als „bildungssprachlich“ markiert sind apropos, Trouvaille sowie noblesse oblige („bildungssprachlich, oft scherzhaft“), bei Coiffeur neben „schweizerisch“ auch „gehoben“). Ferner sind einige Wörter als fachsprachlich markiert: Cuvée („Winzersprache“) und en gros („Kaufmannsprache“). En détail kann sowohl „Kaufmannsprache“ als auch „bildungssprachlich“ sein. Die Wörter der Kategorien „bildungssprachlich“ und „fachsprachlich“ sind – wenn nicht anders vermerkt – gesamtdeutsch verbreitet.
gesamtdeutsch | österreichisch | schweizerisch | bildungssprachlich | fachsprachlich |
Accessoire, à la carte, Art déco, Atelier, Bukette, Baguette, Baiser, Bistro, Bouillabaise, Boutique, Brie, Brioche, Café, Chateaubriand, Chocolatier, Creme26, Crème brulée, Dessert, Dessous, Dorade, Foyer, Friseur, Galerie, Gourmet, Karree, Nougat, Palais, Parfum, Plissee, prêt-à-porter, Ratatouille, Restaurant, roulieren, Salon, Sauce béarnaise, Souterrain, Souvenir | Melange27 | Bijouterie („schweizerisch, sonst veraltet“), Confiserie („besonders schweizerisch“) | apropos, Trouvaille, noblesse oblige | Cuvée („Winzer-sprache“), en gros („Kaufmann-sprache“) |
en détail | ||||
Coiffeur („schweizerisch, sonst gehoben“) |
Tab. 12: Vorkommen der dokumentierten Ausdrücke im Duden online
Insgesamt sind damit 67 der 117 dokumentierten Wörter und Konstruktionen – ganz oder in Teilen (Komposita; vgl. Kapitel 4.3) im Duden online verzeichnet. Dagegen finden sich eine Vielzahl rein französischer Ausdrücke auf einer Reihe von Beschriftungen französischer Produktpackungen in Schaufenstern (vgl. z.B. Abb. 7a und Kapitel 4.4). Daneben habe ich auch eine (fast) ausschließlich französische Speisekarte (vgl. Abb. 7b) eines Bistros fotografiert, das sich auf seiner Website „French RESTAURANT & BAR“ nennt (https://www.flatschers.at) sowie den Titel eines Theaterstücks <La fille du régiment> (vgl. ebenfalls Kapitel 4.4). Die anschließende sprachwissenschaftliche Analyse zeigt, warum eine einfache Zweiteilung in (im Duden online verzeichnete) Lehnwörter und (sonstige) Code-Switchings jedoch nicht ausreicht.
4.1. Semantik
Die Analyse beginnt mit einem kurzen Überblick über die semantischen Domänen, denen die dokumentierten Wörter und Konstruktionen zugeordnet werden können (vgl. Tab 13). Entsprechend dem Stand der Forschung (vgl. Kapitel 2) handelt es sich größtenteils um „Essen und Gastronomie“ (51 Items) sowie „Schönheit und Mode“ (27 Items). Von den sonstigen 35 Items stammen 11 aus dem Bereich „Kunst und Architektur“. Bei den „sonstigen“ handelt es sich in vielen Fällen um französische Packungsaufschriften französischer Produkte in Schaufenstern.
Semantische Domäne | Anzahl | Beispiele |
Essen und Gastronomie | 51 | (15) BISTROT VIANDES, (20) Brioche-Kipferl, (58) Nougat etc. |
Schönheit und Mode | 27 | (19) BOUTIQUE, (29) COIFFEUR, (44) HUTSALON etc. |
Kunst und Architektur | 11 | (7) ART DECO, (42) GALERIE, (67) SOUTERRAIN, (67) Atelier etc. |
sonstiges | 24 | (63) Puzzle géant. La parade des contes, (68) SOUVENIRS etc. |
Tab. 13: Semantische Domänen der französischen Wörter in der Linguistic Landscape der Josefstadt
4.2. Graphie
Bei der Graphie ist es bekanntermaßen so, dass Substantive im Deutschen groß, im Französischen dagegen klein geschrieben werden. Dies macht sich bei den im Duden online dokumentierten Lehnwörtern (vgl. Tab. 12) bei fast sämtlichen Substantiven bemerkbar (z.B. <Filet von der Dorade> oder <gebraten auf Ratatouille>), auch in Komposita (<SB-Foyer>). Eine Ausnahme ist prêt-à-porter, was sich damit erklären lässt, dass es sich um ein Kompositum aus Adjektiv, Präposition und Verb handelt. Im vorliegenden Linguistic Landscape-Korpus fällt auf, dass die Großschreibung aber auch Substantive betrifft, denen ein französischer Artikel vorausgeht, was für ein Code-Switching in eine komplett französische Nominalphrase und gegen ein Lehnwort spricht: Zitat des Liedtitels <La Vie en Rose>, <Le Parfum> und <La Trouvaille> (vgl. Kapitel 4.4). Möglicherweise geschieht diese Großschreibung in Titeln bzw. den Namen von Geschäften in Anlehnung an eine entsprechende Konvention im Englischen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass einige französische Adjektive großgeschrieben sind: im Liedtitel <La Vie en Rose> (s.o.) und in <Sauce Béarnaise> (im Gegensatz zur Schreibung im Duden online; s.o.). In einem Fall stehen zwei großgeschriebene Wörter statt ein einziges: <Château Briand> statt Chateaubriand ‘gebratene oder gegrillte dicke Rinderlendenschnitte’, nach dem französischen Schriftsteller François René Vicomte de Chateaubriand (Duden online). Hier handelt es sich ganz offensichtlich um eine Reanalyse zu fr. château ‘Schloss’ und dem Eigennamen Briand. Die Mehrzahl der Wörter kann in Bezug auf Groß- und Kleinschreibung allerdings nicht analysiert werden, da entweder das gesamte Wort großgeschrieben ist oder die Wörter alleinstehen und zu Beginn immer auch die Großschreibung erlaubt ist.
Bekanntermaßen gehen bei der Lehnwortintegration häufig auch die nur im Französischen Graphie-System existierenden Akzente verloren (z.B. <Melange> vs. fr. mélange, dt. Creme in <Cremespinat> vs. fr. crème). In der Linguistic Landscape Wiens betrifft dieses Phänomen aber auch Wörter, die im Deutschen laut Duden online eigentlich schon einen Akzent tragen: <Art deco> statt dt. Art déco bzw. fr. art déco und <Cafe> statt dt. Café bzw. fr. café (auch im Kompositum <Cafesalon>) – neben den ebenfalls dokumentierten Schreibvarianten <CAFÉ> und <Café>. In einem Fall steht ein falscher Akzent, nämlich ein accent aigu statt ein accent grave in <Créme-Brûlée>. Für das entsprechende deutsche Lehnwort notiert der Duden online zwei Graphievarianten: dt. <Crème brulée> „allgemeinsprachlich“ sowie <Crème brûlée> „fachsprachlich“ – mit zusätzlichem accent circonflexe wie in fr. crème brûlée (aber im Gegensatz zum Original mit Großschreibung von Crème). Interessanterweise fehlt der accent circonflexe im dokumentierten Beispiel nicht. In diesem Item ist auch ein Bindestrich ergänzt, der weder im französischen Original noch in der Norm-Orthographie des deutschen Lehnworts enthalten ist. Ein weiteres Beispiel für einen Fehler bei der Akzentsetzung liefert das Item < A' LA CARTE>, wo wir ein (möglicherweise ebenfalls französisch wirkendes) Apostroph an Stelle eines Akzents finden.
Ferner ist auch die Zusammen- und Getrenntschreibung bei der Entlehnung vom Französischen ins Deutsche betroffen, wie das bereits erwähnte <Château Briand> statt Chateaubriand oder auch das dudenkonforme Beispiel <Apropos> vs. fr. à propos zeigt. Auffällig ist schließlich, dass bei einer ganzen Reihe von Items dagegen gerade nicht die ebenfalls mögliche eingedeutschte Graphievariante gewählt wurde, z.B. (die vom Duden online empfohlene Variante) <Friseur> und nicht (die laut Duden online „[a]lternative Schreibung“) <Frisör>, <Confiserie> und nicht (das laut Duden online „seltenere“) Konfiserie, <Sauce> und nicht Soße, <Nougat> und nicht Nugat, <Bukette> und nicht Bouquet (Duden online).
Einen besonders komplexen Fall stellt das Item <Lammcarrée> dar: Im Gegensatz zum im Duden online verzeichneten <Karree> wirkt es durch das <c> an Stelle des eingedeutschten <k> sowie den accent aigu französischer; im Gegensatz zum französischen Original fr. carré enthält es aber das finale <e> wie in dt. Karree (Duden online). Das letztere Phänomen findet sich auch bei der Schreibung <Plisée> statt dt. Plissee (Duden online) bzw. fr. plissé.
4.3. Morphologie
Im Bereich der Morphologie können sowohl die Verwendung bei der Wortbildung als auch die Spezifika der Flexion Indizien für den Grad der Integration eines dokumentierten Morphems aus dem Französischen in die deutsche Sprache liefern. Im Bereich der Wortbildung finden sich sowohl Beispiele für Komposita als auch für Derivationen. Der geringste Grad an Integration ist nötig, damit ein Morphem zur Bildung von Komposita beitragen kann, insbesondere wenn deren beiden Komponenten mit einem Bindestrich voneinander abgetrennt und damit noch gut die Einzelwörter erkennbar sind: Baiser-Haube, Bouillabaisse-Schaum, Brioche-Kipferl, ELTERN-KIND-CAFÉ und SB-Foyer. Eine bereits etwas stärkere Integration suggerieren Komposita ohne Bindestrich: Cafesalon (bestehend aus gleich zwei französischen Morphemen: Café und Salon), HUTSALON, Cremespinat und Lammcarrée.
Ebenfalls eine stärkere Integration suggeriert die Verwendung in Derivaten: Eine solche findet sich im Name eines Cafés namens Melangerie – eine kreative Neuschöpfung aus den beiden ursprünglich französischen Elementen Melange und -ie (die aber beide bereits ins Deutsche eingegangen sind). Das Suffix -ie taucht auch in Kombination mit it. caffè in Caffeterie in demselben Café-Namen auf – eine hybride ad hoc-Wortschöpfung an Stelle des Lehnworts Cafeteria, das laut Duden online aus dem amerikanischen Englisch stammt. Interessanterweise enthält die Speisekarte dieses Cafés wenig wirklich Französisches, aber ein paar interessante kulinarische Hybride wie „BAGUETTE NIÇOISE“ (angelehnt an die berühmte salade niçoise) und „BAGUETTE LORRAINE“ (angelehnt an die nicht weniger für französische Küche stehende quiche lorraine).
Dokumentiert ist selbstverständlich auch der im Deutschen übliche Pseudo-Französismus Friseur (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3). <Roulieren> dagegen entpuppt sich als „veraltet[es]“ deutsches Lehnwort aus rouler und französisch -ieren (Duden online). Die Herkunft des offensichtlichen Neologismus <Flaguette> schließlich ist unklar: laut Nestlé Schöller Backwaren handelt es sich dabei um eine „Mischung aus Fladenbrot und Baguette“ (https://www.food-service.de/industrie/produktnewsfood/Flaguettes--neues-Gastro-Snack-Produkt-34866). Ob es sich um einen Neologismus des Deutschen oder des Französischen handelt, müssen weitere Recherchen zeigen.
Neben der Wortbildung liefert auch die Flexion hilfreiche Hinweise auf den Grad der Lehnwortintegration. So taucht beispielsweise <SOUVENIRS> mit dem für das Französische sowie Fremdwörter im Deutschen typische Plural-Suffix -s auf, <Bukette> dagegen mit dem für das Deutsche typischeren Suffix -e (was auch im Duden online so vermerkt ist). Hierzu passt auf dem Niveau der Graphie, dass im Wort Buket die französischen Grapheme <ou> zu <u> und <qu> zu <k> eingedeutscht wurden (vgl. fr. bouquet), in Souvenir dagegen <ou> erhalten ist (vgl. fr. souvenir). Auffällig ist schließlich, dass <Jean> und nicht dt./engl. Jeans im Schaufenster eines französischen Modegeschäfts steht. Ich hatte dies zunächst als eine Interferenz eines/r französischen/r L1-Sprechers/in interpretiert; ein Blick in den Duden online zeigt aber, dass die Singular-Verwendung dort als ‘österreichisch’ aufgeführt ist.
4.4. Syntax
Auch wenn sich Sprachproduktionsdaten aus der Linguistic Landscape aufgrund ihrer Kürze nur in gewissen Grenzen syntaktisch untersuchen lassen, so liefert die Ebene der Syntax in einigen Fällen dennoch weitere Argumente für die Klassifikation als Lehnwort oder Code-Switching. Der erste Typ, der sich in dem dokumentierten Material findet, sind Nominalphrasen aus französischem Artikel und französischem Substantiv, als Namen der Geschäfte <La Grèce> und <La Trouvaille> sowie in einer Werbung mit <LE PARFUM Le Parfum> vor. Da der französische bestimmte Artikel den Wörtern Trouvaille und Parfum vorangestellt ist, würde ich die Wörter in diesem Kontext nicht als Lehnwörter einordnen, obwohl diese im Duden online verzeichnet sind, sondern die kompletten Nominalphrasen als Code-Switching ins Französische interpretieren. Einen etwas komplexeren Fall stellt der <Friseur Chez Feth> dar, da Friseur eindeutig ein deutscher Pseudo-Französismus ist, die Präpositionalphrase mit chez dagegen als französisch einzuordnen ist. Daneben ließe sich möglicherweise auch <sous vide gegart> als Code-Switching klassifizieren, da sous vide keinen Wörterbucheintrag im Duden online hat. Hier sind Unterschiede zwischen verschiedenen Sprecher*innen-Gruppen in Produktion und Perzeption denkbar: Da es sich um einen Ausdruck der stark vom Französischen beeinflussten Fachsprache der Gastronomie handelt, könnte es sich für das Fachpersonal, das die Speisekarte geschrieben hat, um ein Lehnwort handeln. Bei den potentiellen Leser*innen der Speisekarte könnte man wiederum unterscheiden: Während es für kulinarisch besonders gebildete Leser*innen möglicherweise ein Lehnwort ist, ist es für übrige Passanten wohl eher ein Code-Switching.
Im Falle von <prêt-à-porter (feminin)28> findet sich im Duden online Prêt-à-porter, also ein groß geschriebenes Substantiv im Sinne von ‘Konfektionskleidung nach dem Entwurf von Modeschöpfer[inne]n’. Die sprachinternen Kriterien Kleinschreibung und Ergänzung durch das Adjektiv feminin sprechen hier für ein Code-Switching. Sprachextern wird diese Analyse dadurch bekräftigt, dass es sich um ein explizit französisches Modegeschäft mit dem Namen FAÇON PARIS handelt, das auch auf seiner Website damit wirbt „Ein Stück Paris Mitten im Achten“ zu sein (http://www.facon-paris.at/uber-uns). Auffällig ist allerdings, dass das Adjektiv feminin auf der Markise des Ladens ohne den im Französischen obligatorischen accent aigu (<féminin>) geschrieben wird, der auf der Website aber korrekt auftaucht.
Zum Abschluss könnte man analog zu einem Code-Switching in einer Lautkette oder einem Text auch von einer Art Code-Switching im Sehfeld (und entsprechend einer zweidimensionalen Syntax) sprechen, wenn beispielsweise eine komplette Produktpackung (hauptsächlich) in Französisch beschriftet ist, da es sich um ein importiertes Produkt handelt, das sich nicht an den deutschsprachigen Markt wendet. Da solche Produktpackungen in Schaufenstern von Geschäften ausgestellt sind, gehören sie zur Linguistic Landscape. Mein Korpus enthält eine Reihe solcher Beispiele, die in Tab. 14 aufgelistet sind. Entsprechend den bekannten semantischen Quelldomänen „Essen und Gastronomie“ sowie „Schönheit und Mode“ findet sich darunter ein Schokoladengeschäft sowie eine Drogerie/Apotheke und ein Regenmantel- und Gummistiefelgeschäft, daneben auch ein Spielwarengeschäft. In den jeweiligen Schaufenstern hätte man noch einige weitere Items ähnlicher Art fotografieren können. Daneben ist die Packung eines Passiergeräts in einem Haushaltswarengeschäft in zahlreichen Sprachen beschriftet, u.a. auch Französisch. Schließlich hat ein Geschäft mit vielen französischen Produkten (Seife aus Marseille etc.) ein französisches „Geschlossen“-Schild (mit dem Logo der französischen Warenhauskette Tati): „Désolé - nous sommes fermé“. Die fehlende Kongruenz zwischen nous (Pronomen der 1. Person Plural) und dem Adjektiv Désolé bzw. dem Partizip fermé (beide ohne finales Plural-<s>) findet sich öfters auf entsprechenden Schildern. Ein weiterer Fall ist der Titel des Theaterstücks „La fille du régiment“ im Schaufenster eines Ticketverkaufs (s.o.).
Kontext | Beschriftung |
Schokoladenpackung im Schaufenster eines Schokoladengeschäfts | BLANC
IVOIRE Framboise Chocolat blanc aux pépites de framboises LAIT Perles craquantes Chocolat au lait aux notes de caramel et perles croquantes GRAND CRU |
CHOCOLATIER
CACAO POUDRE PLANTATION MAÎTRE CHOCOLATIER Agriculture non UE |
|
Werbung im Schaufenster einer Drogerie/Apotheke | CLINIQUE
Savon visage liquide doux Lotion clarifiante Emulsion hydratante tellement différente |
LAIT RITUAL LAIT CORP .ANTIDESSECHANT | |
Schaufenster eines Regenmantel- und Gummistiefelgeschäfts | AIGLE DEPUIS 1853 mes premières bottes |
MAITRE CAOUTCHOUTIER AIGLE DEPUIS 1853 | |
Schaufenster eines Spielwarengeschäfts | Puzzle géant La parade des contes |
Schaufenster eines Haushaltswarengeschäfts | Moulin à légumes Bon appétit |
„geschlossen“-Schild im Schaufester eines Geschäfts mit vielen französischen Produkten | Désolé - nous sommes fermé |
Schaufenster eines Ticketverkaufs | „La fille du régiment“ |
Tab. 14: Komplett französische Elemente in Schaufenstern
5. Didaktischer Ausblick
Als Fremdsprachenforschung ‘direkt vor der Haustür’ mit attraktiven Smartphone-Apps wie Lingscape lässt sich die Linguistic Landscape-Forschung sehr gut einsetzen, um die Gesellschaft an der Produktion von Forschungsergebnissen teilhaben zu lassen (Citizen Science) und eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aufzubauen (Third Mission). Dabei ergibt sich für die beteiligten institutionell angebundenen Wissenschaftler*innen der Vorteil, mit Hilfe einer großen Anzahl von Hobby-Wissenschaftler*innen große Datenmengen anzusammeln (Crowdsourcing), die vom Personalaufwand ansonsten auch kaum finanzierbar wären.
Eine besondere Chance ergibt sich hier für die Zusammenarbeit mit Schulen und Schüler*innen (vgl. u.a. Chesnut/Lee/Schulte 2013, Chern/Dooley 2014 zum Englischen sowie Landry/Bourhis 1997, Dagenais 2009 zum bilingualen englisch/französischen Kontext in Kanada), speziell mit der Lingscape-App (vgl. Purschke 2018). Dies kann sowohl im Rahmen von Kooperationsprojekten mit Schulen geschehen als auch in zwischen Universität und Schule ko-betreuten Facharbeiten oder Seminararbeiten (Deutschland) bzw. Vorwissenschaftlichen Arbeiten (Österreich) oder auch an Projekttagen, bei Kinderunis etc. Anschließend lassen sich die dokumentierten Items gemeinsam analysieren.
An der Universität Wien haben wir dies im Herbst 2018 ausprobiert (nur mit der Fotofunktion der Smartphones, ohne die Lingscape-App). Anlass war ein CampusKids-Workshop im Rahmen des „20 Jahre Campus“-Jubiläums mit insgesamt über 120 Schüler*innen der 7. und 8. Klasse (in Österreich 3. und 4. Klasse), d.h. zwischen 12 und 14 Jahren. Die Schüler*innen hatten großen Spaß dabei, ca. 30-45 Minuten in kleinen Gruppen als ‘Sprachdetektive’ (Sayer 2010, 144) auf ‘Kamerasafari’ (Hancock 2012, 255) zu gehen. Ein umfassenderes Projekt haben mit der Lingscape-App haben zum selben Zeitpunkt Purschke/Trusch (Purschke/Trusch im Druck) mit 46 Kindern einer deutschen Schule in Windhoek (Namibia) durchgeführt. Die dortige Fotoexpedition dauerte 6 Stunden und war in 5 Stunden vor- und nachbereitende Unterrichtssequenzen eingebettet.
Ein Desiderat im Bereich der Fremdsprachendidaktik wäre es, durch Vorher-Nachher-Erhebungen zu testen, ob sich durch eine solche Maßnahme das Bewusstsein für Fremdsprachen in der unmittelbaren Umwelt erhöht (awareness raising) und sich die in der Linguistic Landscape präsenten Vokabeln möglicherweise dadurch besser einprägen.
Bibliographie
- Adaba: ! = Adaba: Österreichisches Aussprachewörterbuch. Österreichische Aussprachedatenbank, 04.09.2020 (Link).
- Backhaus 2007 = Backhaus, Peter (2007): Linguistic landscapes: A comparative study of urban multilingualism in Tokyo, Clevedon, Multilingual Matters.
- Blackwood 2010 = Blackwood, Robert (2010): Marking France’s Public Space: Empirical Surveys on Regional Heritage Languages in Two Provincial Cities, in: Shohamy, Elana / Ben-Rafael, Eliezer/Barni, Monica (Hrsg.): Linguistic Landscape in the City, Bristol/Buffalo/Toronto, Multilingual Matters, 292‒306.
- Bloch/Wartburg [1932] 1949 = Bloch, Oscar / Wartburg, Walter von (21949): Dictionnaire étymologique de la langue française, Paris, PUF, 1. Auflage von 1932.
- Bosquet-Ballah 2012 = Bosquet-Ballah, Yannick (2012): L’environnement graphique mauricien: entre diglossie, contact et fusion des langues, in: Langues créoles, mondialisation et education. Actes du 13e colloque du CIEC, Mauritius, 311‒340.
- Calvet 1990 = Calvet, Louis Jean (1990): Des mots sur les murs: le marquage linguistique du territoire, in: Migrants-Formation 83, 149‒157.
- Campan 2017 = Campan, Jeanne Louise Henriette (2017): Mémoires de madame de Campan, première femme de chambre de Marie-Antoinette, Paris, Mercure de France, 1. Auflage von 1826.
- Chalier 2020 = Chalier, Marc (2020): Les normes de prononciation du français: Une étude perceptive panfrancophone, Dissertation Universität Wien/Université de Lausanne.
- Chern/Dooley 2014 = Chern, Chiou-lan / Dooley, Karen (2014): Learning English by walking down the street, in: ELT journal, vol. 68, 2, 113‒123.
- Chesnut/Lee/Schulte 2013 = Chesnut, Michael / Lee, Vivian / Schulte, Jenna (2013): The Language Lessons around Us: Undergraduate English Pedagogy and Linguistic Landscape Research, in: English Teaching: Practice and Critique, vol. 12, 2, 102‒120.
- Cheval/Wagner 1997 = Cheval, Mireille / Wagner, Richard (1997): Glossar semantischer Interferenzen Deutsch-Französisch: Austriazismen, Anglizismen bzw. Amerikanismen, Latinismen, Faux amis und Neologismen, Wien, WUV-Universitätsverlag.
- Chevallier 2009 = Chevallier, Jim (22009): August Zang and the French Croissant, North Hollywood, CA, Chez Jim Books, 1. Auflage ebenfalls von 2009.
- Dagenais 2009 = Dagenais, Diane (2009): Linguistic Landscapes and Language Awareness, in: Shohamy, Elana / Durk Gorter (Hrsg.): Linguistic landscape: Expanding the scenery, New York, Routledge, 253‒269.
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