1. Vorbemerkung: Mikroskopie - Laster oder Askese?
Der Untertitel dieses vielleicht etwas unkonventionellen Beitrags1 ist als eine freundliche Warnung zu verstehen. Der Verfasser weiß sehr wohl, dass nach dem in neuerer Zeit wieder zu größeren Ehren kommenden Hugo Schuchardt Mikroskopie und Makroskopie in der Wissenschaft idealiter eine "paritätische Verbindung" (Spitzer 1928, 410) eingehen sollten. Im Folgenden wird jedoch der Sünde der Mikroskopie hemmungslos gefrönt - nein, nicht ganz hemmungslos, denn die Umfangbegrenzung setzt dem Ausleben des vermeintlich positivistischen Lasters der Detailverliebtheit, ja -versessenheit eine soziale Grenze. Roland Barthes hingegen hat sich viel später als Schuchardt hinter "gewissen" Buddhisten versteckt, um die schier unerschöpfliche Versenkung ins Detail als das Ergebnis nicht etwa der Sünde, sondern der Askese zu nobilitieren. Er sagt nämlich – nein, er berichtet, dass man sagt –, dass "à force d’ascèse certains bouddhistes parviennent à voir tout un paysage dans une fève" (Barthes 1970, 9). Indem er allerdings fortfährt, dass dieses Ziel die Pioniere der Erzählforschung gerne erreicht hätten, entfaltet Barthes ebenfalls eine Dialektik zwischen der Erkenntnis des Besonderen und der Erkenntnis des Allgemeinen, um die es letztlich bei der Frage von Mikro- und Makroskopie ja geht. Die intensive Betrachtung des Gegenstands der folgenden Zeilen ist eben dies: die Entdeckung einer im Besonderen das Allgemeine einschließenden konkreten und figurativen Landschaft, die sich vor den Augen dessen entfaltet, der das linguistisch vergleichsweise harmlose Toponym (L’)Hubac (du) Bleu mit ausdauernder Konzentration und Geduld betrachtet. Denn wer das Toponym in seiner Verwendungsweise verstehen will – und darum soll es gehen –, muss es recht mühsam und langwierig lesen lernen. Dabei geht es weniger um die der Toponomastik ohnehin längst bekannte Etymologie, sondern weit mehr um die Erschließung eines sich nicht nur sprachlich, sondern kulturell so weit verzweigenden Raums, dass er in diesem Beitrag keineswegs erschöpfend abgeschritten werden kann. Wer die notwendige, beharrliche Ausdauer bei der Erkundung von (L’)Hubac (du) Bleu, auch als Leser, aufbringen möchte, wird mit dem Verfasser zweifellos zu der Erkenntnis gelangen, dass diese Erkundung bei aller Besessenheit letztlich nicht ohne Askese auskommt. Dabei muss man – um als letzte Vorbemerkung einen Hinweis auf die materiellen Grundlagen der folgenden Analyse zu geben – das Bild von Makro- und Mikroskopie nicht überstrapazieren, wenn man feststellt, dass es sich bei der Betrachtung der Repräsentation eines Toponyms "im Gelände" und auf topographischen Karten geradezu aufdrängt. Der Kartendienst Google Maps (Google LLC 2018) würde uns erlauben, bei der Untersuchung von (L’)Hubac (du) Bleu die makroskopische Fern- wie die mikroskopische Nahperspektive in verschiedenen Modalitäten ("Karte, Satellit, Gelände") fast nach Belieben einzunehmen. Das hat der Verfasser natürlich auch getan; doch im Vergleich mit den Beobachtungen vor Ort und mit der Analyse der topographischen Karten des Institut national de l’information géographique et forestière lassen sich zuverlässigere und präzisere Ergebnisse erzielen.
2. Linguistic Landscape: Das Toponym (L’)Hubac (du) Bleu in Cavalière und auf topographischen Karten von Cavalière
Le Lavandou ist eine ca. 5500 Seelen zählende Gemeinde (commune) im französischen Département Var, das zur Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA) gehört (INSEE 2018). Das Städtchen liegt unmittelbar am Mittelmeer und verfügt über zwei bekannte Strände (Plage de l’Anglade, Grande Plage du Lavandou) und einen kleinen Fischerei- bzw. Jachthafen. Dem Reiseführer Côte d’Azur, Monaco (Guide Michelin 2007, 224) ist der unscheinbare Ort, der in der Tat keinem Vergleich mit dem pittoresken und mondänen, weiter östlich gelegenen Saint-Tropez standhalten könnte, immerhin einen Stern wert. Das entspricht dem Prädikat "intéressant", wohingegen Saint-Tropez mit seinen zwei Sternen (Guide Michelin 2007, 352) sogar einen Umweg wert sei ("mérite le détour"). Zu der Gemeinde Le Lavandou gehören neben dem eigentlichen Städtchen (dem chef-lieu) weitere Teilorte (quartiers), die sich entlang des Meeres in nordöstlicher Richtung erstrecken: Saint-Clair, La Fossette, Aiguebelle, Cavalière und Pramousquier. Mit dem Auto oder mit dem Bus erreicht man diese Teilorte über die Route départementale 559, wobei man von Landzunge zu Landzunge (pointe) herrliche Ausblicke auf kleine Buchten (anse) und die insgesamt zwölf Strände – der ganze Stolz und das touristische Kapital der Gemeinde – genießen kann. Parallel zur D 559 ist es auch möglich, mit dem Fahrrad auf der Véloroute 65 die abwechslungsreiche Landschaft zu erschließen. Zum Teil nutzt der Fahrradweg die Trasse der ehemaligen Eisenbahnlinie, die vom westlich gelegenen Toulon bis zum nordöstlich sich befindlichen Saint-Raphaël führte. Diese ehemalige Ligne du littoral varois (Wikipedia 2018), die von 1889 bis 1905 zur Förderung des landwirtschaftlichen "Exports" und dann zunehmend des Tourismus erbaut wurde, schloss 1948, nachdem sie im Zweiten Weltkrieg, während der Landung der Alliierten in der Provence (an die jedes Jahr am 15. August mit militärischen Umzügen und feierlichen Kranzniederlegungen erinnert wird), erheblich beschädigt worden war. Seit den von Jean Fourastié so genannten Trente (années) glorieuses – in Wahrheit vielleicht doch nur die zwanzig Jahre zwischen 1945 und 1968 (Dusserre/Houte 2018, 49) – kamen und kommen die Touristen eben nicht mehr mit dem Zug, sondern mit dem Auto an die Mittelmeerküste. Von den alten Bahnhöfen der Linie, die im Volksmund Train des pignes genannt wurde, sind einige wenige noch erhalten, so derjenige in Cavalière, wo der schmuck herausgeputzte Bau heute eine Postfiliale, die Touristeninformation, die Police municipale und eine Außenstelle des Rathauses von Le Lavandou (mairie annexe) beherbergt (Abb. 1; IGPC 2018b).
Cavalière war und ist eine kleine Sommerfrische mit bescheidener touristischer Infrastruktur, welche die drei Strände der Anse de Cavalière bedient, die sich zwischen der Pointe du Layet und dem Cap Nègre erstreckt. Wenn Cavalière über die Schönheit seiner Strände hinaus im heutigen Frankreich überhaupt bekannt ist, dann weder wegen des im unmittelbaren Hinterland befindlichen Temple d’Hercule, einer als antike Ruine errichteten Fälschung (IGPC 2018a), noch wegen der ausgedehnten und naturgeschützten Wälder der Collines de Cavalière (eine 2006 erfolgte Schenkung der Société Pernod-Ricard an das Conservatoire du Littoral; Conservatoire du Littoral/Formation des Ingénieurs Forestiers o.J. [= 2007]), sondern vor allem wegen des weithin sichtbaren, doch für den normalen Sterblichen – weil abgesperrt – unerreichbaren und wegen seiner exponierten Lage am Meer neidvoll betrachteten Château du Cap Nègre. Im Jahr 1937 als Villa Aigo Lindo (IGPC 2018c) für André Faraggi (einen Helden der libération, an den der Bürgermeister Bernardi in einer Gedenkrede erinnert, Bernardi 2017) erbaut, wurde es in den 1970er Jahren von Alberto Bruni Tedeschi erworben und diente Nicolas Sarkozy während seiner Präsidentschaft 2007 bis 2012 statt des nicht weit entfernten, dem Staat gehörenden Fort Brégançon als Sommerresidenz – Sarkozy ist dank seiner Heirat mit Carla Bruni Tedeschi bekanntlich ein Schwiegersohn des Turiner Industriellen, Musikers und Komponisten. Nur im äußersten Notfall, wenn etwa das Sicherheitspersonal zu Luft, zu Wasser und zu Land einfach nicht mehr zu ignorieren war, zückten die im Allgemeinen diskreten Urlauber ihre in den Strandtaschen tief verstauten Feldstecher, um die Inszenierungen der Macht gründlich erforschen zu können.
Fährt man von Westen kommend auf der D 559 in Cavalière ein, so ermöglicht der erste rond-point des Ortes, eine Straße in nördlicher Richtung, die Avenue du Golf, einzuschlagen. Ein schwarzer, mit einem Pfeil versehener Wegweiser auf weißem Grund (Abb. 2) – es handelt sich, um genau zu sein, um ein Schild (panneau) vom Typ D21b ("Indication d’une direction sans indication de distance") oder D29b ("Indication d’une direction de lieux-dits et fermes sans indication de distance"; République française 2011) – gibt die Richtung an, in welcher ein geographisches "Objekt" namens L’Hubac Bleu zu finden ist.
Folgt man dem Pfeil, dann findet man nach ein- bis zweihundert Metern an einem weiteren rond-point einen zweiten Wegweiser desselben Typs, dieses Mal jedoch mit der Aufschrift L'Hubac du Bleu (Abb. 3).
Fährt man auf diesem Weg weiter, so steigt die nunmehr nordöstlich verlaufende Straße in Richtung auf die erste, auf der Höhe von Cavalière von Westen nach Osten sich erstreckende Gratlinie des Massif des Maures hin an. Von dem hier bis zu 468 Meter hohen Grat fallen jeweils von Nordosten nach Südwesten verlaufende Bergrücken bzw. -abhänge zum Meer hin ab. Doch auch wenn man alle immer enger werdenden und immer steiler ansteigenden, befestigten und unbefestigten Sträßchen und Wege abfährt, die einen dieser Abhänge hinaufkriechen und sich dabei nach und nach verzweigen, stößt man nie auf eine Örtlichkeit, an deren Beginn (oder Ende) ein Schild des Namens L’Hubac Bleu oder L’Hubac du Bleu zu finden wäre. Dabei versprechen auch die Namen der Straßen – freilich unter der Voraussetzung, dass sie eher der Orientierung dienen als eine Memorialfunktion haben (vgl. Nübling u.a. 2015, 245) –, den Fahrer, Wanderer oder Spaziergänger zu L’Hubac du Bleu zu führen. Die breite, großzügig angelegte Straße, an der sich der zweite Wegweiser befindet, heißt Boulevard de l’Hubac du Bleu (Abb. 4).
Dort, wo die Straßenführung enger und steiler wird, wechselt der Name zu Chemin de l'Hubac du Bleu (Abb. 5).
Zusätzlich zu den bisher vorgestellten Einschreibungen des Namens (L’)Hubac (du) Bleu in den geographischen Raum gibt es noch ein weiteres staatlicher Reglementierung unterworfenes Schild (panneau CE4c; République française 2011), das unser Toponym enthält; es ist der touristische Wegweiser zu einem Campingplatz dieses Namens (Abb. 6):
Der Campingplatz, der sich am Ende einer der Verzweigungen des Chemin de l’Hubac du Bleu befindet, ist nicht das einzige private Unternehmen, das den Namen verwendet, denn es gibt schließlich auch noch eine an derselben Straße liegende Wohnsiedlung, die sich Résidence de l’Hubac Bleu nennt, worauf mit einem privat angebrachten Schild hingewiesen wird (Abb. 7):
Nach diesen Darlegungen dürfte klar sein, dass (L’)Hubac (du) Bleu in der Tat der Name für eine landschaftliche Gegebenheit ist, auf die im geographischen Raum zwar mit Schildern verwiesen wird, jedoch ohne ihre räumliche Situierung und Abgrenzung tatsächlich zu bezeichnen. "Irgendwo" dort, wo die entsprechenden Schilder und Wege hinführen, wird sich auch (L’)Hubac (du) Bleu befinden. Genaueres ist im Gelände, das auf diese Weise im Sinne einer linguistic landscape "symphysisch" beschildert wird (vgl. Tacke 2015, 159-165), selbst nicht bezeichnet, sehr wohl jedoch auf entsprechenden topographischen Karten. Immerhin eine dieser Karten, die auch als Faltblatt bei der Tourismusinformation erhältlich ist (Office de Tourisme du Lavandou o.J.), findet sich im Ortskern von Cavalière als großflächige touristische Orientierungstafel. Auf dieser (nicht ganz genordeten, sondern leicht nach Westen geneigten) Tafel findet man den Talnamen Vallon de l’Ubac du Bleu (Abb. 8), wobei das Wort Ubac ohne das initiale <H> geschrieben ist, das in den bisher dargestellten Verwendungen auftritt:
Ein Hinweis auf die genauere Verortung eines Hubac (oder Ubac) du Bleu selbst ist das freilich nicht. Die entsprechende Angabe wurde offensichtlich aus der entsprechenden topographischen Karte des Institut national de l’information géographique et forestière (früher: Institut géographique national, daher nach wie vor als IGN "versigelt"; IGN 2016) übernommen (Abb. 9):
Abb. 9 wurde aus der über den Q(uick) R(esponse)-Code aufrufbaren Onlineversion der gedruckten topographischen Karte erstellt, bei der man mit der Zoomfunktion den Maßstab fast beliebig verändern kann (zu demselben Ergebnis würde eine Recherche über République française 2018a führen); es entspricht in etwa dem 1:25.000-Maßstab der auf Papier erhältlichen Wanderkarte. Recherchiert man jedoch mit dem Suchbefehl "Vallon de l’Ubac du Bleu" in dieser Onlineversion, dann wird bei Verkleinerung des Maßstabs das mit dieser Angabe benannte Gelände an etwas anderer Stelle, nämlich weiter westlich verortet (Abb. 10):
Wo aber ist L’(H)ubac (du) Bleu selbst? Darauf hat die topographische Karte ebenfalls eine Antwort (Abb. 11):
Aus der Karte erschließt sich, dass – wiederum ohne das initiale <H>, aber auch ohne bestimmten Artikel geschrieben – der Ubac du Bleu einer der eingangs erwähnten Bergrücken bzw. -abhänge ist, die von der südlichsten Gratlinie des Massif des Maures zum Meer hin abfallen. Über die mit dem QR-Code ansteuerbare Onlineversion können die genaue topographische Situierung (6.434369; 43.164221), die Départements- (83) und die Gemeindezugehörigkeit (Le Lavandou), die INSEE- (83070) und die postalische Kodierung (83980) sowie der Typ des geographischen Objekts (versant) recherchiert werden (Abb. 12):
Die Wegweiser der Gemeinde wurden jedoch wohl kaum zu dem Zweck angebracht, einfach zu dem Bergrücken oder -abhang zu führen, sondern vielmehr zu den erst in neuerer Zeit erbauten Häusern – auf den Luftbildern des IGN aus den 1950er Jahren existieren sie noch nicht – und zu dem Campingplatz, der sich an dessen südöstlichen Seite befindet. Insofern geht es nicht nur um einen Berghangnamen (oronyme: Ubac du Bleu), sondern auch um den Namen eines lieu-dit habité (L’Hubac du Bleu), der sich an diesem Berghang befindet. Der Straßenname (odonyme) Boulevard de l’Hubac du Bleu bezeichnet einen Weg, der zu dieser Örtlichkeit führt, der Straßenname Chemin de l’Hubac du Bleu einen Weg, der sich innerhalb dieser Örtlichkeit befindet.
3. Form und Bedeutung des Toponyms (L’)Hubac (du) Bleu
Die Eintragung des Toponyms Ubac du Bleu auf der topographischen Karte des IGN entspricht ausgefeilten, letztlich sprachpolitisch begründeten Regeln, die in der von Sylvie Lejeune redigierten Charte de toponymie zusammengefasst sind (IGN 2003). Es handelt sich um einen sogenannten "nichtamtlichen" Namen, da er eine nichtamtliche geographische Gegebenheit bezeichnet. "Amtlich" sind nur die Namen der Verwaltungseinheiten, also Regionen, Départements, Arrondissements, Kantone und Gemeinden. Grundlage für die Form eines Namens ist der "Sprachgebrauch" (usage) unter Einschluss der im Artikel 75-1 der geltenden französischen Verfassung sogenannten langues de France (République française 2018b), der nach einem langwierigen Prozess in einem internen Dokument des IGN, dem État Justificatif des Noms, festgehalten wird (IGN 2004, o.S. = 4, 5, 8-10). Seine kartographische Verschriftung folgt bestimmten, präzise definierten Regeln (IGN 2003, passim). Demnach besteht Ubac du Bleu als toponyme composé aus einem terme générique (ubac) und einem als complément de nom mittels des amalgamierten bestimmten Artikels (du; article contracté) verknüpften terme spécifique (Bleu).
In grammatischer Hinsicht (auf den orthographischen Unterschied gehe ich weiter unten ein) fällt – wie bereits erwähnt – auf, dass die von der Gemeinde angebrachten Wegweiser dem groupe nominal den bestimmten Artikel voranstellen (L’Hubac du Bleu), die topographische Karte des IGN jedoch nicht (Ubac du Bleu). Woran liegt das? Wenn die sogenannte règle de l’usage eine idiomatisch korrekte Form wie (Où va-t-on? -) On va à l’Ubac du Bleu und nicht etwa *On va à Ubac du Bleu produziert (was nach von mir befragten Sprechern zutrifft – siehe auch dazu weiter unten), dann wird zwar normalerweise der bestimmte Artikel in der kartographischen Verschriftung hinzugefügt. Doch gilt dies nur unter bestimmten Bedingungen, die nach Auffassung des IGN offensichtlich auch auf die Verwendung von Ubac im komplexen, auf der topographischen Karte verzeichneten Toponym Ubac du Bleu nicht zutreffen:
Lorsque le terme générique [also in unserem Fall ubac] correspond à la nature ou à la fonction actuelle de l’objet géographique, et que celui-ci a sa représentation propre sur la carte, on ne note pas l’article. (IGN 2003, o.S. = 9)
IGN (2003, o.S. = 10) erläutert diesen, unseren Fall unter dem Stichwort règle de l’accord u.a. mit dem Beispiel Mont Blanc (règle d’usage: On va au Mont Blanc), bei dem die topographische Karte natürlich Mont Blanc und nicht etwa *le Mont Blanc verzeichnet. Da nun die Gemeinde Le Lavandou (ein Toponym mit Artikel!) für ihre Wegweiser die Form L’Hubac du Bleu wählt, bezeichnet – wenn denn die Gemeinde sich an das Regelwerk des IGN hält (und das tut sie) – das mit dem bestimmten Artikel versehene Toponym also nicht den Bergrücken bzw. -hang, sondern den lieu-dit habité.
Es gibt Fälle, in denen man versucht sein könnte zu glauben, dass das IGN sein Regelwerk nicht einhält. So gibt es im Département Var das Toponym l’Ubac de Siouvette (La Môle, Var), das man für die Bezeichnung eines versant halten könnte (Abb. 13):
Wenn diese Vermutung richtig wäre, müsste nach dem Regelwerk die Bezeichnung korrekt als Ubac de Siouvette verzeichnet sein. In Wahrheit verhält es sich jedoch anders: Das Toponym bezeichnet – wie sich auch aus den Identifikationsdaten (Abb. 14) ergibt – nicht einen einzelnen Abhang, sondern einen lieu-dit non habité (also eine Flur, vgl. Nübling u.a. 2015, 239), und in diesem Fall ist die Verwendung des bestimmten Artikels nach dem Regelwerk angebracht.
In der bisherigen Analyse lege ich, dem IGN folgend, zugrunde, dass ubac ein terme générique ist, also ein Gattungsname. Das ist in der Tat der Fall, auch wenn der Ausdruck keineswegs allgemein bekannt ist. Das für das IGN erstellte Glossar von Pégorier u.a. (2006, 467) führt zu ubac aus:
Ubac n.m.: côté d’une vallée exposé au Nord – Provence, Languedoc, Dauphiné, Ariège, Ardèche. Var.: iba, uba, luba, oubac, libac, ubouch [meine Kursivierung]. Syn.: ados, adous, avers, avès, envers, évers, géla, hiversenq, inets, inverso, invets, opaco, orreber, oumbrenc, revers, sevenne, reire-lum [meine Kursivierung].
Etymologisch beruht – wie schon Diez (1853, 384, s.v. it. bacio) und auch Mistral (1979 [1878], 1068; vgl. Levy 1894-1924 VIII, 523a) wissen – ubac auf lat. ŎPĀCU bzw. ŪBĀCU (vgl. DC VIII, 257c) schattig (weswegen das zitierte Glossar die italienische Form opaco zu den Varianten stellen sollte) und ist vom Friulischen und Ladinischen über das Oberitalienische und das Okzitanische bis zum nordöstlichen Iberoromanischen u.a. in der Bedeutung Schattenseite, Nordseite eines Bergs belegt (FEW VII, 357b-358a; REW 6069; DAG Nr. 177; DAO Nr. 177). Die z.T. komplexeren westokzitanischen, gaskognischen, katalanischen und aragonesischen Formen in den Pyrenäen analysierte vor längerer Zeit präzise Colón (1963, vgl. noch Piel 1971, 4 [Nr. 9]). In verschiedenen neueren Sprachatlanten werden die Ausdrücke für den Schatten- (versant à l’ombre) und auch den Sonnenhang (versant au soleil) kartographiert, und zwar (von Osten nach Westen) im ASLEF, im ALD II, im ALP, im ALMC, im ALOR und im ALO. Einschlägig für das Département Var ist die Karte 122 Adret – Hubac des ALP I mit dem Ergebnis uba für den Schattenhang in den Cavalière benachbarten Orten Hyères (Nr. 169), Collobrières (Nr. 165) und La Môle (Nr. 166). In zahlreichen toponomastischen Werken wird das Wort gebucht (Gröhler 1913-1933 II, 114; Vincent 1937, 221 [Nr. 517]; Dauzat u.a. 1978, 227; Hamlin 1983, 398; TGF II, 1199 [Nr. 22380, 22381, 22395]; Fabre 1995, 142; Boyrie-Fénié/Fénié 2007, 160 [Nr. 454], 335 [Nr. 1061]). Im Französischen ist das Wort eine späte, aus dem frühen 20. Jahrhundert stammende Entlehnung aus dem Okzitanischen (TLFi):
GÉOGR. [P. oppos. à adret] Versant d’une montagne exposé au nord. Synon. ombrée. La forêt occupe l’ubac, le côté d’ombre [dans les Alpes françaises]; elle le couvre d’un merveilleux manteau de verdure, avec le feuillage clair et gai du mélèze (VIDAL DE LA BL., Tabl. géogr. Fr., 1908, p. 263). V. adret ex.
Prononc.: [ybak]. Étymol. et Hist. 1907 subst. (FRANCE: Uba, Ubac. Le revers d’une montagne exposé au nord; patois languedocien); 1908 (VIDAL DE LA BL., loc. cit.). Terme dial. du Sud-Est, att. en ce sens en prov. dès 1431 (Compte de Digne ds Doc. ling. du midi de la France, éd. P. Meyer, t. 1, p. 290), v. aussi MISTRAL, lat. médiév. ubacum « id. » (cité s. réf. ni date par DU CANGE d’apr. un rec. d’actes de 780 à 1446 rédigés au XVIIe s. par Dom Lefournier et déposés au monastère St Victor de Marseille), du lat. opacus « qui est à l’ombre »; cf. en 1505 l’adj. fr. ubac « situé à l’ombre » (DESDIER CHRISTOL, Platine en françois d’apr. R. ARVEILLER ds Mél. Seguy, p. 84).
Im diatopisch unmarkierten Französischen ist ubac offensichtlich ein vor allem fachlich, durch die Geographie (Paul Vidal de la Blache) geprägter Ausdruck; als solcher ist er z.B. ins Englische entlehnt worden (OED s.v.):
ubac, n. Origin: A borrowing from French. Etymon: French ubac. Etymology: < French ubac (1907; originally French regional (south-eastern)) < Old Occitan, Occitan ubac (1431) < classical Latin opācus shady (see opaque adj.). Compare post-classical Latin ubacum (in an undated source in Du Cange), ubagum (1035), Catalan obac (839 as obago, 1371 as ubac), Middle French ubac situated in the shade (1505).
Geography. A hillside or mountain slope which receives little sunshine, esp. (in the northern hemisphere) a north-facing one. Chiefly with reference to the Alps. Frequently attributive. Contrasted with adret.
Im südöstlichen und südlichen Regionalfranzösisch ist das Wort jedoch auch außerhalb fachlich geprägter Zusammenhänge präsent. Die Belege, die Frantext bietet, entstammen fast alle Autoren, die entweder im Südosten oder Süden beheimatet waren oder dort eine prägende Phase ihres Lebens verbrachten (Jean Giono mit zahlreichen Belegen; Raymond Abellio, Jean d’Ormesson, Georges Pérec).
Wie verhält es sich nun mit der Kenntnis der Bedeutung des Ausdrucks bei aus Cavalière selbst oder der commune Le Lavandou stammenden Sprechern? Eine nicht repräsentative, im August 2018 durchgeführte Befragung zeigt, dass Sprecher unter 60 Jahren L’Hubac du Bleu als die Bezeichnung einer neueren Siedlung im Hinterland kennen – die Präsenz des Namens in der linguistic landscape ist ja auch unübersehbar –, doch sind sie nur ausnahmsweise in der Lage, Hubac eine Bedeutung zuzuschreiben. Aucune idée, sagt etwa die ca. 50jährige Wirtin des populärsten Restaurants am Ort. Anders sieht es bei den ortsansässigen über 60jährigen retraités aus. Sie unterbrechen gerne das Pétanquespiel und erläutern ohne jedes Zögern bereitwillig, dass ubac [y.bak] der versant nord oder der versant ombragé d’une montagne ist, im Gegensatz zu adret [a.dʁɛ], dem versant sud oder versant ensoleillé. Ein anderer Sprecher dieser Altersgruppe, der eine ganze Reihe von Geschäften, darunter auch einen Zeitungs- und Buchladen betreibt, erläutert, dass es sich um den versant qui reçoit peu de soleil, surtout en hiver handelt. Auf die Frage, warum jüngere Sprecher die Bedeutung des Wortes nach Erfahrung des Touristen nicht kennten, antworten die Rentner mit dem Verweis auf das Provenzalische: C’est un mot provençal, et eux, ils ne le parlent plus, le provençal, c’est fini! Im Übrigen lehnen sie die Bezeichnung occitan, die der fragende Tourist alternierend mit patois verwendet, ab: Nous, on parle provençal; l’occitan, ça se parle plus loin. Einige von ihnen können auch unter Beweis stellen, dass sie das Provenzalische tatsächlich noch sprechen können (De temps en temps on s’amuse à parler en patois, entre nous, mais pas avec les enfants!, kommentieren sie). Befragt, ob das Wort ubac ein Wort aus dem patois sei, antwortet der erwähnte Kleinunternehmer, der auch die Assoziation ubac - adret herstellt, hingegen dezidiert: Non, Monsieur, c’est un mot français. Der ca. 40jährigen Auskunftsperson im Tourismusbüro ist es offensichtlich etwas peinlich, dass ihr das Wort ubac überhaupt nichts sagt (nachdem sie dem Touristen auf dem Plan officiel den Vallon de l’Hubac du Bleu gezeigt hat). Daher verweist sie den Frager an das benachbarte Amt: Eux, ils savent certainement. In der Mairie annexe gibt die ebenfalls ca. 40jährige Amtsperson dann in der Tat gerne die inzwischen bekannte Auskunft: "Ubac", c’est le versant nord d’une colline; "adret", c’est le versant sud. Wie dem Kleinunternehmer ist es auch ihr wichtig, das Wort nicht dem patois, sondern dem Französischen zuzuschreiben. Auf dem Amt fragt der Tourist auch nach den unterschiedlichen Schreibungen, Ubac auf der topographischen Karte, Hubac auf den Straßenschildern. Auch das kann die Amtsangestellte erläutern: L’orthographe correcte, c’est "ubac", sans "h"; quand ils ont voté les noms des rues, ils ont fait une erreur, ils les ont écrits avec "h", et ainsi, ça c’est resté comme ça, mais c’est une erreur. Dass hubac eine auf den topographischen Karten vielfach belegte okzitanische Schreibung ist, ist ihr vielleicht nicht bekannt. Doch selbst die gelehrten Dauzat u.a. (1978, 227) vermögen in einer solchen Schreibung nur ein "h parasite" (und nicht ein diakritisches <h>) zu erkennen.
Es wäre leider zu schön, um wahr zu sein, dass die semantische Durchsichtigkeit des Toponyms (L’)Hubac (du) Bleu – von dem complément de nom ist allerdings noch gar nicht die Rede gewesen – für die älteren ortsansässigen Sprecher ausschließlich auf einem wie auch immer gearteten, noch vorhandenen Bilinguismus beruhte. Wer das als Linguist annähme, verhielte sich wohl so wie der von Walter Benjamin einmal bespöttelte Literaturwissenschaftler, der "die 'Quellen' als Gottes freie Natur, Literatur [mutatis mutandis die Dialektologie] darüber als trostlose Rohrleitung, die das Quellwasser in die sündigen Städte leitet", betrachtete (Benjamin 1974 [1928], 25; ein Foto aus dem Jahr 1931, das kürzlich in der Ausstellung Benjamin und Brecht. Denken in Extremen der Berliner Akademie der Künste zu sehen war, zeigt übrigens Benjamin, zusammen u.a. mit Bertolt Brecht, am Strand von Le Lavandou). Die "Rohrleitung" sind in unserem Fall außer der Dialektologie die Botanik, die Geographie und der Schulunterricht, wobei letzterer das sprachlich und wissenschaftlich aufbereitete Quellwasser an die Quelle wieder zurückführt. Dabei wird das provenzalische Quellwasser des ubac – ich bleibe bei der Metaphernsprache – französisch gefiltert und auch in der Form eines französisierten Toponyms an die französisch akkulturierten Provenzalen zurückgeleitet. Der Erbauer der Rohrleitung – um das Bild weiter fortzuspinnen – ist nicht nur der im TLFi-Artikel ubac zitierte Paul Vidal de la Blache, sondern die sich an ihn anschließende, für einen Romanisten unübersehbar umfangreiche geographische Forschung, möglicherweise ausgehend von der bis heute so oft zitierten Arbeit von Marcelle Vessereau (1921) zur Humangeographie von Sonnen- und Schattenhang in den Westalpen. Die Autorin gibt bereits einen kleinen Überblick über die sprachlichen Bezeichnungen (Vessereau 1921, 321):
Les noms adret et ubac se retrouvent dans presque toutes nos vallées françaises, désignant le versant qui fait face au Midi et les pentes tournées au Nord où l’ombre des crêtes s’allonge de bonne heure. Plus expressifs peut-être encore sont les termes endroit et envers; d’un côté c’est la place naturelle du village et des cultures, de l’autre un site anormal pour les établissements humains. Les vallées allemandes ont leur Sonnenseite riche, baignée de soleil, et leur Schattenseite, hostile et sombre sous la forêt épaisse. La vallée de l’Inn oppose le Sonnenberg au Schattenberg. Dans le Pustertal, le Schwarzboden est le versant forestier. Dans les vallées italiennes, l’indritto ou adritto désigne le village ou le versant bien exposé; en face, l’inverso ou opaco tourne le dos à la lumière. Souvent le village ensoleillé a seul l’honneur de porter un nom original; celui d’en face, privé de soleil, se contente du même nom précédé du terme dénigrant inverso ou envers.
Was den Schulunterricht betrifft, so schildert Jean d’Ormesson (1987, 78f.) in seinem zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman Le Bonheur à San Miniato das Thema l’adret et l’ubac als ein offenbar klassisches Thema des seinerzeitigen Geographieunterrichts:
Le jour, malgré le règlement, il y avait des professeurs pour poursuivre leurs cours comme si de rien n’était, comme si la paix régnait encore. Rousseau, Chateaubriand, la Révolution française, l’adret et l’ubac [meine Kursivierung], les grands fleuves du monde, l’usage de l’aoriste et de l’ablatif absolu, les verbes irréguliers anglais et un vague semblant de gymnastique qui aurait fait ricaner les athlètes de l’autre côté du Rhin se déroulaient au rythme d’une guerre qui n’en était pas encore une.
Daran hat sich wohl bis heute nichts geändert, wie ein aktuelles Lehrwerk für die Sixième zeigen mag (Abb. 15). Das gewählte Beispiel bezieht sich auf den im Département der Alpes-maritimes – das wie der Var zur Region PACA gehört – gelegenen Parc National du Mercantour. Unschwer ließen sich viele weitere Lehrwerkbeispiele "ergooglen".
Man geht daher wohl nicht fehl in der Annahme, dass die in dem beschaulichen Cavalière so gut über adret und ubac Bescheid wissenden älteren Menschen sich nicht nur an ihr patois, sondern auch an den Schulunterricht erinnern.Bei alledem ist noch nicht geklärt, was die Sprecher mit dem complément de nom, also du Bleu, verbinden. Eine Charakterisierung dieses grammatischen Typs ist für Toponyme mit dem Gattungsnamen ubac natürlich nicht ungewöhnlich. Da es so viele toponymisch zu bezeichnende Nordhänge gibt, werden Namen gewählt, die den jeweiligen Hang in Bezug zu einer anderen, u.U. geographischen Gegebenheit setzen. Ein leicht erklärbares Beispiel liefert der Ubac des Teyes, dessen toponyme composé offensichtlich in Bezug zu einem in unmittelbarer Nähe liegenden lieu-dit habité mit dem Namen les Teyes steht (Abb. 16):
In vielen anderen Fällen ist jedoch ein solcher Zusammenhang aufgrund der topographischen Karten nicht herstellbar. Dies trifft auch auf Ubac du Bleu zu, denn ein geographisches Objekt namens Bleu (oder eines entsprechenden provenzalischen Ausdrucks, der im Französischen auch 'volksetymologisiert' sein könnte) ist topographisch nicht verzeichnet. Die befragten Sprecher erklären sich, ohne wirklich davon überzeugt zu sein, den Zusatz als Hinweis auf das Blau des Mittelmeers (das bekanntlich auch la Grande Bleue genannt wird); entsprechendes gilt für das attributive Adjektiv im Siedlungsnamen L’Hubac Bleu.
Nach dem vorläufigen Abschluss dieser kleinen Arbeit hat das IGN auf meine Anfrage bezüglich des für (L’)Hubac (du) Bleu erhobenen État Justificatif eine Auskunft erteilt (IGN 2018e):
Voici les éléments dont dispose notre service en charge de la toponymie.
Sur l’enquête toponymique de 1977:
Source Cadastre: l’Hubac du Bleu
Nom donné par les Habitants: l’Hubac du Bleu
Nom retenu par la commission de Toponymie: l’Ubac du Bleu
Le toponyme est codé en Lieu-Dit non habité
[Sur cette même enquête:
Carte en service: vallon de l’Hubac Bleu
Source Cadastre: Vallon de l’Hubac du bleu
Nom donné par les Habitants: Vallon de l’Hubac du bleu
Nom retenu par la commission de Toponymie: Vallon de l’Ubac du Bleu]
Lors de la révision de 1997, l’Hubac du Bleu jusqu’alors encodé en Lieu-Dit non habité devient un objet de type Orographique de nature versant (toponyme retenu: Ubac du Bleu).
Nous jugeons plus pertinent de modifier à nouveau le toponyme l’Ubac du Bleu en Lieu-Dit habité (résidence Hubac du Bleu, Boulevard de l’Hubac du Bleu; pancarte sur le terrain…).
Die Auskunft bestätigt meine Analyse und zeigt, wie die Toponymie mit der Humangeographie, auf die ich im folgenden Abschnitt eingehe, Schritt hält.
4. Zur Humangeographie des Ubac du Bleu
Nach allem, was ausgeführt worden ist, sollte man streng genommen erwarten, dass der Ubac du Bleu ein echter Nordhang ist. Das ist er, wie weiter oben bereits gesagt wurde, nicht. Der Bergrücken verläuft von Nordosten nach Südwesten (vgl. Abb. 11). Mit seinen beiden Hängen fällt er einerseits nach Südosten, andererseits nach Nordwesten ab, so dass der Name Ubac du Bleu für den gesamten Bergrücken ein pars pro toto ist. Die nach Südosten schauende Seite wird zwar selbst im Hochsommer erst ca. zwei bis drei Stunden nach Tagesanbruch vollständig von der Sonne beschienen, denn sie liegt zunächst im Schatten des östlich benachbarten Bergrückens; dennoch ist das, zumindest im südlichen Teil, die Sonnenseite des Ubac du Bleu, die aus diesem Grund auch mit Häusern bebaut wird. Nur die am tiefsten und am nördlichsten gelegenen Teile des Südosthangs erhalten dauerhaft wenig Sonne. Die eigentliche Schattenseite ist jedoch der gegenüberliegende, nach Nordwesten schauende, im Übrigen relativ unzugängliche Abhang. Dieser erhält erst nachmittags Sonne und nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Sonne hinter dem weiter westlich angrenzenden Bergrücken wieder verschwindet. Diese Seite ist heute wenig bewaldet und zugleich völlig unbebaut, wie auch ein Luftbild des IGN zeigt (Abb. 17, IGN 2018a). Insgesamt ergibt sich also die bezüglich des Gattungsnamens ubac paradoxe, für einen Eigennamen dennoch nicht ungewöhnliche Situation, dass die der Sonne zugewandte Wohnsiedlung L’Hubac (du) Bleu genannt wird.
Das Luftbild verrät etwas Weiteres: Die Sonnenseite des Ubac du Bleu, vor allem in ihrem südlichen Teil, ist dünner, der östlich vom Ubac du Bleu gelegene Schattenhang hingegen deutlich dichter bewaldet. Zugleich ist auf der Sonnenseite auch die erwähnte Bebauung des Geländes durch den Menschen klar erkennbar; seit den 1960er Jahren hat sie sich dort drastisch ausgedehnt. Entsprechende IGN-Waldkarten (Abb. 17 und 18; IGN 2018b, IGN 2018c) bestätigen den Augenschein des Touristen.Im ersten Fall (Abb. 18) handelt es sich bei der Bewaldung um die typischen mediterranen immergrünen Eichenarten, im zweiten Fall (Abb. 19) um nicht präzise spezifizierte Laubgewächse. Will man das Bild vervollständigen, dann muss man auf die nordwestliche Seite des Berghangs schauen, dessen Vegetation ein noch ganz anderes Bild ergibt (Abb. 20, IGN 2018d). Dort finden wir vor allem niedrige Holzgewächse wie verschiedene Ginsterarten und Bruyère:
Der an diesem kleinen Ausschnitt zu beobachtende Rückgang der ursprünglicheren Bewaldung von Süden nach Norden (die sich im Massif des Maures durch die Paläobotanik z.T. 8000 Jahre zurückverfolgen lässt, s. Bergaglio u.a. 2006) ist unter anderem das Resultat der großen, verheerenden Waldbrände, die 1965, 1987 und 1989 (Conservatoire du Littoral/Formation des Ingénieurs Forestiers o.J. [= 2007], 79) das Gebiet betroffen haben und in deren Folge sich auch menschliche Besiedlung ausgedehnt hat.
Alle diese Tatsachen verweisen auf den kulturellen Zusammenhang, in dem die Kenntnis von adret und ubac ursprünglich zu verorten ist, nämlich in der Ökologie von Natur und Mensch, d.h. also einer bestimmten Lebenswelt. So befindet sich der Ubac du Bleu heute am südlichen Rand eines der weiteren Zerstörung der Landschaft, Flora und auch Fauna Einhalt gebietenden Naturschutzgebiets, der Zone Naturelle d’Intérêt Faunistique et Floristique 930012528 des Inventaire National du Patrimoine Naturel (INPN 2018), d.h. dem südöstlichsten Teil der Forêt du Dom als Teil des ebenfalls naturgeschützten Massif des Maures (Commune du Lavandou 2017, 97). Aus übergreifender und die bisher betrachteten konkreten Detailverhältnisse außer Acht lassender Perspektive kann man den Ubac du Bleu am Übergang von der Küsten- zur Bergbewaldung situieren. In einer globalen Bilanz zum 30jährigen Bestehen der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur als collectivité locale führen Tirone u.a. (2003, 24f.) zur typischen Vegetation dieses geographischen Raums ganz allgemein aus:
L’association végétale sur la côte est caractérisée par des espèces buissonnantes (lentisques, oliviers sauvages, myrte, caroubier). Au delà, vers l’intérieur, la garrigue à chênes kermès et à romarin se développe sur les sols des collines calcaires. C’est une formation basse parsemée de pinèdes (pins d’Alep) assez clairsemées, et de quelques taillis de chênes verts rabougris. […] Le chêne kermès apparaît par plaques et forme des buissons bas touffus, peu pénétrables à cause de l’abondance de ses feuilles vert sombre et épineuses. […] Il succède à la forêt de chênes verts, lorsqu’elle a été incendiée, et couvre plateaux et collines à sols squelettiques. […] Dans les Maures et l’Estérel, la forêt originelle, sur les sols acides développés sur roches cristallines, constitue un ensemble isolé et très dense avec des chênes-lièges (l’homme a utilisé très tôt l’écorce épaisse du chêne-liège), des chênes verts, des châtaigniers, des pins parasols et des peuplements de pins maritimes (durement touchés par une cochenille dévastatrice). Lorsque la forêt est détruite par l’incendie, le maquis à arbousiers, à bruyères arborescentes, à cistes, la remplace.
Für das eigentliche Bergmassiv, das sich unmittelbar anschließt, gilt (Tirone u.a. 2003, 25):
Le chêne vert est l’emblème de la forêt varoise qui couvre plus de la moitié des surfaces de ce département. Chênes verts et chênes blancs se mêlent en forêts mixtes ou s’individualisent en fonction des expositions et des altitudes. Le chêne vert plus exigeant en chaleur, mieux adapté à la sécheresse, colonise plutôt les versants à l’adret [meine Kursivierung]. Le chêne blanc, plus amateur de fraîcheur et d’humidité, grimpe plus haut et se rencontre plus fréquemment à l’ubac [meine Kursivierung].
Alle in diesen Beschreibungen genannten Eichenarten finden sich auch im Hinterland von Cavalière an den zur südlichsten Gratlinie des Massif des Maures aufsteigenden Hängen. Mit chêne kermès ist Quercus coccifera L. gemeint (Kermeseiche); chêne vert ist Quercus ilex L. (Steineiche), eine Art, die sich an der Südostseite des Ubac du Bleu ebenso findet wie der chêne blanc (Quercus pubescens Willd. Flaumeiche). Das trifft auch auf den häufigeren chêne-liège zu (Quercus suber L. Korkeiche); an ihn erinnert, am Fuß des Ubac du Bleu, der provenzalische Name des Campingplatzes Leï Suves (s. Abb. 11; prov. suve Kork, Korkeiche < SŪBER, vgl. FEW XII, 332a; REW 8357; frz. suber Kork ist eine gelehrte Form). Im Übrigen sind die aus dem Provenzalischen entlehnten und französisierten Bezeichnungen suveraie (suberaie) Korkeichenwald und yeuseraie Steineichenwald (zu frz. yeuse, prov. euze Steineiche < ĪLEX, vgl. FEW IV, 544b; REW 4259) in der früher durch eine bäuerliche Forstwirtschaft (Industrieholz, Korkverarbeitung) geprägten Region, die sich immer mehr verliert, durchaus geläufig. Gleichwohl bietet die Bewaldung an den beiden Seiten des Ubac du Bleu heute nicht (mehr?) die idealtypische Verteilung der Vegetation, wie sie für Sonnen- und Schattenseite in dem südöstlichen französischen Gebirge beschrieben wird.
5. Ausblick
Die wesentliche Funktion eines Namens besteht bekanntlich nicht in seiner Bedeutung, sondern in seiner direkten und eindeutigen Referenzleistung (z.B. Nübling u.a. 2015, 31-37). Die aus einem Nominalsyntagma bestehenden Toponyme Ubac du Bleu, L’Hubac du Bleu, L’Hubac Bleu sind als Namen für einen Berghang (versant) bzw. eine Wohnsiedlung (lieu-dit habité) grammatisch und lexikalisch potentiell transparent. Doch ein klarer Motivationsbezug zum geographischen Referenzobjekt lässt sich nur über den sogenannten terme générique (ubac) herstellen und natürlich nur für diejenigen, welche dieses zwar im Provenzalischen geläufige, doch im Französischen fachsprachlich gefilterte und daher vergleichsweise "gebildete" Wort tatsächlich auch kennen. Der Bezug des "Genitivattributs" (complément de nom) du Bleu bzw. des attributiven Adjektivs bleu zum Referenzobjekt mithilfe eines lexikalisch weit bekannteren Ausdrucks ist hingegen völlig vage. Für die Sprecher, welche die Semantik von ubac beherrschen, sind die behandelten Toponyme Gattungseigennamen (Nübling u.a. 2015, 44, nach Roland Harweg), da das in allen drei Fällen verwendete Appellativum die Kategorie des Referenzobjekts unmittelbar (Berghang) oder metonymisch (Objekt am Berghang) mitbezeichnet. Die kartographisch strenge Normierung der Setzung oder Nichtsetzung des bestimmten Artikels vermag subtil und genau den Typ des geographischen Referenzobjekts (versant vs. lieu-dit, gegebenenfalls lieu-dit habité oder non habité) zu indizieren.
Die Semantik von ubac ist verknüpft mit einer Kenntnis der Sachen, die seit gut einhundert Jahren von der Schule aufgrund fachwissenschaftlicher Erkenntnisse vermittelt wird; ursprünglich beruhte sie auf einer bäuerlichen, im Massif des Maures vor allem forstwirtschaftlich geprägten, ja umfassend lebensweltlichen Praxis, die sich sprachlich des dem Untergang geweihten und nur noch museal bewahrten und aufbereiteten Provenzalischen bediente. Ein entsprechend provenzalisch-französisches Glossotop (Krefeld 2004; vgl. Tacke 2015, 48f.) als Ausdruck dieser Lebenswelt existiert trotz mancher diskursiver "Überhöhung" des Okzitanischen (Tacke 2015, 157), von der man in unserem Beispiel allerdings kaum sprechen kann, nicht mehr. Der Verlust von beidem, bäuerlicher Praxis und bäuerlicher Sprache (dem freilich der relative Gewinn des Wohlstands durch Tourismus gegenübersteht), führt auch zur allmählichen Demotivierung von Toponymen wie den hier betrachteten, wobei verlorengegangene Praxis gegen papiernes Schulwissen eingetauscht werden mag. In dieser Hinsicht gewinnen Eigennamen wie L’Hubac du Bleu und L’Hubac Bleu zusätzlich zur Orientierungs- auch eine – wie das Museumsobjekten angemessen ist – Memorialfunktion hinzu. Die Menschen, die in den Häusern und Villen am Hubac du Bleu wohnen, werden – wenn sie denn sich über die Namen der Orte informieren, an denen sie heute dauerhaft oder als Touristen kurzzeitig wohnen –, an eine Zeit und eine Kultur erinnert, die sie, zweifellos zumeist ungewollt, mitgeholfen haben zu verdrängen.
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