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1. Kulturelle Hegemonie
Die "kulturelle Hegemonie" ist ein Konzept des marxistischen Intellektuellen Antonio Gramsci (1891-1937). Einer erfolgreichen Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, so Gramsci, gehe stets eine Durchsetzung der revolutionären Ideen im politisch-kulturellen Überbau voraus. Weil die herrschende Ordnung ihre Stabilität vor allem aus dem Konsens ihrer Mitglieder beziehe, sei für den späteren Erfolg der Revolution eine Verschiebung des gesellschaftlichen Konsenses vorentscheidend. Gramsci erkannte auch, dass verschiedene Gruppen um die Begriffs- und Ideenhoheit im politischen und kulturellen Überbau kämpfen, wobei Schriftstellern, Publizisten und Kulturschaffenden eine Schlüsselrolle zufällt. Nach dem Bankrott des "real existierenden Sozialimus", der sich seit der Mitte der 1980er Jahre abzuzeichnen begann, wurden nicht nur dessen materielle Hinterlassenschaften, soweit sie sich als verwertbar erwiesen, ausgeschlachtet und in private Vermögen überführt - in ähnlicher Weise gelangten auch Elemente der marxistischen Ideologie in neue Hände. Eine erstauliche Karriere durchlief dabei Gramscis Idee der kulturellen Hegemonie. Bereits 1985 war dieses Konzept von dem rechtsextremen französischen Autor Alain de Benoist in dessen Standardwerk "Kulturrevolution von rechts" erstmals für die neue Rechte reklamiert worden. In Deutschland wurde es namentlich vom rechtsextremen Autor Armin Mohler aufgegriffen und verbreitet. Im Zuge dieser Enteignung wurde Gramscis Konzept freilich seiner ursprünglich emanzipatorischen Inhalte entkleidet und nurmehr als Technologie des Machtausbaus aufgefasst. Ein wenig umständlich wird der ursprünglich von Gramsci diagnostizierte Zusammenhang zwischen ideologisch-kultureller Hegemonie und politischer Macht beispielsweise vom Thüringer AfD-Vorsitzenden Höcke formuliert:
Wer Begriffe prägt, prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, prägt das Denken. Wer das Denken prägt, prägt den politischen Diskurs. Und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik – egal, ob er in der Opposition ist oder in der Regierung.
(Björn Höcke, 20. Januar 2018)
Strategisches Ziel der "Kulturrevolution von rechts" ist die Delegitimierung des demokratischen Rechtsstaats.1 Zu dieser Strategie gehört es, politische Ziele nicht offen zu deklarieren, sondern rechtsextremes Gedankengut unerkannt in die Mitte der Gesellschaft zu infiltrieren.2 Die öffentliche Arena, in der im beginnenden 21. Jahrhundert rechtsextreme Gruppen antreten, um die Hegemonie ihrer Ideen durchzusetzen, ist das Internet, vor allem in Gestalt der sozialen Netzwerke (Facebook, Twitter, Instagramm).3 Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang der Technik des Framing zu.
2. Framing
Unter einem Frame (und seinen Ausprägungen, dem Script und der Szene) verstehen Psychologen und Sprachwissenschaftler eine Struktur, in der Wissen in unseren Köpfen organisiert ist.4 Ein Frame ist, technisch ausgedrückt, die mentale Repräsentation "einer stereotypischen Situation, die von Sprechern aus der wiederholten Erfahrung mit realen Situationen abstrahiert wird und deren einzelne Elemente nur in Beziehung zueinander definiert werden können" (Wikipedia, s.v. "Frame-Semantik"). Dabei kann es sich um eher triviales Weltwissen, genauso gut aber auch um hochkomplexe und abstrakte Zusammenhänge handeln. Gleichzeitig besitzen Frames einen kollektiven Status - als mentale Repräsentationen der Wirklichkeit werden sie innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen oder der Gesellschaft als ganzer geteilt. Der "Klebstoff", der das in Frames organisierte Wissen zusammenhält, sind die häufig wiederholte persönliche, daneben aber auch die wiederholte gesellschaftlich geteilte Erfahrung. In der Informationsgesellschaft beruhen Frames oft ausschließlich auf medial vermittelten Erfahrungen - das Individuum kann diese Erfahrungen übernehmen oder sie verweigern, aber oft ist es nicht in der Lage, sie persönlich zu verifizieren. Dieser Schwachpunkt bildet das Einfallstor für das Framing. Der Begriff des Framing stammt aus der Kommunikationswissenschaft; eine brauchbare Definition ist die folgende:
To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and / or treatment recommendation for the item described. (Entman 1993, zit. n. Wikipedia, s.v. "Framing", Hervorhebung von mir, U.D.).
2.1. Ein Beispiel: Der Mord in Kandel
Ende 2017 wird in der rheinlandpfälzischen Kleinstadt Kandel die 15 Jahre alte Mia Valentin in einem Drogeriemarkt von einem jungen Afghanen erstochen. Dabei handelte es sich ganz offensichtlich um eine Beziehungstat. Das Opfer war zunächst eine Liebesbeziehung mit dem Täter eingegangen, doch ging diese Anfang Dezember 2017 in die Brüche, was der junge Mann offenkundig nicht akzeptierte. Er stalkt das Opfer und bedroht es wiederholt. Zwei Wochen vor der Tat erstatten die Eltern des Mädchens Anzeige wegen Beleidigung, Nötigung und Bedrohung. Wie in solchen Fälle häufig, kann die Polizei den Täter nicht unschädlich machen (s.u., 2.1.2.). Allerdings spricht sie neuerdings manchmal Verwarnungen gegen Stalker aus. Noch am Vormittag des Tattages wird dem späteren Täter zu diesem Zweck eine Vorladung ausgehändigt - wie wir jetzt wissen, zu spät.5
2.1.1. Framing 1: Der FLÜCHTLINGS-Frame
In der öffentlichen Diskussion wird unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit im Netz sofort ein ganz bestimmter Gesichtspunkt des Geschehens selegiert### und prominent gemacht: Der Täter ist Migrant!6 Man erinnert sich sofort an einen Mord in Freiburg, den ebenfalls ein Migrant begangen hat. Obwohl der Freiburger Mordfall in vielerlei Hinsicht kaum Ähnlichkeit mit dem Fall in Kandel aufweist (in Freiburg kannten Opfer und Täter einander nicht, das Opfer wurde erwürgt, nicht erstochen)7 werden beide Taten gleichermaßen dem Frame FLÜCHTLING/MIGRATION zugerechnet. Damit wird eine Problemdefinition nahegelegt, die die rechtspopulistische und rechtsextreme Kritik an der Asylpolitik der Regierung befeuert: Migranten seien gewalttätig, besonders gegenüber Frauen; die politische Verantwortung für das Geschehen trage letztlich die Bundesregierung, die ja die Flüchtlinge "ins Land geholt" habe.8
2.1.2. Framing 2: Der STALKING-Frame
Das Geschehen in Kandel enthält nun aber auch Elemente, die es erlaubt hätten, das Verbrechen einem ganz anderen Zusammenhang zuzuordnen. Ganz offensichtlich handelt es sich um einen Fall von Stalking, bei dem der Täter das Opfer über einen längeren Zeitraum verfolgt und bedroht. Der Mord am Ende der Entwicklung erfolgt sozusagen mit Ankündigung. Trotzdem ist die Polizei nicht in der Lage, das Opfer wirksam zu schützen, da man in einem Rechtsstaat den Täter nicht einsperren kann, solange dieser seine Drohung nicht wahr gemacht hat. Allerdings war Ende 2016 durch eine Neufassung des §238 StGb der Versuch unternommen worden, Stalkingopfer wirksamer zu schützen, unter anderem durch die Praxis einer Verwarnung durch die Polizei. Der STALKING-Frame besitzt ein Merkmal, das ihn für das Ringen um ideologische Hegemonie interessant macht: Meist ist der Täter ein Mann und ist das Opfer eine Frau. Gender-Fragen aber sind eine traditionelle Domäne der politischen Linken. Man sieht sofort: Wäre es gelungen, diesen Aspekt in der öffentlichen Diskussion zu selegieren und prominent zu machen (wäre das Geschehen also im Lichte des STALKING-Frames betrachtet worden), hätten Problemdefinitionen, Erklärungen und politische Schlussfolgerungen möglicherweise völlig anders ausgesehen.
2.2. Erfolgreiches Framing verändert einen bereits etablierten Frame: die FLÜCHTLINGe von 2015 und der MESSERMORD
Der rechten Propaganda in den sozialen Medien gelingt es, den "Fall Mia" erfolgreich dem FLÜCHTLINGs-Frame zuzuordnen. Dadurch erfährt der Frame selbst eine einschneidende Veränderung. Spätestens seit den Vorfällen in der Kölner Siversternacht 2015/16 ist das Bild des Migranten in der deutschen Öffentlichkeit ohnehin bereits schwer beschädigt. Als Folge des Mordes in Kandel wird nun der FLÜCHTLINGs-Frame um ein wichtiges Element "angereichert" - den MESSERANGRIFF und den MESSERMORD. Denn ab jetzt wird durch rechte Medien und Facebook-Gruppen die These verbreitet, dass Gewaltverbrechen mit dem Messer typisch für Flüchtlinge seien. So kommentiert beispielsweise die rechte Website Conservo: "Migranten, Messer, Morde - Medien ducken sich weg", der AfD-nahe Blog Halle Leaks schreibt "Neue Merkel-Tote. Messer-Morde in Gelsenkirchen". Über die Kommentarspalten von Facebook erreicht die Konstruktion des MESSERMORDes bald auch die Leitmedien, die sie durch ihre große Reichweite in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses tragen. So titelt die Bildzeitung in ihrer Ausgabe vom 18.03.2018 "Messerangst in Deutschland! Bis zu 300% mehr Angriffe". Der MESSERMORD und der MESSERANGRIFF entwickeln in der Folgezeit ein so starkes Eigenleben, dass sie bald zum Framing von Gewalttaten herangezogen werden, die weder von Flüchtlingen9 noch überhaupt von Migranten10 begangen werden. Mit anderen Worten: Ab jetzt werden im Grunde auch solche Messerattacken und Messermorde den Flüchtlingen von 2015 zugeschrieben, die in Wirklichkeit von Einheimischen begangen werden. Beispielsweise titelt die Neue Zürcher Zeitung vom 14.04.2018: "Messerattacken nehmen zu"; im Text selbst werden zwar vereinzelt auch deutsche Täter erwähnt, doch liegt der Fokus der Berichterstattung klar auf dem Anteil der Migranten. Nicht selten berichten Medien über MESSERANGRIFFe oder MESSERMORDe, deren Täter noch nicht bekannt sind.11 Augenblicklich sind in den sozialen Medien Kommentatoren in großer Zahl zur Stelle, die als Täter einen Flüchtling vermuten, auch wenn in dem Bericht selbst nicht das geringste Indiz für diesen Schluss enthalten ist (vgl. Abb. 1). Auch durch unbegründeten Vermutungen wie diese erfährt die Einbindung des MESSERMORDes in den Frame FLÜCHTLING eine weitere Verstärkung (entrenchment).
2.3. Erfolgreiches Framing bedeutet politische Deutungshoheit
Erfolgreiches Framing ist der Schlüssel zur Deutungshoheit im politischen Diskurs. Der MESSERMORD ist ein Topos, der sich in mehrfacher Hinsicht eignet, rechtsextreme Thesen in die öffentliche Diskussion zu tragen, und dies weit über die Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung hinaus. Dies lässt sich unmittelbar aus den User-Kommentaren bei Facebook herauslesen. Die in Abb. 2 bis Abb. 6 wiedergegebenen Kommentare sind (wie übrigens auch der Kommentar in Abb. 1) Reaktionen auf einen Bildzeitungs-Artikel vom 21.03.2019 zum Mord an einer 18jährigen Frau auf Usedom, in dem keinerlei Hinweise auf die Identität des Täters enthalten sind (und dessen Text ohnehin für die meisten Leser hinter einer Paywall verborgen ist).
Das Gefühl der Angst, dass durch die sensationistische Berichterstattung erzeugt wird, nährt Zweifel an der Fähigkeit, des Rechtsstaats, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. In den sozialen Medien wurde besonders im Jahr 2018 mit Blick auf die Bundestagswahlen das Bild einer Gesellschaft entworfen, die in einer Welle der Gewalt versinkt und wo eine reales Risiko - insbesondere für Frauen - besteht, Opfer einer Messer-Attacke zu werden. Beide Argumentationen finden sich auch in zahlreichen Kommentaren unter dem oben erwähnten Artikel vom 21.03.2019. Hier nur zwei Beispiele.
Unter jedem Bericht über Gewaltverbrechen fordern zahllose Kommentatoren reflexhaft härtere Strafen. Normalerweise ist dies mit einer Kritik am deutschen Rechtssystem verbunden, das Beschuldigten zu viele Rechte einräume.
Da die Schreckenszenarien, die in solchen Kommentaren entworfen werden, in einem flagranten Widerspruch zu den offiziellen Kriminalstatistiken stehen, werden diese von rechten Kommentatoren regelmäßig als manipuliert dargestellt.
MESSERMORDe nähren nicht nur Zweifel an der Funktionsfähigeit des Rechtsstaates und der Glaubwürdigkeit der Behörden; in den sozialen Medien rufen sie darüber hinaus regelmäßig mehr oder weniger verholene Forderungen nach Selbstjustiz auf den Plan.
Regelmäßig taucht der MESSERMORD-Topos in einem weiteren Kontext auf, der deutlich macht, dass es hier um ideologische Vorherrschaft geht: Er erlaubt es Rechtsextremen und Rechtspopulisten, sich als die wahren Interessenvertreter der deutschen Frau zu präsentieren (s. Abb. 8). Dies ist ein diskursiver Angriff auf eine Domäne, auf die bisher die politische Linke ein Monopol zu haben schien (s.o. 2.1.2.).
Der MESSERMORD-Topos eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, den politischen Gegner argumentativ als zutiefst frauenfeindlich abzustempeln: "Realitätsferne links-grüne Toleranzprediger", so das tausendfach wiederholte Argument, lieferten durch bewusste Unterlassung deutsche Frauen der Gewalt von Migranten aus. Exemplarisch in dieser Hinsicht ist der YouTube-Beitrag "Jeden Tag aufs Neue: Messer-Morde an deutschen Frauen" vom 15.01.2019 des österreichischen FPÖ-Politikers Gerald Grosz, dessen Transkript hier in Teilen unter Abb. 7 wiedergegeben ist.
In diesem Kommentar findet sich schließlich auch das wichtigste neurechte Argument, das durch den MESSERMORD-Topos gestützt wird: Toleranz und Weltoffenheit stellen eine akute Bedrohung für Frieden und Freiheit dar.
3. Framing und kein Ende?
Der MESSERMORD ist einfaches Beispiel für die enorme Wirksamkeit von Framing, wie es in den sozialen Netzwerken betrieben wird. Weitere konzeptuelle Konstruktionen, die durch Framing erzeugt werden, sind u.a. die folgenden.
- "Islam bedeutet Unfreiheit, besonders für Frauen. Der ISLAM IST keine Religion im herkömmlichen Sinne, sondern EINE TOTALITÄRE ('faschistische') IDEOLOGIE, deren Ziel die Verdrängung anderer Religionen und die Versklavung der Bürger ist. Politiker und Bürger, die sich für Respekt und Toleranz gegenüber muslimischen Mitbürgern einsetzen, sind Komplizen dieser faschistischen Ideologie. Angebliche Toleranz und Weltoffenheit bedrohen unsere Freiheit".12
- "Nichtregierungsorganisationen wie z.B. Ärzte ohne Grenzen, Sea-Watch e.V. oder Mission Lifeline, die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer retten und in sichere EU-Häfen bringen, sind in Wirklichkeit Schlepperoganisationen (SCHLEPPER-These).13 Gäbe es diese 'Retter' nicht, würden Flüchtlinge sich nicht aufs offene Meer wagen und ertrinken. Die Nichtregierungsorganisationen sind also direkt verantwortlich für den Tod von Tausenden von Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken (PULL-EFFEKT-These)14".
- "Der Klimawandel ist eine Fiktion von Umweltschützern und links-grünen Ideologen, die damit nur ihren Anspruch rechtfertigen, den Alltag des hart arbeitenden normalen Bürgers mit unsinnigen Verboten und teuren Auflagen zu reglementieren15" (das Stichwort lautet hier ÖKOFASCHISMUS16).
- "Linke und Grüne sind die Faschisten unserer Tage.17 Rechtsextreme und Rechtspopulisten sind die verfolgten Juden unserer Tage18". Die LINKSFASCHISMUS-These besitzt außerdem ein historisierendes Korrelat; dieses besagt: "Adolf Hitler war in Wirklichkeit ein Sozialist und Linker19; die NSDAP war eine linke Partei20".
Diese Thesen erscheinen im einzelnen abstrus, plump oder lächerlich. Für Informierte sind sie leicht zu widerlegen. Eine interessante Abrechnung des Bundesrichters a.D. Thomas Fischer mit der MESSERMORD-Konstruktion findet sich unter folgendem Link, eine fundierte Analyse der LINKSFASCHISMUS-These kann man unter diesem Link nachlesen. Mehrere Studien, die die PULL-EFFEKT-These klar widerlegen, werden in einem kurzen Beitrag der österreichischen Tageszeitung Der Standard unter diesem Link zusammengefasst.
Allerdings läuft argumentative Gegenrede dieser Art normalerweise ins Leere. Denn der "Punkt" beim Framing ist ja, dass es auf Behauptungen beruht, die im Netz täglich von einem Heer aus Tausenden von Aktivisten, Anhängern und Mitläufern ausgestreut und wiederholt werden, bis sie am Ende für unpolitische Mitleser aus der gesellschaftlichen Mitte Bestandteil der geteilten Wirklichkeit sind. Eine Lüge oder Halbwahrheit, egal wie plump oder schief sie ist, verwandelt sich in gefühlte Wirklichkeit, wenn sie nur oft genug wiederholt wird.
4. Big Data und die Zunkunft der Demokratie
Man kann zu den sozialen Netzwerke stehen, wie man will - sie existieren und werden breit genutzt: für private und kommerzielle Zwecke, aber eben auch zur Propagierung politischer Ziele. Wie wichtig sie inzwischen für die politische Willensbildung geworden sind, wurde erstmals bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien im Jahre 2016 und ein Jahr später bei den Präsidentschaftswahlen in den USA deutlich. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, die sozialen Netzwerke seien Foren, welche die politische Debattenkultur förderten - ein wertvoller Beitrag also zur Entwicklung zeitgemäßer Formen einer partizipativen Demokratie. Dem ist nicht so. In den sozialen Medien kommt es nicht auf die Qualität der Argumente an - was zählt, ist die schiere Masse der Kommentare und deren Sichtbarkeit. Bei Facebook wird die Sichtbarkeit der einzelnen Kommentare durch einen Algorhitmus gesteuert, dessen wichtigstes Kriterium die Zahl der "Likes" ist, die andere User an den jeweiligen Kommentar vergeben. Beides, Kommentatoren und "Likes" sind - und hier liegt das Problem - inzwischen auf einem schwarzen Markt käuflich.21 Längst kommentieren und liken in den sozialen Netzwerken nicht mehr nur einfache Bürger; so ist seit Langem bekannt, dass in der russischen Metropole St. Petersburg so genannte "Troll-Fabriken" existieren, deren Angestellte im Auftrag der russischen Regierung das Netz mit Kommentaren fluten.22 Ihre enorme Schlagkaft haben diese Einrichtungen, die in eng mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Oranisationen in ganz Europa und den USA zusammenarbeiten,23 in der Vergangenheit wiederholt unter Beweis gestellt.24 Und selbstverständlich sind sie längst in Deutschland angekommen.25 Inzwischen ist auch bekannt, dass in Deutschland die AfD mit solchen Mitteln arbeitet; so floss beispielsweise der größere Teil einer illegalen Spende aus der Schweiz in die Finanzierung des Online-Wahlkampfes der AfD-Spitzenkandidatin Weidel, die damit u.a. den Kauf von "Likes" finanzierte.26 Sicher ist ebenfalls, dass der Schweizer Pharma-Unternehmer, über dessen Konten diese Spende abgewickelt wurde, als Strohmann für einen "Geschäftsfreund" agierte, dessen Identität bis heute geheim ist. Löst man sich einmal von den Details solcher Nachrichten, dann werden schnell zwei Dinge klar. Erstens: Jede Privatperson oder Organisation, die über genügend Ressourcen verfügt, ist heute prinzipiell in der Lage, in den Kampf um die kulturelle Hegemonie über jedes beliebigen Landes einzugreifen - sei es, um zu dessen Destabilisierung beizutragen, sei es, um - im Gegenteil - eine Festigung der Verhältnisse zu betreiben (letzteres trifft auf den Typus der "gelenkten Demokratie" zu27). Zweitens: In den deutschsprachigen sozialen Netzwerken beherrschen derzeit Rechtsextreme und Rechtspopulisten mit der Unterstützung potenter Sponsoren den politischen Diskurs. Von beiden Sachlagen geht eine erhebliche Bedrohung für Demokratie und Rechtsstaat aus. Gefordert wären in dieser Situation eigentlich die demokratischen Parteien, denen laut Art. 21 GG die Aufgabe zufällt, an der politischen Willensbildung mitzuwirken - doch lassen sich bei Facebook bislang keinerlei Aktivitäten feststellen, die denen der AfD, der "Identitären Bewegung" und anderer rechter Gruppierungen auch nur ansatzweise vergleichbar wären. Einzig private Initiativen, vor allem die seit 2016 existierende Gruppe #ichbinhier,28 bilden Gegengewichte gegen deren massive Präsens. Es scheint so, als sei die Mitte der Gesellschaft sich über die enorme Bedeutung der sozialen Netzwerke für die politische Willensbildung nicht im Klaren; vielerorts - nicht nur bei Politikern - ist die Illusion verbreitet, man könne die Wirkung der sozialen Netzwerke neutralisieren, indem man sie ganz einfach ignoriert. Diese Einstellung, die vor zehn Jahren vielleicht eine gewisse Berechtigung besaß, ist in der heutigen Situation unverantwortlich und gefährlich. Denn sie läuft darauf hinaus, dem rechten Rand des politischen Meinungsspektrums ein Medium kampflos zu überlassen, dessen politische Wirkungsmacht längst dem Einfluss von Funk und Fernsehen vergleichbar ist. Die Zukunft der westlichen Demokratie, so wie wir sie kennen, wird davon abhängen, in welchem Maße Bürger aus der gesellschaftlichen Mitte die Kommentarspalten der sozialen Netzwerke für sich zurückerobern und dort aktiv für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten werden.