Über ‘Dächer’, ‘Schirme’ und Diversität – Sprachsoziologie im kommunikativen Raum

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Schlagwörter: kommunikativer Raum , digitale Medien , Heinz Kloss , Sprachsoziologie , Dachsprache

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  1. Referenz auf den gesamten Beitrag:
    Thomas Krefeld (2021): Über ‘Dächer’, ‘Schirme’ und Diversität – Sprachsoziologie im kommunikativen Raum, Version 5 (02.04.2021, 10:50). In: Korpus im Text, Serie A, 48821, url: http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=48821&v=5
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Dieser Beitrag wurde anlässlich der Kick-off-Tagung des Master-Studiengangs 'Mehrsprachigkeit und Regionalität' geschrieben und an der Universität Regensburg vorgetragen.

1. Sprache in der Gesellschaft

Mindestens zwei der sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen lassen in ihren Namen erkennen, dass sie sich mit der Sprache als zentraler Instanz für das Funktionieren menschlicher Gruppen und Gesellschaften befassen: die Soziolinguistik und die Sprachsoziologie. Das Aufgabengebiet des zuerst genannten Bereichs ist nicht klar abgegrenzt; manche fassen den Begriff sehr weit und schließen alle nicht systemlinguistischen Fragen ein; andere sehen darin das spezifische Teilgebiet der Variations- und Varietätenlinguistik, das sich der sozialen Dimension der sprachlichen Variation (Diastratik) widmet. Die Sprachsoziologie ist schärfer umrissen, denn es geht um den Status der Sprachen in der Gesellschaft; allerdings wäre es wohl angemessener von einer soziologischen Linguistik zu reden. Geprägt wurde der Ausdruck von Heinz Kloss 1978, einer  erstmals 1952 erschienenen Arbeit, die verzögert und selektiv rezipiert wurde. Das ursprüngliche sprachsoziologische Konzept ist also in die Jahre gekommen und revisionsbedürftig. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch lohnenswert, die gesellschaftliche Dimension der Sprachen neu zu modellieren;  einige variations- und medienlinguistisch pointierte Anregungen dazu werden im Folgenden gegeben.

2. ‘Dächer’

Mindestens zwei Prägungen aus der Sprachsoziologie von Heinz Kloss sind in den Mainstream des sprachwissenschaftlichen Diskurses gelangt und haben auch über die eigentliche Intention ihres Autors hinaus ein stimulierendes semantisches Potential entfaltet, nämlich seine ‘Ausbau’- und ‘Dach’metaphorik. Das erhaltene Inhaltsverzeichnis einer nicht ausgeführten Schrift aus dem Jahre 1944 zeigt im Übrigen, dass der Ausbaubegriff älter als 1952 ist und schon im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Interesse an der Einbindung deutschsprachiger Gruppen außerhalb des damaligen Deutschen Reiches entstand, genauer gesagt: im Kontext des  Deutschen Ausland-Instituts in Stuttgart, an dem Kloss von 1927-1954 beschäftigt war1. Aber beide Metaphern erscheinen im Druck  erst in Arbeiten aus der Nachkriegszeit und lassen keinen direkten, expliziten Zusammenhang mit germanophiler Ideologie (mehr) erkennen; so bezieht sich Kloss 1978 trotz des Titels, der von "neuen germanischen Kultursprachen" spricht, in allgemein typologischer Perspektive auf zahlreiche nicht germanische Sprachen, wenngleich der Ausdruck Kultursprachen natürlich in durchaus wertender, ideologischer Voreinstellung impliziert, es gäbe nicht kulturell verankerte Sprachen.2 Jede Sprache ist ja als solche eine der fundamentalen kulturellen Techniken ihrer jeweiligen Sprechergemeinschaft. 

Wissenschaftsgeschichtlich besonders bemerkenswert ist der Aufstieg der ‘Dach’metapher, denn im Unterschied zum programmatisch ganz zentralen Konzept des Ausbaus 3  wird sie eher beiläufig gebraucht; der Begriff wird indirekt eingeführt, nämlich in der Überschrift des kurzen Kapitels über "Dachlose Außenmundarten" (Kloss 1978, 60-63). Dort wird gesagt, dass sich eine "Mundart gleichsam unter dem Dach der ihr linguistisch zugeordneten Schriftsprache" oder aber "ohne das schützende Dach dieser Hochsprache" (Kloss 1978, 60)4 entwickelt. Den deutlich weniger terminologischen Charakter dieses Ausdrucks sieht man schon daran, dass synonym auch von "überwölbender Sprachform" (Kloss 1967, 13) die Rede ist. Nicht metaphorisch an der sprachwissenschaftlichen Verwendung der beiden Ausdrücke ‘Dach’  und ‘Gewölbe’ ist übrigens ihre räumliche Bedeutung: Überdacht werden Sprachen nicht als solche, sondern in  ihren traditionellen Verbreitungsgebieten oder in Teilen davon. Vor diesem Hintergrund erscheint die Welt, wie z.B. Europa, auf der Ebene der Dachsprachen als ein Mosaik klar abgegrenzter sprachlicher Territorien, die sehr deutlich mit politischen Gebieten korrespondieren; teils werden Staaten, teils Regionen einzelner Staaten überdacht, die gelegentlich, wie im Fall des Katalanischen (Abkürzung auf der folg. Karte: ca), weitgehende Autonomie genießen:

Europa der Dachsprachen (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Europallingues.jpg)

Unter jedem Territorium liegt die Ebene der kleinräumigen und lokalen Mundarten, wie die folgende Karte am Beispiel des Deutschen, Niederländischen und Luxemburgischen zeigt:

Überdachten Mundarten in den Niederlanden, Deutschland, Luxemburg, der Schweiz und Österreich (https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Dialekte#/media/Datei:Deutsche_Dialekte.PNG)

Die komplexe Mehrsprachigkeit unseres Kontinents präsentiert sich, mit anderen Worten, als räumliches Nebeneinander von mehr oder weniger großen einsprachigen Gebieten., die jeweils getrennt, im Rahmen nationaler und einzelphilologischer Forschungstraditionen top down untersucht werden, gewissermaßen vom ‘Dach’ des Standards hinunter in den Keller der Dialekte. Diese traditionelle Vorgehensweise der Dialektologie verzerrt oft die historischen Verhältnisse;5 sie ist in vielen Regionen und vielleicht sogar ganz grundsätzlich unangemessen, da zahlreiche sprachliche Merkmale über die Sprachgrenzen hinaus verbreitet sind. Im Projekt VerbaAlpina (vgl. Krefeld/Lücke 2014-) wurde daher das Konzept einer interlingualen Geolinguistik  entwickelt (vgl. Krefeld 2018q und vor allem Krefeld 2018ab).  

Die vergleichende (interlinguale) Analyse mehrerer Sprachen ist jedoch nicht nur in Regionen mit traditionellen Sprachgrenzen sinnvoll, sondern auch im Gefolge von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit. Migrationsvarietäten fehlt zwar oft das sprachlich ähnlichste Dach, allerdings befinden sie sich deshalb nicht automatisch in einer Situation der Dachlosigkeit. Vielmehr gelangen sie in neuzeitlichen Verhältnissen unter ein Dach mit größerem Abstand (unter eine ‘andere’ Dachsprache), so dass womöglich keinerlei Verständlichkeit zwischen überdachender und überdachter Varietät mehr besteht. Diese Konstellationen implizieren ein starkes Verdrängungpotential; aber unabhägig von der Widerstandsfähigkeit (oder: Resilienz) der überdachten Varietäten/Sprachen wird in der Regel eine doppelte Dynamik freigesetzt. 

2.1. Konservierung unter fremden Dach

Unter einem Dach mit großem Abstand werden Merkmale konserviert, die unter einem sehr ähnlichen Dach womöglich abgebaut werden, weil sich das entsprechende Merkmal der Dachvarietät durchsetzt. Dazu ein Beispiel aus dem Atlante linguistico della Calabria (AsiCa2.0); in diesem kleinen Atlas werden identische Typen von Sprecher*innen kalabrischer Dialekte verglichen, die teils in den traditionellen Orten in Italien, teils in Deutschland leben. Die kalabrischen Dialekte kannten traditionell ausschließlich den Typ avere ‘haben’ als Tempusauxiliar im Aktiv; hier ein Beispiel:

Maria sə n  [h]a  ghjut  sentsa mi salutarə.
  3. Pers. Präs. avere Part. Perf. jiri 'gehen'  
F13: ‘Maria se n'è andata senza salutarmi.’  (‘Maria ist gegangen ohne mich zu grüßen.’) (Beleg - Karte)

Das entspricht dem Spanischen und Rumänischen6, die beide ebenfalls den Typ sein’ als Tempusauxiliar im Aktiv nicht kennen:

span. María se ha ido sin despedirse de mí.
rum. Maria a plecat fără să mă salute. 

In Kalabrien ist die exklusive Verwendung von avere jedoch offensichtlich regressiv, wie die bereits zitierte Karte zeigt; man beachte, dass sich hier die älteren männlichen Sprecher im deutschen Migrationskontext (zur Typologie der Informanten ) als konservativ erweisen.

2.2. Innovation unter fremdem Dach

Andererseits führt der Kontakt mit einem  sehr distanzierten, d.h. sprachlich nicht verwandten Dach zu anderen Innovationen als unter einem eng verwandten Dach. Besonders leicht lassen sich solche Phänomene im Lexikon zeigen. Charakteristisch sind Entlehnungen, die mit territorialen (staatlichen) Institutionen verknüpft sind; sie führen oft zu Konvergenzerscheinungen zwischen Sprachen unter einem gemeinsamen Dach.  Ein bekanntes Beispiel aus der Germania italiana ist ita. ammeldarsi ‘sich beim Einwohnermeldeamt anmelden’, das in die Varietäten der in Deutschland lebenden Italiener fest integriert ist, wie die morphologische Adaption an die Konjugation zeigt (vgl. Krefeld 2019z; ).

Die Sprechergemeinschaften anderer romanischer Sprachen zeigen ganz analoge Entlehnungen:

2.2.1. Spanisch

Im folgenden Beispiel wird das maskuline Substantiv el ameldung und das reflexive Verb ameldarse verwandt:

"Cuento como ha sido nuestra experiencia en el proceso de tramitar el permiso de residencia de familiar de la UE en Alemania, por si a alguien más se le ocurre la brillante idea de emigrar a Alemania con churri noUE.

Veamos, el primer paso es hacer el ameldung en la localidad de residencia. Para eso hará falta: pasaportes y contrato de arrendamiento. Ahí es importante decirle al funcionario de turno que os ponga juntos y como casados (dando los datos de fecha y lugar del matrimonio), a nosotros no nos pidieron que presentasemos ningún papel que certificase el matrimonio (aunque teníamos el libro de familia y un certificado) pero imagino que tuvimos suerte.
Ahí en el ameldung, el ciudadano Europeo deberá rellenar insitu una solicitud del permiso de residencia y trabajo para ciudadanos Europeos (Freizügigkeitsrechts) que tardará entre 4 y 6 semanas en llegar a vuestro domicilio por correo postal (nosotros nos ameldamos el 10.10 y el permiso está firmado con fecha 21.11)

De ahí el siguiente paso es contratar un seguro, DKV por ejemplo tiene un muy "apañado" por sólo 103 € al mes :S Es para familiares de Ex-patriados en Alemania y no hacen demasiadas preguntas ni piden pruebas de haber estado asegurado con anterioridad, etc (o por lo menos a nosotros no nos han pedido nada).

Una vez empadronados (ameldung)y con la tarjeta del seguro más el certificado de la poliza (imporante tener la tarjeta y no sólo el número de póliza) hay que ir al Alien Department (Ausländerbehörde) de vuestra zona y comenzar el procedimiento para obtener la tarjeta de residencia(Aufenthaltskarte). 

Papeles que mínimo van a pedir (aunque queda a discrección del funcionario):

- Contrato de arrendamiento
- La tarjeta del seguro
- Fotocopias de los pasaportes de ambos
- Ameldung
- Certificado de Matrimonio (en nuestro caso, como figurabamos como casados en el ameldung, con eso bastó 😛 de ahí lo de empadronarse como casados, porque así nos libramos de tener que hacer traducciones del libro de familia o el certificado de matrimonio, que el nuestro al ser oficiado en un registro de españa en el extranjero [embajada] pues para conseguir el plurilingüe es un coñazo que tarda casi 2 meses)
- 1 Fotografía
- Prueba de fondos (básicamente quieren ver que tenéis dinero para subsistir, nosotros presentamos certificados de mi banco en España y no pusieron muchas pegas)

Y no mucho más, si el funcionario de turno anda de buenas, en ese mismo momento tomará las huellas y los datos biométricos (color de pelo, piel y ojos, altura, etc) y previo pago de 28,80 € esperar que en 4 a 6 semanas llegue una carta al domicilio con un PIN y un nº de tlfn para llamar e ir a recoger la eAT (permiso de residencia electrónico) que es como un NIE español (con chip).

Una vez con ese permiso de residencia y para poder trabajar, hay que conseguir la Lohnsteuerkarte (tarjeta fiscal), normalmente se consigue en el Finanzamt ... pero parece ser que a partir del 2011 ya no es necesaria, puesto que ahora te envían a casa automáticamente al ameldarte un número fiscal ( Identifikationsnummer) y en este 2012 parece que quieren implementar una Elektronische Lohnsteuerkarte pero no parece que anden muy por la labor :S..... por lo que en todos lados siguen pidiendo la Lohnsteuerkarte de toda la vida 🙁 [...]" (Quelle vom 27 Jan 2012 - 12:46)

2.2.2. Portugiesisch

Auch im Portugiesischen erhält das Substantiv o anmeldung das unmarkierte maskuline Genus:

"Como fazer o Anmeldung em Berlim - guia definitivo!
ALEMANHA , BERLIM , BUROCRACIAS NA ALEMANHA , EUROPA
Uma das palavras que logo começam a fazer parte do vocabulário de quem decide morar na Alemanha, quer fale alemão ou não, é o famoso Anmeldung.
Vamos começar pelo começo: o que é Anmeldung? No nosso bom português, essa palavra difícil significa "registro", que deve ser feito para registrar a residência na cidade onde se está morando.
Nas terras alemãs, infelizmente, mostrar uma fatura de luz/água/etc no seu nome NÃO serve como comprovante de residênia. 7x2, Brasil! haha" (Quelle)

2.2.3. Rumänisch

Der folgende Beleg zeigt ein morphologisch vollkommen adaptiertes Verb a ameldui in der Form des Partizips Perfekt (amelduit) und als nominalisierter Infinitiv mit enklitischem Artikel (amelduirea); das feminine Genus entspricht der normalen rumänischen Nominalisierungsregel (Infinitiv mit Suffix amelduire + Art. a) und spiegelt nicht das deutsche Genus:

"Gina ungur

Buna!ma numesc Gina locuiesc cu familia la Passau de 1luna dar amelduirea o avem de un an si ceva cind am închiriat apartamentul in care locuim.problema e ca am găsit in cutia poștala facturi de la radio tv venite din momentul la care ne-am amelduit.am primit si eu si fiica mea facturi in valoare de 655 € in condițiile in care nu am făcut abonament PTR astfel de servicii.puteti sa ma ajutați cu un sfat?" (Quelle)
 
Entsprechende Parallelen ließen sich vermutlich für etliche andere Sprachen der in Deutschland lebenden new minorities finden; so scheint im Türkischen anmelduk (yapmak) ‘Anmeldung (machen)’  geläufig zu sein (vgl. Tunç 2012, 90), wie sich durch eine einfache Googleabfrage bestätigen lässt (). 

2.3. Transfer von der Sprachplanung in die Sprachgeschichte

Der heute übliche, griffige Terminus ‘Dachsprache’ findet sich bei Kloss nicht; er geht - wie es scheint - auf die Klossrezeption durch Muljačić 1989 zurück. Mittlerweile hat er sich jedenfalls so etabliert, dass er ganz selbstverständlich, ohne jede Quellenangabe gebraucht wird (vgl. Riehl 2004, 120).  Zu dieser Selbstverständlichkeit gehört auch seine (eigentlich gar nicht selbstverständliche) Anwendung auf die Diachronie; denn bei Kloss bezeichnet die Überdachung eine Eigenschaft der vollausgebauten ‘Hoch-’ oder ‘Standardsprachen’  und ‘Ausbau’ wird ausdrücklich, und nicht ohne Emphase, als programmatische Aufgabe der Sprachplanung und Sprachpolitik verstanden:

"Die Bezeichnung ‘Ausbausprachen’ könnte umschrieben werden als ‘Sprachen, die als solche gelten aufgrund ihres Ausbaus, ihres ‘Ausgebautseins’ zu Werkzeugen für qualifizierte Anwendungszwecke und -bereiche’. Sprachen, die in diese Kategorie gehören, sind als solche anerkannt, weil sie aus- oder umgestaltet wurden, damit sie als standardisierte Werkzeuge literarischer Betätigung dienen können. Eine Bezeichnung wie ‘Ausbau’ stellt auf gezielte Sprachpolitik ab und hilft uns, ein Mißverständnis zu vermeiden, zu dem der geläufigere und daher an sich näherliegende Ausdruck ‘Entwicklung’ leicht verführen könnte: daß nämlich ‘Ausbau’ statt durch systematische Sprachpflege und -planung ebensogut zustandekommen könne durch jenen langsamen, fast unmerklichen und völlig ungelenkten Sprachwandel, den wir als einen ‘natürlichen’ Prozeß zu bezeichnen pflegen." (Kloss 1978, 25)

Der Transfer in die Sprachgeschichtsschreibung wurde womöglich durch den ebenfalls im Titel prominent gesetzten und ambigen Ausdruck ‘Entwicklung’ befördert (vgl. die in Anm. 3 zitierte Reformulierung des Titels durch Kloss selbst).  Wichtiger ist jedoch, dass sich die konkrete Ausgangsbedeutung der Überdachungsmetapher in idealer Weise anbietet, um die räumliche Verbreitung einer Hochsprache zu bezeichnen, die sich ausgehend von bestimmten kommunikativen Funktion sekundär über die historisch primären lokalen Idiome legt.

2.4. Dialektstatus als Überdachungsprodukt 

An dieser Stelle ist eine wichtige varietätenlinguistische Präzisierung erforderlich, denn der Ausdruck Dachsprache ist (ebenso wie ‘Hoch’- und ‘Standard’sprache) vor dem Hintergrund eines räumlichen Kontinuums  lokaler Mundarten - also gewissermaßen in endogenen Räumen - widersprüchlich oder mindestens leicht missverständlich: Es handelt sich eigentlich um Varietäten von Sprachen, die als gemeinsame, identitätsstiftende Bezugsvarietät für alle überdachten Mundarten dienen. Erst im Gefolge der Überdachung werden die überdachten Mundarten zu Varietäten (genauer: zu Dialekten) einer gemeinsamen Sprache, die nicht selten den selben Namen wie die standardisierte Dachvarietät trägt. Sprachen sind Gefüge von Varietäten, die durch das Dach einer gemeinsamen Standardvarietät zusammengehalten werden. In historischer Sicht gehen diese überdachenden Varietäten auf einzelne Mundarten oder mehrere, in einer Koiné zusammengekommene Mundarten zurück. In sehr grober Schematisierung lassen sich die italienische Sprachgeschichte und die darin implizierten sprachsoziologischen Statusänderungen in zwei Schnitten darstellen; in einer frühen Phase muss man vom Nebeneinander lokaler (oder: arealer)  romanischer Sprachen ausgehen, die sich in ihrem Status nicht wesentlich unterscheiden:

Piem. Lomb. Venez. Tosk. Neap. Sizil. usw.
Die Italoromania im Jahre 1100: ein Mosaik lokaler romanischer Sprachen 

Auf der Grundlage des toskanischen Dialekts von Florenz wurde dann im 16. Jahrhundert eine Standardvarietät fixiert, die heute in ganz Italien und im angrenzenden schweizerischen Kanton Tessin sowie in drei kleinen Tälern des Kantons Graubünden als Dach etabliert ist:

⇐     überdachende Standardvarietät ⇒
überdachte Dialekte
Piem. Lomb. Venez. Tosk. Neap. Sizil. usw.
Das Italienische der Gegenwart: ein zweistöckiges Varietätengefüge

In räumlicher Sicht handelt es sich um ein staatsprachliches Territorium (T), das dialektale Areale (A) einschließt, ohne dass völlige Kongruenz gegeben wäre:

  • Dialektareale können sich jenseits von Staatsgrenzen fortsetzen; so wird z.B. das Alemannische der Schweizer Kantons Wallis (oder: das Walserische) auch in einigen italienischen Gemeinden gesprochen (vgl. diese Karte).
  • Außerdem kann es Areale (A) geben, in denen die Dialekte vollkommen verdrängt wurden.
Staatssprachliches Territorium (T)
  Dialekt-
areal (A 1)
Dialekt-
areal  (A 2)
  Dialekt-
areal (A 3)
Dialekt-
areal (A n)
 
             

2.5. Ausbau, Überdachung und Mediengeschichte  

Kloss bindet jeglichen sprachlichen Ausbau an das Medium der Schrift:

"Die Ausbausprachen hingegen würden nicht als Sprachen, sondern nur als Dialekte behandelt werden, wären sie nicht das Ausdrucksmittel einer vielseitigen, besonders auch eine beträchtliche Menge von Sachprosa umfassenden Literatur geworden." (Kloss 1978, 25)

Er sieht darüber hinaus jedoch auch sehr klar die Bedeutung mündlicher Verbreitungswege, nämlich die als"Zusprachetexte" (39) bezeichneten Diskurse,

"mit denen sich jemand mündlich
– an einem Vortragspult
– auf einer Kanzel
– im Rundfunk
– im Fernsehen
an eine größere Zuhörerschaft wendet. [...] für die in quantitativer Hinsicht heute wichtigsten, nämlich die durch Rundfunk und Fernsehen verbreiteten, läßt sich die Bezeichnung ‘Medientexte’ vertreten". (Kloss 1978, 38 f.)

Man darf also feststellen, dass in der ursprünglichen Konzeption der Sprachsoziologie bereits eine medienlinguistische Komponente angelegt ist, obwohl ein klarer Medienbegriff fehlt; schon das Zitat zeigt, dass mit ‘Medien’ ausschließlich die audiovisuellen Massenmedien gemeint sind, und die Schrift bzw. der Druck nicht dazu gerechnet werden. Eine revidierte Modellierung müsste unbedingt eine elaborierte Medientheorie beinhalten. Um die historische Existenz einer Dachsprache einschließlich der Gegenwart angemessen erfassen zu können, ist es notwendig  die  institutionelle Verankerung der Varietäten und ihre medialen Realisierungsformen zu berücksichtigen. Grundlegende Fragen lauten:

  1. Welche Varietäten (welcher Sprachen) werden in welchen staatlichen und religiösen Institutionen verwandt, und wie werden sie in Bildungseinrichtungen vermittelt (auch wenn diese Verwendung und Vermittlung nicht explizit sprachenrechtlich niedergelegt sind)?
  2. Schließt die institutionelle Verwendung und Vermittlung einer Varietät andere Varietäten (womöglich ganz anderer Sprachen) aus?
  3. Welche verfügbaren Medien werden bei 1. und 2. eingesetzt?
  4. Welche Institutionen, wie etwa Bibliotheken, garantieren die Verfügbarkeit medial konservierter Texte?

Kloss hat sich an mitteleuropäischen Verhältnissen seiner Zeit orientiert; sprachsoziologische Beschreibungen älterer oder jüngeren Konstellationen erfordern Modifikationen des Modells. Geht man in der Zeit zurück, kann man nicht umhin den Idiomen, die in den Institutionen dauerhafter Staatsgebilde etabliert waren, wie das Genuesische in der Republik Genua (Toso 2019) oder das Venezianische in der Republik Venedig (Tomasin 2001, vgl. Eufe 2006, Tomasin 2019b) den soziologischen Status von Sprachen zuzuerkennen . In diesem Zusammenhang müssen weiterhin auch bestimmte Formen institutioneller Mündlichkeit, etwa die in den beiden genannten Staaten hochentwickelte Rechtsrhetorik  als Ausbauleistung  gewertet werden.

3. ‘Schirme’

In jüngerer Zeit sind die sprachsoziologischen Verhältnisse durch die Neuen Medien ganz grundlegend verändert worden, denn die ständige Verfügbarkeit beinahe beliebiger Sprachen hat die traditionelle räumliche Bindung der Sprachen und Dialekte an spezifische Areale und Territorien sehr weitgehend relativiert: Zusätzlich zu den in den Arealen (A) traditionell seit  mehr oder weniger langer Zeit ‘beheimateten’ Dialekten und den im gesamten Territorium (T) implementierten Standardvarietäten sind überall dort, wo ein Internetzugang besteht, quasi beliebige Sprachen verfügbar, deren kommunikativer Schirm - um eine weitere Metapher zu gebrauchen - durch internetfähige Endgeräte jederzeit aufgespannt werden kann. Dadurch wird nicht nur der Konsum sprachlicher Information ermöglicht, sondern es wird eine quasi-synchrone Online-Situativität (vgl. Jakob in Vorb.) angeboten, die mindestens in Bezug auf die auditive und visuelle Modalität der nicht medialen Face-to-face-Kommunikation sehr nahe kommt. Die tiefgreifendenden Konsequenzen der medialen Sprachschirme (vgl. Dürscheid 2016) werden häufig unterschätzt (vgl. Krefeld 2015); sie betreffen ganz grundsätzlich die traditionell starke Affinität von überdachender Standardvarietät, formellem Sprachgebrauch und Schriftlichkeit und damit de facto den gesellschaftlichen Status des Sprachen:

  • Die alltägliche und hochfrequente Verwendung von Instant Messaging-Diensten (wie WhatsApp) hat eine massenhafte Vermehrung informeller Schriftlichkeit mit sich gebracht.
  • Das informelle Schreiben erfolgt in erheblichem Maße in standardfernen Varietäten, nicht zuletzt in Dialekten.
  • Auch nicht spontanes, distanzsprachliches Schreiben erfolgt verstärkt in Dialekten, die dadurch eine neue, virtuelle Option für ihre Standardisierung erhalten.7
  • Die auditive oder graphische Ausgabe der Äußerung kann unabhängig vom Schreiber/Sprecher durch das Medium übernommen werden, wenn Technologie der Sprachsynthese zur Umwandlung von Schrift in Lautsprache oder  Spracherkennung (z.B. Siri) für den umgekehrten Transfer von gesprochenen Input in geschriebenen Output eingesetzt wird.

4. Diversität

Die aus sprachsoziologischer Sicht vielleicht wichtigste Konsequenz der medialen Sprachschirme besteht wohl darin, dass solche Sprachen/Dialekte, die im Aufenthalts-/Wohngebiet eines Sprechers traditionell nicht verankert sind, die also weder den überdachten Dialekten, noch der Dachvarietät entsprechen, in der Alltagskommunikation dennoch eine selbstverständliche und zentrale Rolle spielen können. Diese enorme kommunikationspraktische Aufwertung von Sprachen/Varietäten trägt womöglich auch substantiell dazu bei, sie über die Generationenschwelle hinweg zu stabilisieren; aber in jedem Fall bewegen sich die Sprecher*innen je nach ihrer mehrsprachigen Kompetenz und je nach den entsprechenden Netzwerken in divergierenden kommunikativen Räumen; einen Eindruck von der Vielfalt gibt die Statistik der Ausländischen Bevölkerung in München.

In merkwürdigem Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass die extreme Vielsprachigkeit  unserer Umgebung, die sich virtuell im Internet bis zu einem gewissen Grad  fassen lässt, an der Oberfläche des städtischen Raums kaum zeigt und dort gewissermaßen unsichtbar bleibt. Nur ganz wenige Sprachen sind an seiner semiotischen Gestaltung  beteiligt, so in München - vor allem - das Italienische. Einen ersten, noch nicht sehr gut dokumentierten Eindruck gibt das Portal Monaco italiana, in dem - im Sinne des linguistic landscaping - italienische Schilder, Aufschriften usw., die man auf italienisch mit dem nützlichen Ausdruck scritture esposte ‘ausgestellte Schriften’ zusammenfasst,  hochgeladen werden können. Dazu gehört z.B. das folgende Hinweisschild auf eine Kanzlei:

Hinweisschild auf eine Kanzlei: Avvocato

Auch die in Deutschland (und in zahlreichen anderen Ländern) allgegenwärtigen italienischen Bezeichnungen unterschiedlicher Arten von Restaurationsbetrieben (ristorante, trattoria, pizzeria, osteria etc. ) sind dann von semiotischem Interesse, wenn ihre spezifischen Namen nicht nur auf das jeweilige Restaurant referieren, sondern darüberhinaus einen referentiellen Bezug zur räumlichen Umgebung herstellen. Darin darf man eine Identifikation mit der Umgebung, also gewissermaßen eine Form von semiotischer Aneignung sehen. Es folgen drei Beispiele: 

Die Eisdiele Al teatro - in der Nähe des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Die Pizzeria Lo studente in der Nähe der Universität

Die Trattoria La valle in der Nähe der Straße Tal

Die unübersehbar Präsenz des Italienischen und der Italiener (beides muss keineswegs zusammengehen) kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir über das tatsächliche Funktionieren der vielfältigen mehrsprachigen Netzwerke und über ihre Verflechtung kaum etwas wissen; der Forschungsbedarf ist, mit anderen Worten, erheblich (vgl. die Projektidee in Krefeld 2019ab). Vorderhand bleibt daher festzuhalten, dass die ausgeprägte Diversität der Sprecher*innen nicht durch vorschnelle Ausrichtung der Forschung auf ‘Sprachen’ und ‘Varietäten’ hintergangen werden darf. Deshalb sollte die überkommene Sprachsoziologie  durch eine Soziologie des kommunikativen Raums ersetzt werden sollte, in deren Mittelpunkt individuelle Sprecher*innen mit ihren spezifischen personen- und situationsbezogenen kommunikativen Routinen (oder: Glossotopen) stehen müssen.

Bibliographie

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  • Muljačić 1989b = Muljačić, Žarko (1989): Le ‘paradoxe élaborationnel’ et les deux espèces de dialectes dans l’étude de la constitution des langues romanes, in: Lletres asturianes, vol. 31, 43-56.
  • Riehl 2004 = Riehl, Claudia Maria (2004): Sprachkontaktforschung: Eine Einführung, Tübingen, Narr, 205.
  • Tomasin 2001 = Tomasin, Lorenzo (2001): Il volgare e la legge: storia linguistica del diritto veneziano: (secoli XIII-XVIII), Padova, Esedra editrice (Link).
  • Tomasin 2019b = Tomasin, Lorenzo (2019): Venezia, Versione 1 (28.02.2019, 19:01), in: Krefeld/Bauer 2019, München (Link).
  • Toso 2019 = Toso, Fiorenzo (2019): Il genovese. Cenni di storia linguistica, Versione 2 (22.09.2019, 14:31), in: Krefeld/Bauer 2019 (Link).
  • Tunç 2012 = Tunç, Seda (2012): Der Einfluss der Erstsprache auf den Erwerb der Zweitsprache.: Eine empirische Untersuchung zum Einfluss erstsprachlicher Strukturen bei zweisprachig türkisch-deutschen, kroatisch-deutschen und griechisch-deutschen Hauptschülern und Gymnasiasten, Münster / New York / München / Berlin, Waxmann.
Eine üble Propagandaschrift aus dieser Zeit ist Kloss 1942.
Dieser Vorbehalt kann auch nicht durch Kloss selbstkritische Bemerkungen zur Beibehaltung des Titels  der Erstausgabe von 1952  (vgl. Kloss 1978, 10-13) ausgeräumt werden, denn seine Präzisierung, ‘Kultursprache’ sei im Sinne von "Hochkultursprache" (12) zu verstehen, ist nicht weniger wertend.
Kloss schreibt in einer Bemerkung "Zum Titel des Buches" sogar, dass er anstatt "Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen" explizit den Titel "Der Ausbau gothonischer Sprachformen (oder Idiome) zu Hochsprachen" gewählt hätte, (1967, 13), wenn es sich nicht um eine Neuauflage, sondern eine  Erstveröffentlichung gehandelt hätte (Hervorhebung im Original).
Die Vorstellung , eine Mundart würde durch das hochsprachliche ‘Dach’ grundsätzlich geschützt - auch von "Schutzdach" ist die Rede - ist natürlich allzu einfach, denn Überdachung wirkt auch, wenn nicht vor allem erodierend und/oder verdrängend; es liegt nahe, in dieser Vorstellung ein ideologisches Residuum  der ‘volksdeutschen’ Propaganda im Sinne von Kloss 1942 zu vermuten.
Vgl. die kleine exemplarische Fallstudie in Krefeld 2017m zur Vorgehensweise von Kluge/Seebold 2011.
Für die spanischen und rumänischen Beispiele danke ich Martha Guzmán und Aurelia Merlan.
Allein im Bereich des Räto- und Italoromanischen gibt es 13 unterschiedliche Wikipedien vgl. Krefeld 2019z.

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