‚Emisch‘ und ‚etisch‘: Kategorien oder Paradigmen?





Schlagwörter: Clifford Geertz , deklaratives Wissen , emisch , emisch und etisch , etisch , Ethnolinguistik , Kenneth Lee Pike , Lexikographie , Paradigma , prozedurales Wissen

„I’m an alien, I’m a legal alien
I’m an Englishman in New York“  (Sting, Link)

Abstract

Wer immer sich in wissenschaftlicher Absicht mit kulturellen Techniken befasst, wie es nicht nur Linguisten, sondern Italianisten jeglicher Couleur tun, der bewegt sich unweigerlich auf zwei epistemischen Ebenen: auf derjenigen des akademischen Wissens und auf derjenigen des Alltagswissens. Während diese zweite Ebene für Disziplinen, die sich nicht mit kulturgebundenen Gegenständen befassen (wie z.B. die Physik), vollkommen irrelevant ist, kommt ihr für die Geistes- und Sozialwissenschaften, d.h. für die Humanities, sogar eine substanzielle Bedeutung zu: Elaborierte Theorie und Methdologie sind notwendig für die Dokumentation und Analyse kultureller Techniken – hinreichend sind sie nicht, denn es ist in jedem Fall das Wissen der Menschen erforderlich, durch das sie in alltäglicher Verwendung gesteuert und  reflektiert werden. Seit Pike 1954 und vor allem in der Nachfolge von Geertz 1974 werden die beiden Ebenen als ‘emisch’ (Alltagswelt aus der Innensicht) und ‘etisch’ (akademische Welt und Außensicht) bezeichnet (vgl. neuerdings Mostowlansky/Rota 2023 (2020)). Da beide Ausdrücke von Pike durch Kürzung aus den Termini phonemic und phonetic gebildet wurden, könnte man nun auf den Gedanken kommen, es handle sich um einen grundsätzlich kategorialen Unterschied, wie er sich etwa im Gegensatz von Phonem (emisch) und Phon (etisch) konsolidiert hat. Wenn es so einfach wäre, ließe sich die emische Ebene duch Vermeidung entsprechender Termini leicht ausblenden.

Die emische Herausforderung ist jedoch deutlich größer: Viele Kategorien haben einen emisch vollkommen unklaren Status, häufig selbst dann, wenn eine entsprechende Pertinenz behauptet wird, wie etwa im Fall mutmaßlich markierter Merkmalsausprägung in der Natürlichkeitstheorie. Markiertheit bedarf jedoch einer Verifikation, die auf der Grundlage des Sprecherwissens erfolgen muss. Nun zeichnen sich speziell in der italienischen Linguistik seit längerer Zeit Ansätze zu einer systematischen Ergänzung, wenn nicht Korrektur der dominant etischen Modellierung sprachbezogener Forschung aus einer konsequent emischen Perspektive ab. Allerdings handelt es sich um sehr unterschiedliche Themenfelder und Methoden, die zudem oft nicht explizit als emisch deklariert werden. Die gemeinsame, gewissermaßen axiomatische Grundüberzeugung ist jedoch bei näherem Hinsehen unübersehbar, so dass es durchaus berechtigt erscheint, von einem verdeckten Forschungsparadigma zu sprechen, das als solches aufgearbeitet werden sollte.  Dazu gehören zweifellos:

  • die teilnehmende Beobachtung in der Ethnolinguistik und Dialektologie (vgl. Plomteux 1981);
  • die Erhebung von etnotesti und insbesondere ihre lexikographische Operationalisierung durch Extraktion von Bedeutungsangaben und Verwendungskontexten, die unverändert in ein Lexikon eingehen (vgl. Sottile 2002);
  • die Erhebung von Sprachbiographien zur Analyse von migrationslinguistischen und/oder kontaktlinguistischen Szenarien (vgl. Barbarić 2015, D'Agostino 2021);
  • der vielfältige Einsatz von Perzeptionstests in der Variations- bzw. Varietätenlinguistik (vgl. Cini/Regis 2002; D'Agostino 2002, Krefeld/Pustka 2010c; Krefeld/Pustka 2014b und in der Phonologie (vgl. Greca 2022);
  • die Fundierung der lexikalischen Motivationsforschung in Assoziationstests (vgl. Marzo 2013).

Eine konsequent emische Ausrichtung verpflichtet die Forschenden schließlich dazu die terza missione (engl. third mission) der Universität anzuerkennen und die Forschungskommunikation zu überdenken: Angemessen ist nurmehr eine Publikation der Arbeit und ihrer Ergebnisse im Internet (vgl. Krefeld 2023b), denn so wird es möglich, die Informant:innen an der Aufbereitung ihrer Daten teilhaben zu lassen und ihnen die Produkte zu restituieren. Nicht ganz erspart bleibt ihnen freilich die Erfahrung einer epistemischen Entfremdung, denn Forschungsergebnisse liegen immer auf der Wissensebene des Wissenschaftlers. Immerhin lässt sich dieser Entfremdungseffekt medial mildern, indem leicht wiedererkennbare Sound und/oder Videorepräsentationen der aufgenommenen Daten zur Verfügung gestellt werden.

1. Zwei komplementäre Perspektiven auf kulturelle Techniken

Die wissenschaftliche Beschreibung kultureller Techniken durch Geisteswissenschaftler unterscheidet sich grundsätzlich von der Beschreibung natürlicher, z.B. chemischer oder physikalischer Prozesse durch Naturwissenschaftler wie Chemiker oder Physiker. Selbstverständlich können auch solche Prozesse zur Grundlage kultureller Techniken werden, wie zum Beispiel regelmäßig sich wiederholende Konstellationen von Himmelskörpern, aus denen Regeln zur Charakterisierung von Menschen und zur Vorhersage ihres Verhaltens abgeleitet werden, wie es in der Astrologie geschieht. Die Funktion kultureller Techniken, wie z.B. astrologischer Deutungen, kann nur dann richtig erfasst werden, wenn das Wissen von Menschen zugänglich ist, denen diese Techniken in ihrer Lebenswelt vertraut sind und die sie daher aus einer kulturellen Innenperspektive beschreiben können. Gegenstände der Physik und Chemie ohne jegliche alltagsweltliche kulturelle Relevanz lassen sich dagegen nur aus einer Außenperspektive verlässlich analysieren. Die beiden Perspektiven werden seit Kenneth Lee  Pike 1954 meistens als etisch (‘von außen’) und emisch (‘von innen’) bezeichnet:

„I coined the words etic and emic from the words phonetic and phonemic, following the conventional linguistic usage of these latter terms. The short terms are used in an analogous manner, but for more general purposes.“ (Pike 1967, 37)

Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Begriffspaar von einem Linguisten lanciert wurde. Pike selbst weist darauf hin, dass die Unterscheidung der Sache nach bereits deutlich älter ist und schon von Edward Sapir 1927a formuliert wurde (vgl. Pike 1967, 39), der bekanntlich der Ethnologie sehr nahe stand. Die Sprache zeichnet sich ja unter den kulturellen Techniken dadurch aus, dass sie bei hoher Varianz allen Menschen zu eigen ist– wie etwa auch die Ernährung –, darüber hinaus jedoch einen privilegierten Zugang zur Kognition liefert. Das Sprechen impliziert bereits in der vollkommen vortheoretischen Alltagspraxis Reflexion über die gebrauchte Sprache, denn es ergibt sich ständig die Notwendigkeit, die Aussagen zu präzisieren, zu korrigieren, zu erweitern usw. Metasprachliche Verwendung ist, mit anderen Worten, immer mit im Spiel.

Weiterhin stellt Pike fest, dass die beiden Begriffe nicht als Dichotomie zu verstehen seien:

It must be further emphasized that etic and emic data do not constitute a rigid dichotomy of bits of data, but often present the same data from two points of view. Specifically, for example, the emic units of a language, once discovered by emic procedures, may be listed for comparative purposes with the similar emic units from other languages so studied. The moment that this has been done, however, the emic units have changed into etic units, since they are divorced from the context of the structure of the language from which they have come, and are viewed as generalized instances of abstract stereotypes, rather than as living parts of an actual sequence of behavior events within a particular culture.“ (Pike 1967, 41)

Die Herkunft des Begriffspaars gehört in eine Tradition, die man im Nachhinein und speziell in italianistischer Sicht als ‘ethnolinguistisch’ bezeichnen darf (vgl. Krefeld 2021p). Die Ethnolinguistik wird hier als eine Disziplin verstanden, die sprachliche Phänomene und ihre Veränderungen im kulturellen Kontext, d.h. in der dynamischen lebensweltlichen  Praxis der Sprecher*innen beobachtet und analysiert. 

Es kann daher nicht überraschen, dass  die Rezeption der Begriffe ‘emisch’ und ‘etisch’ gerade  in der Ethnologie sehr stark war (vgl. Geertz 1974).  Bemerkenswert ist jedoch die Rückwirkung dieser ethnologischen Rezeption auf die Linguistik, denn sie ging mit einer deutlich veränderten, nämlich epistemologisch verengten Lesart einher, die sich in der Linguistik etablierte. Wie das folgende längere Zitat zeigt, wurde die etische Perspektive  mit der Wissenswelt von ‘Spezialisten’, idealerweise von Wissenschaftler*innen, verknüpft, die sich mit kulturellen Techniken aus Gründen befassen, die jenseits der Verwendung  der Techniken selbst liegen. Die emische Perspektive wurde dagegen ausschließlich mit der Wissenswelt der Personen identifiziert, die die jeweiligen Techniken als solche nutzen. Man beachte übrigens, dass diese Nutzer selbst die eigentlichen ‘Spezialisten’ für eben diese kulturellen Techniken sind. Geertz bezeichnet jedoch gerade die Beobachter ‘von außen’, die Pike gelegentlich explizit ‘aliens’ nennt, als ‘specialists’:

„As a matter of fact, this general problem has been exercising methodological discussion in anthropology for the last ten or fifteen years; Malinowski's voice from the grave merely dramatizes it as a human dilemma over and above a professional one. The formulations have been various: 'inside' versus 'outside', or 'first person' versus 'third person' descriptions; 'phenomenological' versus 'objectivist', or 'cognitive' versus 'behavioral' theories; or, perhaps most commonly 'emic' versus 'etic' analyses, this last deriving from the distinction in linguistics between phonemics and phonetics, phonemics classifying sounds according to their internal function in language, phonetics classifying them according to their acoustic properties as such. But perhaps the simplest and most directly appreciable way to put the matter is in terms of a distinction formulated, for his own purposes, by the psychoanalyst Heinz Kohut, between what he calls 'experience-near' and 'experience-distant' concepts.

An experience-near concept is, roughly, one that someone--a patient, a subject, in our case an informant--might himself naturally and effortlessly use to define what he or his fellows see, feel, think, imagine, and so on, and which he would readily understand when similarly applied by others. An experience-distant concept is one that specialists of one sort or another--an analyst, an experimenter, an ethnographer, even a priest or an ideologist--employ to forward their scientific, philosophical, or practical aims. "Love" is an experience-near concept, "object cathexis" is an experience-distant one. "Social stratification" and perhaps for most peoples in the world even "religion" (and certainly "religious system") are experience-distant; "caste" and "nirvana" are experience-near, at least for Hindus and Buddhists.“ (Geertz 1974, 28)

Im Verständnis von Geertz stehen ‘emisch’ und ‘etisch’ also nicht für komplementäre Perspektiven auf womöglich identische Ausschnitte der Wirklichkeit (Pike spricht von data),  als vielmehr für unterschiedliche Konzept- und Erkenntnisbereiche, die einerseits der wissenschaftlich und andererseits alltagsweltlicher Herkunft sind; die beiden Ausdrücke werden somit kategorial aufgefasst. Wenn ‘emisch’ in diesem Sinn mit dem Wissen der Nicht-Wissenschaftler (’Laien’) gleichgesetzt wird, fällt der Begriff in den Forschungsbereich der ‘folk linguistics’ oder ‘linguistique populaire’ bzw. ‘Laienlinguistik’ – einer terminologisch ebenfalls wenig standardisierten Disziplin (vgl. Becker 2024):

“par linguistique populaire au niveau de l’objet, on entend les formes des représentations et des pratiques épi- et métalinguistiques (perceptions, savoirs, discours, interventions, etc.), exprimés en général par les locuteur·trice·s ordinaires ou les non-linguistes, qui se situent en dehors du champ scientifique ou des contextes hégémoniques institutionnalisés. Au niveau méta, l’étude de cet objet est également appelée linguistique populaire” (Becker 2024, 4)  

Die beiden eingangs skizzierten Konzeptionen des Gegensatzes ‘etisch’ vs. ‘emisch’ von Pike und Geertz sind zwar suggestiv, aber nicht hinreichend  klar, so dass sie  begrifflicher Schärfung bedürfen. Immerhin zeichnen sich drei mit einander verquickte Dimensionen ab, die man analytisch klar trennen sollte:

  • zwei Beobachtungsperspektiven: von innen (emisch) oder von außen (etisch);
  • zwei epistemologische Horizonte: der theoretisch-wissenschaftliche und der praktisch- alltagsweltliche;
  • zwei Formen kognitiver Repräsentation: ein prozedurales Wissen, d.h. etwas ausführen zu können,  und ein deklaratives Wissen über das Prozedurale, d.h.,  es beschreiben und kommentieren zu können.

Auf dieser Grundlage lässt sich nun ein methodologischer Rahmen entwickeln, der es gestattet, die bei der Erforschung kultureller Techniken involvierten Partizipanten und Gegenstände zu verorten:

Drei Dimensionen in der Erforschung kultureller Techniken: zur Verortung von Exploratore*innen/Wissenschaftler*innen,  Informant*innen/Quellen und Daten

Dieses Modell erlaubt es einerseits paradigmatische und kategoriale Aspekte der emisch-etisch-Unterscheidung von einander zu trennen (vgl. DEFAULT) und andererseits einzelne Forschungsleistungen im Hinblick auf diese Unterscheidung zu profilieren (vgl. DEFAULT).

2. Paradigmatische und kategoriale Aspekte

Jede linguistische Forschung, die sprachliche Einheiten direkt, im Kontakt mit individuellen Sprecher*innen erhebt (und nicht nur aus bereits vorhandenen Texten extrahiert), ist bis zu einem gewissen Grad emisch ausgerichtet, insbesondere dann, wenn die jeweilige Sprache oder Varietät (speziell ein Dialekt) erstmals beschrieben wird: Dabei werden ja  Formen geliefert, die bis zu diesem Zeitpunkt nur den Sprecher*innen bekannt und daher per definitionem emisch sind. Dieses Material geht auf das prozedurale Wissen der Sprecher*innen zurück.

In dem Maße wie sie jedoch mit Bedeutungsangaben in anderen Beschreibungssprachen und mit allgemeinen grammatikalischen Kategorien verknüpft werden, verlieren sie ihren emischen Status und verwandeln sich in etische Daten. Die elementare emische  Komponente, die auf dem prozeduralen Wissen der Informant*innen beruht, ist in den empirisch arbeitenden sprachwissenschaftlichen Disziplinen einerseits trivial und andererseits kategorial instabil.

Nicht trivial ist dagegen die systematische Erhebung deklarativer emischer Daten, wenn metasprachliche und/oder perzeptive Kommentare elizitiert werden. Erst dadurch kann der emische Status der prozeduralen Kategorien stabilisiert und gesichert werden.  Wenn irgend möglich, sollten auch die deklarativen Kategorien nicht in etischer Weise durch die Forscher vorgegeben werden, sondern ebenfalls emische Kategorien aufnehmen, wie es in der wegweisenden Arbeit von Sebastian Postlep 2010 exemplarisch durchgeführt wurde.

Deklarative emische Daten wurden in der Italianistik mittlerweile in ganz unterschiedlichen Bereichen erhoben und analysiert, so in der Varietätenlinguistik und speziell in der Dialektologie (vgl. die Beiträge in Cini/Regis 2002, D'Agostino 2002, Krefeld/Pustka 2010c sowie die Arbeiten von Ruffino 2006 und  Piredda 2013), in der Kontakt- und Migrationslinguistik (vgl. Barbarić 2015 und D'Agostino 2021), in der Phonetik (vgl. Greca 2022) und in der Semantik (vgl. Marzo 2013 u.a.). Man darf aus diesem Grund von einem emischen Forschungsparadigma sprechen.

Es muss allerdings auch festgehalten werden, dass die de facto emische Ausrichtung (meistens) nicht explizit als solche benannt wird. Es wäre daher überzogen den Ausdruck ‘Paradigma’ im strengen wissenschaftstheoretischen Verständnis (vgl. Kuhn 1962) zu verwenden. Vielmehr handelt es sich um ein verdecktes, terminologisch weder einheitliches noch konsistentes Paradigma. 

Das emische Paradigma

3. Ethnolinguistik: in amerikanischer und italienischer  Forschungstradition

Die oben angeführten Referenzen aus Sapir, Pike und Geertz weisen auf eine US-amerikanische Forschungstradition hin, in der Ethnologie und Linguistik, auch Psychologie, in den Arbeiten ein und derselben Persönlichkeit zusammengeführt werden; diese unter dem Namen ‘cultural anthropology’ etablierte Richtung lässt sich auch über Sapir hinaus bis zu Franz Boas (1885-1942) verlängern. Die daraus hervorgegangenen linguistischen Arbeiten sind auf der Grundlage gesprochener Sprache entstanden, genauer gesagt: gesprochener Sprache in Kulturen ohne oder mindestens ohne ausgeprägte Schriftlichkeit. Es handelt sich also um eine ganz und gar unphilologische Sprachwissenschaft.

Die Bezeichnung ‘Ethnolinguistik’ ist der amerikanischen Tradition allerdings fremd. In Italien wurde der Ausdruck durch den leider viel zu früh verstorbenen Giorgio Raimondo Cardona (Link) etabliert (vgl. 1976, 1985, 1995 [1985]). Cardona war allgemeiner Sprachwissenschaftler; in seinen Arbeiten werden zwar einige italienische und romanische Beispiele analysiert; aber sie sind aus der Sicht dieser Disziplinen vor allem von theoretischem Interesse, da sie die kulturelle Konditionierung zahlreicher sprachlicher Phänomene aufdeckt. Im Zentrum steht das Problem der Kategorisierung der vielfältigen DINGE der Welt durch ihre lexikalische Bezeichnung; wie es scheint, sind die lexikalischen Kategorien kaum universal durch die neurophysiologische Ausstattung des Menschen konditioniert, sondern es zeichnen sich ganz weitgehend kulturelle Besonderheiten ab, die jedoch nicht ohne wiederkehrende Muster sind.  Zu den thematisierten Bereichen gehören etwa die TIERWELT, die PFLANZENWELT, die FARBEN, die ORIENTIERUNG IM RAUM. Es dominiert die semasiologische Untersuchungsrichtung Wort → KONZEPT, aber gelegentlich (z.B. in den Bereichen KÖRPER, I QUATTRO ELEMENTI) wird die umgekehrte Richtung KONZEPT → Wort eingeschlagen. Die Ausdrücke ‘emisch’ und ‘etisch’ werden nicht explizit gebraucht

In der Sache hat sich ethnolinguistische Forschung jedoch schon lange vor dem Aufkommen des Terminus etabliert; das gilt insbesondere für die Dialektologie (vgl. Krefeld 2019at; Link), wo sie direkt zum Begründer der italienischen Ethnographie, dem Sizilianer Giuseppe Pitré (1841-1916), zurückführt. Pitré hat sich als einer der ersten auch mit dem Sizilianischen befasst (vgl. u.a. Pitré 1889 und Pitré 1979 [1875]). Weiterhin dokumentieren auch die Sprachatlanten, allen voran der programmatisch als Sprach- und Sachatlas konzipierte AIS, durchaus kulturell ganz unterschiedliche Alltags- und Lebenswelten, so mindestens die städtische und die ländliche. Da der AIS jedoch so wie die allermeisten Sprachatlanten auf Vergleichbarkeit angelegt ist, werden die kulturell-lebensweltlichen Besonderheiten gerade nicht aus emischer Perspektive in den Vordergrund gestellt. Nur mehr oder weniger einzelne, spontan erfolgte emische Kommentare der Informant*innen werden in der Randspalte der Karten notiert (vgl. zum ethnographischen Rahmen des AIS Krefeld 2019bb). Schließlich ist mit Hugo Plomteux 1981 ein bedeutender Meilenstein der teilnehmenden ethnolinguistischen Beobachtung zu nennen.

4. Emisch-etische Typisierung

4.1. Drei lexikographische Beispiele

Mit dem oben entworfenen Schema lassen sich nun sprachwissenschaftliche Arbeiten transparent typisieren, wie am Beispiel von drei, auf ihre Art exzellenten Wörterbüchern gezeigt werden soll. Die drei im Folgenden zitierten Lemmata gehen auf dasselbe Etymon (gall. braca ‘Hose’; vgl. REW 1252) zurück. 

4.1.1. Der Tesoro della Lingua Italiana delle Origini  (TLIO)

Dieses noch nicht abgeschlossene historische Wörterbuch beruht auf der Auswertung eines sehr umfangreichen Textkorpus und dokumentiert alle Lemmata mit oft zahlreichen graphischen Varianten im syntaktischen Zusammenhang der jeweiligen Quelle. Es handelt sich also um ein medial sehr modernes, webbasiertes Werk in traditioneller philologischer Tradition. Da alle Daten aus Texten extrahiert wurden, die vollkommen unabhängig von der Redaktion des Lexikons entstanden sind, handelt es sich um eine ausschließlich etische Methodologie; alle Kategorien (Lemma, Lemmavariante, Etymologie) sind ebenfalls rein etischer Natur. Die Artikel bestehen aus:

  • dem Lemma einschließlich graphischer Varianten;
  • den Bedeutungsangaben, die von den Redakteuren formuliert werden;
  • den verfügbaren Belegen mit Referenzen auf die jeweiligen Quellen: 

“BRACA s.f.
1 Indumento, capo di vestiario che copre il corpo dalla vita in giù avvolgendo le gambe
[1] Gl Glossario di Monza, X, 25, pag. 41: braca: braci...
[2] Doc. savon., 1178-82, pag. 173.17: (Et) ei Paxia habeo de viro m(e)o colcera una (et) unu(m) oreger [[...]] (et) paria .ii. de brague (et) unu(m) camixoto (et) unu(m) sacho (et) paria duo de çoculi...
[3] Doc. sen., 1266, pag. 411.1: (E) ancho uno paio di brache (e) di chamiscie (e) uno asciughatoio, che le facio xxv s...
[4] Bonvesin, Volgari, XIII tu.d. (mil.), Disputatio mensium, 217, pag. 10: Quiloga parla Zunio in braga e in camisa, / Sudao per grand calor e stang per grand fadhiga, / E dis con volt irao: «No lasso k'e' no diga, / De mi fa beff e schernie ki al me' desc se nudriga.
[5] Doc. fior., 1286-90, [1286], pag. 152.14: It. demmo a Giovanni, per panno ke comperò il priore per Bonuccio: chamisce e brache, s. xiiij. [Belege 6 - 17]“ (http://tlio.ovi.cnr.it/voci/006553.htm)

4.1.2. Der Dizionario del dialetto di Montagne di Trento (DizMT)

Dieses ausgezeichnete Wörterbuch ist die erheblich erweiterte und elaborierte Fassung eines unveröffentlichten Vorgängers von Wolfango Giovanella; die sehr präzisen sprachlichen und ethnographischen Informationen wurden mit ausschließlich emischen Methoden, nämlich in enger Zusammenarbeit des nicht einheimischen Autors mit den Mitgliedern des Circolo Pensionati di Montagne, d.h. mit einheimischen Dialektsprecher*innen erarbeitet. Die Artikel bestehen aus:

  • dem Lemma;
  • den Bedeutungsangaben, die von den Verfassern in Standarditalienisch formuliert werden;
  • zahlreichen Phraseologismen und Kollokationen, mit den jeweiligen Bedeutungen;
  • in einigen Fällen zusätzlichen ethnographischen und historischen Informationen  (vgl. s.v. Malga, 274).

Hier der Anfang des Beispielartikels:

“braghe: sf. pl. — 1. (vest.) (gen.) pantaloni da uomo e da donna lunghi e corti → càile [TAV. X] [APP. IV, 17]: en par de braghe un paio di pantaloni ♦ Quelle da lavoro erano perlopiù di tela grezza (téla rusa, v.) e di colore grigio chiaro (bíśolà, v.) ♦; cole braghe chì nole tègn la piéga questi pantaloni non tengono la piega; […]“ (DizMT, 56)

4.1.3. Der Lessico dei pastori delle Madonie (Sottile 2002)

Auch dieses, auf einen spezifischen Sachbereich (Pastoralkultur)  konzentrierte Wörterbuch wurde mit emischen Verfahren, in Zusammenarbeit mit einheimischen Schäfern erstellt, die erfahrene Spezialisten des erfassten onomasiolgischen Feldes waren. Es entstand im Umfeld des Atlante linguistico della Sicilia (ALS), hrsg. von Giovanni Ruffino, und wandte, anders als der DizMT, zudem ein emisches Erhebungs- und Dokumentationsverfahren an, das in der italienischen Dialektologie fest etabliert ist, die sogenannten etnotesti. Dabei handelt es sich um die Transkriptionen ausführlicher Beschreibungen und Kommentare, die von den Informant*innen zu den erhobenen Wörtern und damit korrespondierenden kulturellen Techniken gegeben werden. Insbesondere können diesen etnotesti im Dialekt formulierte Bedeutungsangaben entnommen werden. Der Verf., Roberto Sottile, war einheimischer Dialektsprecher, allerdings vor Beginn der Untersuchung nicht mit dem Spezialgebiet des Wörterbuchs vertraut; hier zeigt sich, dass auch die emische Sicht ausdifferenziert werden mus. Denn Teilhabe an der Nutzergemeinschaft einer kulturellen Technik (z.B. des lokalen/regionalen Dialekts) impliziert keineswegs die Teilhabe an allen anderen Techniken, die sprachlich im Dialekt bewältigt werden. Man vergleiche die Beschreibung der Erhebungen, aus der deutlich die emische Unzulänglichkeit eines vorab erstellten Fragebuchs und die deklarative Kooperation der Informanten hervorgeht:

“La conduzione delle inchieste ha avuto luogo attraverso la strategia dell’osservazione partecipante e, soprattutto, mediante l’impiego del questionario di prova sulla pastorizia […] dell’ALS (Atlante Linguistico della Sicilia). La particolare strutturazione del questionario, che, da un lato, consente di rilevare puntualmente le denominazioni delle cose e, dall’altro, presenta una serie di domande aperte, ha fatto sì che l’incontro tra raccoglitore e informatore non si riducesse ad un momento di fredda registrazione di informazioni. […] occorre sottolineare che nel corso delle inchieste gli informatori hanno dimostrato una totale adesione allo spirito della ricerca, passando dal silenzio al dialogo e rilevandosi una miniera inesauribile di informazioni, dettagli, precisazioni.” (Sottile 2002, 16)

Ein Lexikonartikel besteht aus:

  • dem Lemma;
  • der Angabe der Orte, in dem relevante Ethnotexte vorliegt;
  • den Bedeutungsangaben, die vom Verfasser in Standarditalienisch formuliert werden;
  • einem oder mehreren, auch längeren Zitate der sizilianischen Ethnotexte mit Bedeutungsangaben, auf die die italienische Bedeutungsangabe direkt zurückgehen;
  • eventuell Verweisen in den zitierten Ethnotexten (→) auf andere Lemmata.

Hier der Beispielartikel:

“vraca GA → etn. [‘vraka] f. sorta di pantalone realizzato con pelle di capra o di olona.
Etn. GA a varca è na cosa → d‘alonə - o puramenti → cazi di pìeḍḍi - cciuvè pigliava a → peḍḍi di na pìecura, di na crapa, pi llo più chiḍḍi di crapi si fanu, si scòrcia a → crapa e ssi fani… si fa primu na → gammali, pui n‘atra gammal’e ssi fa a vraca.
Trad. «La ‘vraca’ è una cosa di olona [un tipo di pantalone realizzatosi con stoffa di olona], - oppure (si può intendere) i ‘cazi di pìeḍḍi’ - cioè si prendeva la pelle (con la lana) di una pecora, di una capra, per lo più si fanno (con) quelle di capra, si scortica la capra e si fa… prima si fa [si cuce] un gambale, poi l‘altro gambale e si fa la ‘vraca’».” (Sottile 2002, 177)

Diese Artikelstruktur ist methodologisch vorbildlich, denn  sie garantiert einerseits maximale Transparenz und andererseits – weitestgehend – die emische Substanz der dialektalen lexikalischen Kategorie oder: des Lemmas. 

4.1.4. Synoptisches Schema

Die oben entworfene dreidimensionale Modellierung gestattet nun eine synoptische Typisierung der drei zitierten Lexika:

Synoptische Verortung von drei Lexika

5. Medienlinguistischer Epilog

Es ist klar, dass die Erhebung deklarativer emischer Daten in hohem Maße vom Einsatz der Webtechnologie profitiert, denn sie bietet die Möglichkeit auch größere Mengen von Informant*innen zu gewinnen. Gleichzeitig erlaubt sie aber auch, kontinuierlich mit ihnen in Kontakt zu bleiben und ihnen die Möglichkeit zu geben, zu verfolgen, in welcher Weise ihre Daten verwandt, strukturiert und mit anderen verknüpft werden. Zu Wissenschaftlern werden die Informant*innen  dadurch nicht; vielmehr ist es unvermeidlich, dass sie die Erfahrung einer epistemischen Entfremdung machen, wenn sie ihren eigenen Daten im wissenschaftlichen Kontext und eingebettet in eine wenig zugängliche, teils unverständliche Terminologie wieder begegnen. Ein anderer Effekt lässt sich dagegen bei der Publikation der Daten im Internet vermeiden oder wenigstens stark mildern, nämlich die mediale Aneignung der Daten durch die Wissenschaft. Traditionelle, d.h. gedruckte wissenschaftliche Publikationen sind ja für die Informant*innen selbst praktisch nicht erreichbar: Die Auflagen sind verschwindend klein, die Exemplare sind sehr kostspielig und die relevanten Bibliotheken dünn gesät. Falls es doch möglich wird, die eigenen Daten in dergleichen Arbeiten zu sehen, begegnen sie womöglich in phonetischer Transkription, die man sich als Laie mühsam aneignen muss.

Im Internet publizierte Daten sind dagegen allgemein leicht zugänglich und können zudem auch in Audiofiles bereitgestellt werden, die den Informant*innen und ihrem Umfeld nicht nur gut verständlich sind, sondern die es sogar erlauben die Stimmen zu identifizieren und die Urheber der Daten zu erkennen. Auf diese Weise leistet die Linguistik einen eigenen substanziellen Beitrag zur oftmals und zu Recht geforderten ‘terza missione’ der universitären Forschung.

Bibliographie

  • ALS = Ruffino, Giovanni (Hrsg.) (1991-): Atlante linguistico della Sicilia, Palermo, Centro di studi filologici e linguistici siciliani.
  • Barbarić 2015 = Barbarić, Philipp (2015): Che storia che gavemo qua. Sprachgeschichte Dalmatiens als Sprechergeschichte, Stuttgart, Franz Steiner Verlag.
  • Becker 2024 = Becker, Lidia (2024): Introduction: Réflexions théoriques et historiographiques sur la linguistique populaire, in: Becker/Herling/Wochele 2024, 1-36.
  • Becker/Herling/Wochele 2024 = Becker, Lidia / Herling, Sandra / Wochele, Holger (Hrsgg.) (2024): Manuel de linguistique populaire, Berlin, de Gruyter.
  • Castiglione 1999 = Castiglione, Marina (1999): Parole del Sottosuolo. Lessico e cultura delle zolfare nissene, Palermo, Centro di studi filologici e linguistici siciliani.
  • Cini/Regis 2002 = Cini, Monica / Regis, Riccardo (Hrsgg.) (2002): Che cosa ne pensa oggi Chiaffredo Roux? Percorsi della dialettologia percezionale all'alba del terzo millennio, Alessandria, Edizioni dell'Orso.
  • D'Agostino 2002 = D'Agostino, Mari (2002): Percezione dello spazio, spazio della percezione la variazione linguistica fra nuovi e vecchi strumenti di analisi, Palermo, Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani.
  • D'Agostino 2021 = D'Agostino, Mari (2021): Noi che siamo passati dalla Libia. Giovani in viaggio fra alfabeti e multilinguismo , Bologna, il Mulino.
  • DizMT = Grassi, Corrado (2009): Dizionario del dialetto di Montagne di Trento, San Michele all'Adige.
  • Geertz 1974 = Geertz, Clifford (1974): From the Native’s Point of View. On the Nature of Anthropological Understanding 28/1, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences, vol. 28/1, 26-45 (Link).
  • Greca 2022 = Greca, Pia (2022): An experimental analysis of metaphony and sound change in the dialects of the Lausberg area (Southern Italy), München, LMU (Link).
  • Krefeld 2021e = Krefeld, Thomas (2021): Italienische Ethnolinguistik, in: Vorlesung dh-lehre, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2021p = Krefeld, Thomas (2021): Italienische Ethnolinguistik. Vorlesung, in: dh-lehre, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2023b = Krefeld, Thomas (2023): ‘Publikation’ geht in Revision, in: Korpus im Text, Serie A, 104645, München, LMU (Link).
  • Krefeld/Pustka 2010c = Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (Hrsgg.) (2010): Perzeptive Varietätenlinguistik, vol. Spazi comunicativi - Kommunikative Räume, 8, Frankfurt , Lang.
  • Krefeld/Pustka 2014b = Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (Hrsgg.) (2014): Perzeptive Linguistik: Phonetik, Semantik, Varietäten, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik Beihefte, vol. 157, Stuttgart, Steiner.
  • Kuhn 1962 = Kuhn, Thomas S. (1962): The Structure of Scientific Revolutions, Chicago , University of Chicago Press.
  • Marzo 2013 = Marzo, Daniela (2013): Polysemie als Verfahren lexikalischer Motivation. Theorie und Empirie am Bei­spiel von Metonymie und Metapher im Französischen und Italienischen, Tü­bin­gen, Narr.
  • Mostowlansky/Rota 2023 (2020) = Mostowlansky, Till / Rota, Andrea (2023 (2020)): Emic and etic, in: The Open Encyclopedia of Anthropology, edited by Felix Stein. Facsimile of the first edition in The Cambridge Encyclopedia of Anthropology (Link).
  • Pike 1954 = Pike, Kenneth L (1954): Language in relation to a unified theory of the structure of human behavior (3 parts) , preliminary ed. , , Linguistics, Glendale, Summer Institute of Linguistics.
  • Pike 1967 = Pike, Kenneth Lee (1967): Language in relation to a unified theory of the structure of human behavior (second edition), Den Haag/Paris, Mouton.
  • Piredda 2013 = Piredda, Noemi (2013): Gli italiani locali di Sardegna: uno studio percettivo, Frankfurt a.M., Lang.
  • Pitré 1889 = Pitré, Giuseppe (1889): Usi e costumi, credenze e pregiudizi del popolo siciliano, 4 vol., Palermo, L. Pedone-Luariel.
  • Pitré 1979 [1875] = Pitré, Giuseppe (1979 [1875]): Grammatica siciliana, introduzione di Alberto Varvaro, Palermo, Sellerio.
  • Plomteux 1981 = Plomteux, Hugo (1981): Cultura contadina in Liguria. La Val Graveglia, Genova, Sagep Editrice.
  • Postlep 2010 = Postlep, Sebastian (2010): Zwischen Huesca und Lérida: Perzeptive Profilierung eines diatopischen Kontinuums: Univ., Diss.-München, 2009, Frankfurt am Main, Lang.
  • Ruffino 2006 = Ruffino, Giovanni (2006): L'indialetto ha la faccia scura: giudizi e pregiudizi linguistici dei bambini italiani, Palermo, Sellerio.
  • Sapir 1927a = Sapir, Edward (1927): The Unconscious Patterning of Behavior in Society. In D. G. Mandelbaum (Ed.), Selected Writings of Edward Sapir in Language, Culture, and Personality, Los Angeles, University of California Press, 544-559.
  • Sottile 2002 = Sottile, Roberto (2002): Lessico dei pastori delle Madonie, Palermo, Centro di studi filologici e linguistici siciliani, Dipartimento di scienze filologiche e linguistiche, Università di Palermo (Link).
  • TLIO = Leonardi, Lino (2017): Tesoro della Lingua Italiana delle Origini Il primo dizionario storico dell'italiano antico che nasce direttamente in rete fondato da Pietro G. Beltrami. Data di prima pubblicazione: 15.10.1997 (Link).

Schreibe einen Kommentar