Scritte Murali – Analyse der Kommunikationsstrategien am Beispiel des urbanen Raum Roms
1. Vorwort
Die vorliegende Arbeit spiegelt in gewisser Weise, sowohl was die formale Struktur als auch den inhaltlichen Aufbau betrifft, die Genese der Forschungsarbeit wider, d.h. mit zunehmender Beschäftigung mit dem Forschungsmaterial, ergaben sich mehr und mehr Erkenntnisse und Beobachtungen, wie auch Hindernisse, führten oft zum nächsten Schritt in der Analyse des Untersuchungsgegenstandes. So schien es mir zu Beginn kaum möglich, das gesammelte Material – die Erfassung der Scritte Murali an sich war bereits von vielen, meist praktischen Hindernissen bedingt – systematisch zu greifen und zu untersuchen. Ein Blick auf das Sprachmaterial mag recht schnell den Eindruck erwecken, dass nur schwerlich Ordnung in die Vielfalt der Texte gebracht werden kann, was nicht zuletzt am Wesen der Scritte Murali liegt, nämlich das augenscheinliche Fehlen von regulierenden und normierenden Instanzen. Begonnen bei der Bezeichnung und der Definition des Untersuchungsgegenstandes – sind es scritte murali, Graffiti, Protest- und Parolengraffiti, Symbolgraffiti, Geschmiere? – schien der Zugriff auch methodisch verborgen und fraglich, ob eine systematische Erfassung überhaupt möglich sei. Letztlich war einer der zentralen Motivationsfaktoren, das Projekt fortzuführen, die – bis dahin noch nicht wissenschaftlich begründete – Überzeugung, dass scritte murali zweifelsfrei nach strukturierten Mustern und (unausgesprochenen) Normen erstellt und verstanden werden und innerhalb bestimmter gesellschaftlicher und sprachlicher Gemeinschaften, wie auch für Einzelpersonen, von zentraler Bedeutung in der Alltagskommunikation sind und dabei nicht nur das visuelle, sondern auch sozio-kulturelle Stadtbild Roms prägen.
Von Beginn an war eine zentrale Fragestellung, ob und welche Bedeutung die Ortsabhängigkeit oder Ortsgebundenheit innerhalb der Kommunikationsabläufe spielt. Je mehr ich mich mit dem Untersuchungsgegenstand auseinandersetzte, desto deutlicher wurde, welch große und wesentliche Rolle die Standorte der scritte murali tragen und dies nicht nur für die Einzeltexte gilt, sondern auch für Textgruppen, die auf ‘irgendeine’ Weise miteinander verbunden waren, was nach recht kurzer Zeit zweifelsfrei erkennbar wurde. Ziel der Arbeit ist es, die kommunikative Realität des Sprachmaterials möglichst in ihrer Gesamtheit systematisch zu erfassen, die einzelnen Kommunikationsfaktoren zu beschreiben und die Funktionalität der Texte abzuleiten. Dazu muss zunächst der Untersuchungsgegenstand abgegrenzt und textlinguistische Beobachtungen vorangestellt sowie ein geeignetes Analysemodell erstellt werden, um danach die grundlegenden Kommunikationsparameter, etwa die Textproduzenten1 und -rezipienten, die kontextuellen und situativen Umstände, die kodalen Eigenschaften oder die Inhalte der Texte, systematisch zu erfassen und ihre (Teil-) Funktionen zu beschreiben. Als besonders bedeutungsvoll für die Kommunikationsprozesse wurden dabei die Ortsabhängigkeit und Ortsgebundenheit der Texte im öffentlichen Raum begriffen, weshalb die Schwerpunktsetzung bei der Fragestellung dieser Arbeit auf dem Faktor Ort und seinem funktionalen Beitrag liegt. Konkret ausformuliert lassen sich die Fragestellungen folgendermaßen festhalten:
- Wie ist das Sprachmaterial zu definieren und welche textlinguistischen Parameter lassen sich festhalten?
- Wie lässt sich das gesammelte Sprachmaterial systematisch erfassen und für die Analyse der Kommunikationsprozesse aufbereiten? Welche Attribute, wesentliche Bedingungen und Faktoren sind für den Kommunikationsprozess relevant?
- Welche Funktionalitäten lassen sich für Einzeltexte und Textgruppen ableiten? Welche Teilfunktionen übernehmen dabei die einzelnen Faktoren (Teilnehmer, Ort/Zeit, Materialität und Medialität, Kode, Inhalt) innerhalb der Gesamtbotschaft? Welche grundlegenden Gesamtfunktionen lassen sich für Textgruppen erkennen? Welche Bedeutung kommt der Ortsabhängigkeit bzw. Ortsgebundenheit der Texte zu?
Offensichtlich kann der Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht alle kommunikativen Aspekte der Scritte Murali fassen und es wird auch nicht der Anspruch erhoben, eine vollumfassende Analyse dieser Kommunikationsform zu präsentieren. Im Laufe der Arbeit wird das Konzept der Prototypen von entscheidender Bedeutung für den Zugang zum Forschungsgegenstand sein und Prototypikalität ist auf gewisse Weise das Leitmotiv für die Arbeit bzw. die Ergebnisse und zwar dahingehend, dass weniger der Versuch unternommen wurde Einzeltexte (oder -exemplare) erschöpfend zu analysieren, sondern vielmehr die Texte in ihren (proto)typischen Verwendungsweisen zu begreifen und dies anhand ihrer (proto)typischen Aspekte und Attribute. Dies soll jedoch nicht (oder nur bis zu einem gewissen Maß) bedeuten, dass die hier dargestellten Beobachtungen und Ergebnisse für scritte murali verallgemeinert werden können, nicht zuletzt, weil die Ergebnisse – auch aus prototypischer Perspektive – für andere Untersuchungsgebiete aufgrund der Ortsabhängigkeit als elementarer Kommunikationsfaktor völlig anders ausfallen können. Neben dem Grundton der Prototypikalität spielen visuelle Reize eine Schlüsselrolle und dies nicht nur in Bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik, sondern auch in Bezug auf den formalen Aufbau der Arbeit. Dies bedeutet, dass eine Vielzahl von Bildern des Sprachmaterials gezeigt und auch weitere visuelle Hilfen (etwa interaktive Karten) den Fließtext unterstützen suchen. Dies liegt auch darin begründet, dass sich im Rahmen dieser Arbeit nicht alle qualitative Feinheiten ausgiebig behandeln lassen, diese Details gleichzeitig jedoch Grundlage für die dargestellten Erkenntnisse dienen. Eine geeignete Form, die Gedankengänge, Typisierungsabläufe und Überlegungen wiederzugeben, schien mir daher die Präsentation des Sprachmaterials in Form der fotographischen Abbildungen. Eine geeignete Form der visuellen Darstellung in Bezug auf die Ortsabhängigkeit scheint mir außerdem die Nutzung von interaktiven Karten, welche das Durchsuchen der Datensätzen erlaubt und die Lokalisierung der Texte im Untersuchungsgebiet ermöglicht. Generell lebt die Arbeit von visuellen Aspekten und ist daher von Beginn an als Forschungsarbeit im Onlineformat konzipiert worden, da bspw. eine Darstellung der Ergebnisse auf statischen Karten der Ortspezifität das Gewicht nehmen bzw. die Lesbarkeit der Arbeit stark beeinträchtigen würde.
Ein (positiver) Nebeneffekt der gewählten Publikationsform ist, dass eine vergleichsweise hohe Menge an annotiertem Sprachmaterial und somit für weitere Forschungsarbeiten – auch zu Einzelaspekten – zugänglich gemacht werden kann. Aus diesem Grund werden auch Datensätze gezeigt werden, die nicht oder nur zu einem geringen Ausmaß in die Ausführungen einfließen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Datensätze nicht analysiert wurden oder grundlos erstellt worden sind, da für die Analyse schließlich alle hier erfassten Attribute und Attributsklassen interpretiert werden sollten und dies für manche Bereiche zu Befunden führte, bei anderen dagegen nicht. Nachdem die Datensätze dann bereits erstellt worden waren, können sie hier in geeigneter, d.h. interaktiver, Form gezeigt werden und der weiteren Erforschung als Datenmaterial dienen.
Ganz ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Methodik, welche in dieser Form bisher noch nicht angewendet wurde, zumindest nach meinem Kenntnisstand. Es wurde etwa speziell für diese Arbeit das Tool GIAnT für die Annotation von graphischen Bildern entwickelt (siehe Kapitel ), ohne welches die Digitalisierung der Texte und somit die korpusbasierte Analyse nicht vorstellbar gewesen wäre. Auch die Verwendung einer Graphdatenbank (Neo4J), die sich zwingend aus der Beschaffenheit des Sprachmaterials ergab, ist eines der ersten Beispiele für die Nutzung von neuen und innovativen Mitteln im Rahmen der Linguistik. Die Nutzung von interaktiven Karten ist offensichtlich weitaus verbreiteter, aber auch hier hoffe ich, Forschende durch die Verwendung in dieser Arbeit zur Nutzung der hier verwendeten Open Source Tools motivieren zu können, da sie ein erhebliches Potential (nicht nur) für die Erforschung von georeferenzierten Sprachformen bieten.
Abschließend möchte ich noch kurz den Aufbau der Arbeit skizzieren. Das einleitende Kapitel widmet sich zunächst dem Untersuchungsgegenstand Scritte Murali und gibt, nach einem kurzen Abriß zur Begriffsetymologie sowie zur geschichtlichen Verwendung des Begriffes Graffiti, eine Definition des Untersuchungsgegenstandes. Die theoretischen Grundlagen für die Analyse der Kommunikationsfunktionen werden in Kapitel anhand der Basiskategorien von Jakobson (1979) in einem Arbeitsmodell dargestellt, bevor in Kapitel das Analysemodell und die Rahmenbedingungen der Prototypikalität beschrieben werden. Die theoretischen Vorarbeiten sind damit abgeschlossen und der empirische Teil der Forschungsarbeit beginnt. Kapitel umfasst die Ausführungen zur Feldforschung (DEFAULT) mit den Daten zu den Erhebungsgebieten und den zeitlichen Angaben sowie einer quellenmethodischen Eingrenzung. Eine ausführliche Beschreibung zur Kompilierung des Korpus findet sich in Kapitel . Die Ergebnisse der Digitalisierung und die resultierenden Eckdaten des Korpus mit einer Übersicht der relevanten Attributsklassen werden in Kapitel gegeben. Kapitel zeigt die umfassende Auswertung der Korpusdaten – einmal für die scritte murali als übergeordnete Kategorie (DEFAULT) sowie für die einzelnen Domänen (DEFAULT bis DEFAULT). Kapitel bildet das letzte Kapitel der Empirie und fasst die aus den Ergebnissen der Genre-Prototypen abgeleiteten Funktionalitäten der domänenspezifischen scritte murali zusammen. Alle Informationen zu den verwendeten Programmen und den jeweiligen Lizenzen, zur Nutzung der interaktiven Karten sowie ein Abkürzungsverzeichnis finden sich im Anhang.
2. Untersuchungsgegenstand scritte murali
Die Entscheidung, den in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Untersuchungsgegenstand als scritte murali und nicht Graffiti3 zu bezeichnen, mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Stellt man sich die Frage, was genau Graffiti sind, so wird bereits beim Versuch einer vorwissenschaftlichen Eingrenzung des Begriffs klar, dass es sich dabei offensichtlich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von, in irgendeiner Art und Weise zusammenhängenden, Ausprägungen handelt muss. Nachfolgend soll erläutert werden, warum ich mich bewusst dafür entschieden habe, die italienische Form scritte murali zu verwenden, wobei die Ausführungen auch explizit dazu dienen, an den komplexen Gegenstand scritte murali4 heranzuführen. Der Titel der Forschungsarbeit – die Strategien innerhalb dieser Kommunikationsform zu erfassen und analysieren – setzt bereits einige fundamentale Thesen voraus, die nicht nur von Autor und Lesern eine klar vorgezeichnete Perspektive fordern, sondern außerdem Auswirkungen auf die methodische Vorgehensweise bei der Erfassung und Analyse des Untersuchungsgegenstandes nach sich ziehen. Die Bezeichnung als Kommunikationsform und die Verwendung des Begriffes Strategien implizieren, dass ganz bestimmte Faktoren (bspw. Teilnehmer, Art des Mediums usw.) von variabel gewichteter Bedeutung sind und dass diese Faktoren anscheinend bewusst eingesetzt werden, um welche Art von Effekt auch immer zu bewirken. Wie sich zeigen wird, muss aufgrund der Komplexität des Gegenstandes immer wieder von ganz grundlegenden Fragestellungen ausgegangen werden, um das Phänomen Scritte Murali wissenschaftlich zu fassen und analysieren. Bestimmte Ausführungen mögen dem Leser stellenweise pedantisch erscheinen, jedoch ist es wahrscheinlich, dass die umgangssprachliche und v. a. wissenschaftliche Verwendungsweisen (und vielleicht noch wichtiger, die dazugehörigen Konzepte) des Begriffs, zu unzutreffenden Annahmen führen werden. Eine Unterordnung des Begriffs scritte murali unter das Hyponym Graffiti ist daher ebenso unerlässlich, wie eine klare Skizzierung der Ko-Hyponyme zu den Scritte Murali. An dieser Stelle möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass, obwohl ich darum bemüht bin, den Gegenstand möglichst genau zu bestimmen und kategorisieren, es nicht mein Ziel ist, ihn um jeden Preis bestehenden Typologien zu zuordnen. Um von Einzelfällen (die auf den ersten Blick völlig ungeordnet und nicht klassifizierbar erscheinen mögen) zu generalisierenden Aussagen zu gelangen, werde ich auf fundamentale Theorien zurückgreifen, ohne dabei die empirische Vielfalt des (Sprach-)Materials in vermeintlich geordnete, aber zunehmend unübersichtliche, Klassifikationen und Typologien zu pressen. Auch steht eine erschöpfende (Neu-) Definition von Graffiti nicht im Vordergrund – dazu später mehr (s. u. DEFAULT).
Konsultiert man wissenschaftliche Literatur, die sich mit Graffiti beschäftigen,5 sind v. a. aus methodologischer Sicht bestimmte Ansätze beobachtbar. Zunächst, dass der Begriff Graffiti in verschiedensten Wissenschaftsbereichen verwendet wird, wobei der Gegenstand Graffiti logischerweise jeweils unter völlig anderen Gesichtspunkten analysiert wird. Die Forschungsbereiche, die ‘etwas’ untersuchen, was man als Graffiti bezeichnen kann, beginnen bei der Archäologie und erstrecken sich von der Altertums- und Mittelalter-Forschung, über Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaft, Psychologie, bis hin zur Sozialpädagogik und Soziologie, wobei das Phänomen auch aus kunstwissenschaftlicher oder juristischer Sicht betrachtet und diskutiert wird. Bei einer solchen Breite an wissenschaftlichen Zugängen, mit ihren jeweils eigenen methodologischen und wissenschaftstheoretischen Vorgehensweisen und Grundlagen, ist es verwunderlich, dass die Problematik der Definition6 selten expliziert wird und häufig bestimmtes Wissen und Perspektiven vorausgesetzt werden, ohne darauf hinzuweisen. Ein möglicher Grund mag genau in der Verwendungspraxis innerhalb recht heterogener Forschungsfelder und einer gleichzeitigen umgangssprachlichen Bezeichnung für ein allgemein bekanntes, aber eben nicht klar fassbares Phänomen, liegen. Eben diese Problematik bei der Erfassung des Phänomens deutet Detlef Hofmann an, wenn er bemerkt:
Die ordnende Sorgfalt der Archäologen des vorigen Jahrhunderts haben wir weit hinter uns gelassen, wir bezeichnen jede inoffizielle Wandbeschriftung und -bebilderung als Graffito, egal ob es sich um das gekrazte [sic] Herz von Hans-Jürgen und Elsa handelt oder um ein Strichmännchen des Sprayers von Zürich. Natürlich ist uns mit der Ausweitung des Begriffs auch eine Möglichkeit zur Differenzierung verloren gegangen.(Herv. SL; Hofmann 1985, 21)
Hofmann spricht hier neben der Folge der Begriffserweiterung von einer „ordnende[n] Sorgfalt der Archäologen“, die tatsächlich bedeutend ist und auf die ich weiter unten zurückkommen möchte.
Auch in der Einleitung des von Beuthan und Smolarski herausgegebenen Sammelbandes Was ist Graffiti? (2011, 5-9) wird auf die unterschiedlichen Definitionsansätze und verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge verwiesen sowie das Fehlen einer (wissenschaftlich-) philosophischen Auseinandersetzung mit der Thematik beklagt. Smolarski spricht der Vielzahl an Forschungszugängen (begonnen bei Annäherungsversuchen über die prähistorische Höhlenmalerei) ihre Berechtigung zu, bemerkt aber zu Recht, dass diese „für sich allein genommen, jenseits einer interdisziplinären Auseinandersetzung, wohl wenig Aussagekraft haben werden“ (2011, 6). Am Beispiel des Graffiti-Readers von Norbert Siegl (Leiter des Instituts für Graffitiforschung in Wien) bringt es Smolarski auf den Punkt, wobei ich seine Feststellung über den Reader hinaus auf den Großteil der Arbeiten ausweiten möchte: „Die Untersuchung setzt schon einen Begriff von Graffiti voraus, diskutiert diesen folglich nicht, kurz: Es fehlt an kategorialem Unterscheidungswissen, es fehlt an einer Grundlage“ (2011, 5).
Ebenfalls auffällig in der Verwendung des Begriffs in der Literatur ist, dass selbst wenn auf das terminologische Problem hingewiesen wird, entweder eine deutliche Definition ausbleibt oder eine recht oberflächliche Beschreibung erfolgt. Wird eine Definition gegeben, lassen sich v. a. zwei große Ansätze erkennen: einerseits wird eine semasiologische Sichtweise eingenommen und versucht über die etymologische Entstehungsgeschichte zu erklären, was Graffiti eigentlich bezeichnet, andererseits wird die Praktik des ‘Etwas an die Wand Schreibens’ als Ausgangspunkt gesetzt, um über eine chronologische Betrachtung des Phänomens bis hin zum aktuellen Status zu einer Definition zu kommen. Allgemein führen beide Wege oft zu teils sehr weit, teils sehr eng gefassten Definitionen. Besonders in (kürzeren) Aufsätzen kommt es häufig zu knappen Beschreibungen, die bestimmtes Wissen bzw. grundlegende Differenzierungen innerhalb der Praktik und/oder Entstehungsgeschichte als bekannt voraussetzen, wobei maximal marginal auf die m. M. n. weitreichenden Folgen für die Methodik und damit die gesamte Analyse hingewiesen wird.7 Eine explizite Gegenüberstellung verschiedener Graffiti-Erscheinungen und Definitionsweisen dagegen treten selten auf. Zu nennen wären hier die Diskussionen bspw. bei Northoff 2005, Lohmann 2017, Langner 2001, Klee 2010, Skrotzki 1999 oder Volland 2010. Wenn Lohmann und Langner – beide im Bereich der Archäologie tätig – eine Abgrenzung von antiken Inschriften zum aktuellen Phänomen Graffiti anstreben und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede ansprechen, so geben Klee und Volland zumindest eine mehr oder weniger klare Abgrenzung der Unterkategorie „Wort-, Symbol- oder Parolen-Graffiti“ bzw. „Parolen- oder Protestgraffiti“ von Graffiti allgemein (vgl. Klee 2010, 109-110 und Volland 2010, 91-92). Lohmann und Langner kommen nicht umhin den schlechten Ruf der Graffiti zu diskutieren, welcher aufgrund der aktuellen Ausprägungen des Phänomens dem Begriff anhaftet (vgl. Lohmann 2017, Kapitel 1; Langner 2001, 20). Allgemein scheint die Tatsache, dass Graffiti gemeinhin als subversiv und Akt des Vandalismus angesehen und daher negativ rezipiert werden und/oder wurden, bei der Definition eine relativ große Rolle zu spielen. Dies zeigt sich besonders darin, dass viele Wissenschaftler und Autoren auf diesen Kontrast Kunst vs. Verbrechen eingehen – wie dies oft auch bei amerikanischen Autoren geschieht („aesthetic pratice“ vs. „criminal activities“, bspw. bei Halsey/Young 2006, 275) – womit das Phänomen Graffiti nicht selten auf den Teilaspekt des Rechtsproblems reduziert wird. Bei juristischen oder soziologischen Betrachtungen mag dieser Faktor (einer) der zentralste(n) sein, bei interdisziplinären oder – wie im Fall der vorliegenden Arbeit – linguistisch-zentrierten, kann dieser Faktor jedoch nur ein – und dann eher peripherer – Teilaspekt sein.
Northoff stellt in seiner Arbeit Graffiti – Die Sprache an den Wänden (2005) verschiedene Definitionsansätze aus der deutschen Graffitiforschung der letzten 40 Jahre der Definition von Karl Zangenmeister aus dem Jahr 1871 gegenüber. Die gesammelten Definitionen stammen dabei von Autoren, die in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen tätig sind: bspw. vom Sozialpädagogen Axel Thiel (von Northoff auch als der Graffiti-Experte bezeichnet, da er über 30 Jahre die Kunst der Graffiti erforschte und den Begriff Graffitiforschung einführte; vgl. 2005, 118), dem im Bereich der Volkskunde forschenden Peter Kreuzer (Autor des Graffiti-Lexikons von 1986) oder von Beat Suter (Literaturwissenschaft). Die Definition von Zangenmeister wird von Northoff als „älteste umfassende“ beschrieben (2005, 117) und enthält „bereits alle jene Merkmale der inoffiziellen Wandbotschaften […], die in so vielen späteren Definitionen teils repetitiv, teils in anderen Worten wiederkehren: Anonymität, Einfachheit; an fremden Wänden und ohne öffentlichen Auftrag verfertigt“ (Herv. SL; 2005, 121). Northoff selber liefert einen „Definitionsversuch: WortGraffiti“, der sehr weit gefasst ist und relativ ungeordnet verschiedenste Faktoren zusammenzubringen scheint (vgl. Northoff 2005, 124-128).8
Was sind nun aber Graffiti und warum empfiehlt es sich, neben einer eindeutigen Abgrenzung des zu untersuchenden Gegenstandes, möglicherweise auf eine andere Terminologie auszuweichen? Warum werden Ausformungen, wie sie in den Abbildungen 1 – 5 zu sehen sind, mit dem Begriff Graffiti bezeichnet? Was haben die Praktiken gemeinsam? Worin liegen die Unterschiede?
Zur Klärung dieser Fragen möchte ich bei zwei zentralen Faktoren ansetzen, um einen ersten Überblick zu schaffen und anschließend eine grundlegende Definition zu geben. Dazu werde ich einerseits die Etymologie bzw. Verwendungsgeschichte des Begriffs Graffiti zusammenfassen, um die Bedeutungserweiterung und ihre Folgen darzustellen. Andererseits ist es naheliegend von einer Praktik ‘Etwas an Wände malen’ auszugehen, das dies, wie oben angedeutet, anscheinend hinreichend ist, um verschiedenste Ausprägungsformen mit lediglich einem Begriff zu bezeichnen. Dabei werde ich diskutieren, ob es tatsächlich eine und wenn ja, welche, Konstante gibt, die eine Ausweitung des Begriffs auf die verschiedenen Denotate rechtfertigt. Um jeglichen Illusionen, wie die Antworten auf die eben gestellten Fragen ausfallen werden, zuvor zu kommen, möchte ich die Thesen von Ralf Beuthan (2011, 121-139) voranstellen und sie als Rahmen für meine Überlegungen nehmen. Ohne im Detail auf die gewinnbringenden Überlegungen von Beuthan einzugehen, möchte ich mich direkt seinen beiden Thesen anschließen. Er formuliert eine methodologische und eine wesenstheoretische These, wobei die wesenstheoretische hier von größerer Bedeutung ist. Die methodologische These bezieht sich auf den Faktor der Illegalität von (modernen) Graffiti und dem Problem, dass dieser Faktor zum Zentrum der Definitionsfrage gemacht wird. Beuthans These folgt zu Recht der Annahme, dass „die vieldiskutierte Illegalität des Graffiti nur ein Indiz und nicht schon die Sache ist“ (2011, 123). Allerdings spielt die Illegalität bei bspw. antiken Graffiti eine weitaus geringere Rolle, als dies bei den heutigen Graffiti der Fall ist: „Denn sie [die Graffiti] mögen inoffiziell – d. h. ohne explizite Genehmigung Anderer gemacht –, dabei aber nicht zwangsläufig illegal gewesen sein; sie waren keine Ausdrucksform des Protests, sondern selbstverständlicher Teil der urbanen Landschaft“ (Lohmann 2017, 4). Damit verliert diese These in Bezug auf eine mögliche Definition für Graffiti allgemein an Gewicht. Die zweite These zum Wesen von Graffiti jedoch muss m. A. n. als Grundlage aller Herangehensweisen an das Phänomen Graffiti gelten, erst recht, wenn man Subkategorien oder Teilaspekte davon untersuchen möchte und motiviert gleichzeitig dazu, auf den Begriff Graffiti zu verzichten.
Meine wesenstheoretische These ist, dass der Ausdruck ‘Graffiti’ gar kein Wesen beinhaltet. Die frühen Wandkritzeleien z. B. in Ephesus und die großflächigen geometrischen Figuren z. B. von ‘Chintz’ in Dortmund mögen eine Verbindung erkennen lassen – einen gemeinsamen Wesenskern haben sie nicht. […] Der Gedanke, der den Rahmen für meine weiteren Überlegung bildet, ist folgender: (i) Ich gehe davon aus, dass es kein Wesen des Graffiti gibt; (ii) ich gehe ferner davon aus, dass es auch keine allgemeinen Merkmale bzw. bestimmte Elemente gibt (bzw. geben muss), die in jedem Fall vorliegen müssen, damit man jeweils von Graffiti sprechen kann, (iii) Dies impliziert jedoch nicht, dass es keine wiedererkennbare und aussagekräftige Merkmale gibt, sondern nur, dass sie nicht in jedem Fall anzutreffen sein müssen, (iv) Zur Bestimmung dessen, was Graffiti ist, sind also sehr wohl allgemeinere Merkmale herauszuarbeiten, aber nicht mit dem Anspruch, dass sie für alle Fälle gelten müssen, (v) Der entscheidende und durchaus schwierige Punkt ist der, ob es noch ein Argument geben kann, bei den verschiedenen, historisch, ästhetisch und funktional divergierenden Fällen überhaupt noch jedes Mal von ‘Graffiti’ sinnvoll sprechen zu können.(Herv. SL; Beuthan 2011, 123-124)
Der Schlüssel, um diese internen Verbindungen zu fassen und gleichzeitig den Divergenzen die nötige Beachtung zu schenken, ist das Konzept der Familienähnlichkeiten von Ludwig Wittgenstein. Danach lässt sich Beuthans These derart zusammenfassen, dass Graffiti keinen zu definierenden Wesenskern oder allgemeingültige Merkmale hat, und die verschiedenen Ausprägungsformen dennoch im Sinne der Familienähnlichkeiten über Merkmalsgruppen miteinander verknüpft oder ‘verwandt’ sind (vgl. Beuthan 2011, 124).
2.1. Etymologie des Begriffs und die Frage nach einer geschichtlichen Konstante
2.1.1. Antike und Moderne Graffiti
Der Begriff Graffiti wurde im 18. Jhd. geprägt, um die in jener Zeit massenweise neu entdeckten Inschriftengattungen in den Vesuvstädten und Rom zu benennen. Bis dahin wurde das Phänomen bzw. dieselben Inschriften, welche (vermutlich) ein fester Bestandteil des antiken Stadtlebens im Römischen Reich waren, zwar mehr oder weniger ausführlich von zeitgenössischen Autoren kommentiert und erwähnt, jedoch ohne eine übergreifende Bezeichnung dafür zu haben (vgl. Lohmann 2017, Kapitel 1; Hinz 2011, 12). Damals wurden diese inoffiziellen Wandschriften mit dem Neologismus graffiti benannt, abgeleitet aus dem Italienischen sgraffiare oder graffiare. Erst ca. 200 Jahre später wurde der Begriff analog für das v. a. von den USA ausgehende Phänomen der subkulturellen Wandmalereien verwendet und ab diesem Moment war es unumgänglich, dass bei Verwendung desselben, ungewünschte Assoziationen und Konnotationen mitverstanden wurden. Im Bereich der Altertumsforschung bezeichnet der Terminus ein relativ klar definiertes Phänomen und zwar inoffizielle Inschriften auf (Innen- und Außen-) Wänden, welche in eine Oberfläche geritzt oder manchmal mit Kohle oder Kreide aufgetragen wurden und sich klar von den sog. dipinti, also gemalte, teils offiziell in Auftrag gegebene Wahlaufrufe oder Ankündigungen, unterscheiden (vgl. Lohmann 2017, 3-4; Northoff 2005, 52-53).
Graffiti leitet sich vom altgriechischen Verb γράφειν (graphein) ab, was so viel bedeutet wie ritzen oder einritzen, wobei die Bedeutung jedoch auch auf malen und schreiben erweitert werden kann (Hinz 2011, 9; etimo.it). Eingeritzt wurden in der Antike die Bild- und Buchstabendarstellungen mithilfe eines Schreibgerätes in ein hartes oder weiches Objekt oder Masse (Stein, Ton, Wachstafel usw.), wobei das Schreibgerät von harten Metallstiften, über Meißel und Hammer, bis hin zu Griffeln reichen konnte. Grapheion mit der Bedeutung Griffel ist als graphium ins Lateinische entlehnt worden und von dort hat es über das althochdeutsche auch Eingang in die deutsche Sprache (vgl. dt. Griffel). Eine Bedeutung Schreiben für das Verb lat. graphiare taucht zwar in einem mittellateinischen Glossar auf, jedoch war dies nicht das geläufige Wort für die Schreibtätigkeit, sondern scribere, und es ist zu vermuten, dass das Wort im Zuge des Humanismus über die griechischer Literatur in den Wortschatz einiger Schriftgelehrter ins Mittellatein gelangt ist, wobei die ursprüngliche Bedeutung ritzen bereits verloren gegangen war. Giorgio Vasari, ein italienischer Künstler und Schriftsteller (1511-1574), bezeichnet in der Einleitung seiner Viten eine Ritz- bzw. Kratzputztechnik mit dem Wort sgraffito.
Hierbei wurde auf einen dunklen Untergrund eine weiße Mörtelschicht aufgetragen, in welche, solange noch nicht ausgehärtet, Ornamente und andere Zierformen oder bildliche Darstellungen eingekratzt wurden. Es wurden also sowohl die Erstellungstechnik als auch das daraus resultierende Produkt durch ein von graphein abgeleitetes Wort benannt. Wie oben bereits erwähnt, findet der Begriff dann im 19. Jhd. Eingang in die Archäologie und die Altertumsforschung (bspw. Epigraphik). Zentrale Merkmale für die Denotate sind hierbei die Herstellungstechnik (als etwas Eingeritztes) sowie der inoffizielle Charakter des Produktes (vgl. Hinz 2011, 9-13). Ab dem 20. Jhd. wird der Begriff Graffiti drastisch erweitert und bezeichnet von nun an auch ein ähnliches Phänomen der Moderne.
Moderne Graffiti, also das, was die breite Bevölkerung heute allgemein als Graffiti bezeichnen würde,10 entstehen Ende der 1960er Jahre in den USA, genauer in New York, und sind seit Ende des 20. Jhs. weltweit in urbanen Räumen und in diversen Erscheinungsformen verbreitet. Offensichtlich ist es schwierig die genaue Entstehung zu rekonstruieren, jedoch besteht unter den Graffiti-Experten relativer Konsens darüber, dass die auffälligen Sprühbilder und sog. Tags (sowie alle Zwischenstufen und Abwandlungen) aus den damals noch Hits genannten Ruf- oder Spitznamen von JULIO 204, THOR 191 und v. a. TAKI 183 entstanden sind.
Letzterer, ein in der 183. Straße in den Washington Heights wohnender Sohn griechischer Einwanderer namens Demetrius, begann auf seinen Fahrten als Bote durch Manhattan sein Kürzel oder seine Signatur TAKI 183 an verschiedensten Orten, die er passierte, anzubringen. 1971 gibt Demetrius sogar ein Interview in der New York Times und es finden sich in der Folgezeit unzählige Nachahmer, die ihr Pseudonym möglichst häufig in ‘ihrem’ Territorium anbringen.11 Das anfänglich Interesse der Öffentlichkeit an dem Phänomen schlug schnell in eine städteübergreifende Ablehnung (v. a. von Seiten der offiziellen Stellen) um und kurz darauf wurden erste Anti-Graffiti-Programme ins Leben gerufen, um dem Problem Herr zu werden, was jedoch aufgrund der schieren Masse an täglich neu entstehenden Tags unmöglich war. Schon bald reichte das Anbringen einfacher Tags nicht mehr aus und es wurden immer neue Wege gesucht (und gefunden), um sich in bestimmten Kreisen einen Namen zu machen, um sog. fame zu erlangen: die Anbringungsorte wurden immer ausgefallener und künstlerisch-ästhetische Elemente wurden zunehmend wichtig, um den eigenen Namen möglichst auffällig erscheinen zu lassen. Die Techniken wurden ausgefeilter, verschiedene Designs entstanden und es dauerte nicht lange bis die Tagger die Spraydose entdeckten, um ihre Pseudonyme auf jedweder Oberfläche in verschiedensten Farben anzubringen. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Phänomen Graffiti, neben der Musik (Rap und Deejaying) und dem Breakdance, zu einer der drei Teilrichtungen der sich schnell verbreitenden und ebenfalls neu entstandenen Hip Hop-Kultur und fand so den Weg nach Europa. Dort verbreitete sich die Subkultur ebenfalls rasend schnell und v. a. in Großstädten wie Berlin, München, Amsterdam, Rom, Zürich oder Barcelona waren die bunten Sprühbilder bald überall zu finden, wobei sie sich unabhängig von den amerikanischen Vorbildern entwickelten.12
Zusammenfassend lassen sich heute innerhalb dieser Art von Graffiti – Skrotzki nennt sie auch American Graffiti (1999) – verschiedene Grundformen bzw. Techniken unterscheiden: Tags – „einfarbige, graphisch gestaltete Signaturen“ (Skrotzki 1999, 31), Throw-Ups – ein- oder zweifarbige, größere Flächen bedeckende und schnell erstellte Schriftbilder, und schließlich Pieces – laut Skrotzki „die Krönung der American Graffiti“ (1999, 33), aufwendig erstellte und großformatige Wandbilder, in deren Zentrum der Name des Produzenten steht, wobei auch bspw. figürliche Elemente (sog. Characters) bei der Ausarbeitung gesprüht werden und Größe, Platzierung13, Originalität und technische Ausarbeitung innerhalb der Sprüher-Szene von großer Bedeutung sind (vgl. Skrotzki 1999, 31-35).
Diese Form (Piece) wird auch als Style-Writing bezeichnet und die konkreten Ausformungen können trotz des unikalen Charakters der Pieces wiederum gruppiert werden (bspw. bauchige Buchstaben als Bubble Style oder Wild Style). Die Technik des American Graffiti entwickelte sich weiter und neue mehr oder weniger verwandte Techniken entstanden. Nicht zuletzt dank einzelner, in der Öffentlichkeit respektierter und geschätzter, Künstler, änderte sich auch die gesellschaftliche Perzeption zumindest gegenüber einige der neu entstandenen Formen.
Als einer der Begründer der sog. Graffiti-Art gilt Keith Haring, der v. a. in den 1980er Jahren Wände in der ganzen Welt bemalte und dank seinen Kunstwerken nicht nur weltweit bekannt wurde, sondern die Vorstellung über die polarisierenden Graffiti in der Gesellschaft hin zum Positiven verschob (vgl. Lohmann 2017, 23).
Mit der Graffiti-Art stark verwandt ist Street-Art, wobei eine genaue Definition wie auch Kategorisierung des Phänomens noch aussteht und die Grenzen zwischen Graffiti und Street-Art bzw. das Verhältnis zwischen beiden Phänomenen nicht immer trennscharf sind. Auch ist nicht ganz klar, ob Street-Art ein Hyperonym oder Hyponym zu Graffiti ist und welche anderen Formen zu Street-Art zu rechnen sind (so z. B. die Stencils, s. u.) (vgl. dazu die Diskussion bei Müller Philipp-Sohn 2011, 77-91). Sicherlich ist American Graffiti und Street-Art gemein, dass die Aerosoldose bei einem Großteil der Produkte als Erstellungswerkzeug verwendet wird und es sich bei beiden (normalerweise) um ein ubiquitäres Phänomen handelt. Einen deutlichen Unterschied stellen einige Formen dar, die oftmals unter dem Sammelbegriff Street-Art fallen und nicht zu Graffiti gerechnet werden: Sticker, Installationen oder Plastiken. Laut Müller Philipp-Sohn divergiert Street-Art von Graffiti besonders dadurch, dass bei ersterer das „Bild“ („Icon“) das zentrale Element ist, bei letzteren dagegen das „geschriebene Wort“14, wodurch Street-Art „global verständlich“ wird und potentiell ein breiteres Publikum erreichen kann (Müller Philipp-Sohn 2011, 77-78). Die häufigere Verwendung von Ikonen und die breitere Palette an technischen Mittel zur Gestaltung von (öffentlichen) Räumen sind jedoch nicht allein Unterscheidungsmerkmale, sondern (auch hier besonders) wichtig ist der, wie Beuthan es nennt, „Einschuss an Reflexivität“ (2011, 138). Die (Kunst-) Werke der Street-Art verweisen „z. B. [auf] ihre urbane, kommunikative und soziale Umwelt […] mit allen dabei zur Verfügung stehenden Mitteln“, im Gegensatz zu den Graffiti (i. S. v. Style-Writing), die in naiverer Manier „nur um den Ausdruck“ (gemeint ist die Gestaltung) bemüht sind und ihnen der „Witz“ (gemeint ist das zur Reflektion anregende, bei Street-Art zentrale Moment) fehlt (Beuthan 2011, 138-139). Der aktuell bekannteste Street-Art Künstler, der es regelmäßig schafft durch seine Werke (meist gesprühte Stencils oder Murals) nicht nur auf sich aufmerksam zu machen, sondern v. a. die Betrachter zum Nachdenken zu bringen, ist Bansky. Ein wahrer Meister, der durch seine ‘witzreichen’ Werke soziale und politische Missstände kritisiert und eben jene Reflexionen hervorruft. Seine, wie auch jene der vielen anderen teils international bekannten Künstler, Bilder werden tausendfach in den neuen Medien (Twitter, Instagram, Facebook usw.) geteilt.
In meinen Augen ist Street-Art, was die Definition betrifft, ebenso schwammig wie Graffiti und lediglich als Sammelbegriff zu verwenden, da auch hier nicht klar ist, nach welchen Kriterien unterschieden wird.
Eine weitere Untergruppe der Graffiti sind die sog. ‘Schlichten Formen’. Die potentiell aus Schrift und Bild bestehenden Graffiti beschreibt Lohmann als jene Formen, die „mit spontan verfügbaren Schreibmaterialien, v. a. Blei-, Filzstiften oder Textmarkern z. B. in öffentlichen Toiletten oder in der unmittelbaren Nähe von Touristenattraktionen angebracht werden“, also Erinnerungs- und Toilettengraffiti (2017, 28). Skrotzki geht weiter und unterscheidet die American Graffiti, bei denen die äußere Form (der Style) wichtig ist, von den Formen, bei denen die Form sekundär und der zu vermittelnde Inhalt wichtig ist. Diese schlichten Graffiti bezeichnet er an anderer Stelle als Protest– oder Parolengraffiti (vgl. 1999, 7-9). Weitere Beispiele für schlichte Graffiti wären Namens- und Grußgraffiti, Kindergraffiti, Gefängnisgraffiti oder zusammenfassend Wort-, Symbol- oder Parolengraffiti (vgl. Klee 2010, 109). Ausschlaggebend ist die im Vergleich zu American Graffiti einfachere Ausarbeitung. Eine (heute) sehr verbreitete Form, die meiner Ansicht nach nicht so einfach zugeordnet werden kann, sind die sog. Poichoirs oder Stencils, wobei Motive anhand einer Schablone, die als Negativ oder Positiv fungieren kann, mit Sprühfarbe angebracht werden.
Diese in Paris in den 1980er Jahren von Blek Le Rat erfundene Form unterscheidet sich neben der Verwendung von Schablonen insofern von den Pieces, als letztere stets Unikate sind, Stencils dagegen meist in höherer Zahl gesprüht werden (vgl. Skrotzki 1999, 35-36; Lohmann 2017, 22). v. a. aber werden bei den Stencils selten die Pseudonyme der Produzenten (wie das bei den Tags und Pieces der Fall ist) verschriftlicht, sondern die Inhalte variieren. Aufgrund der oft schlichteren Form (meist mono- oder bi-koloriert), könnte man sie den schlichten Formen zuordnet, obwohl die Technik auch häufig im Bereich der Street-Art verwendet wird und hier anspruchsvolle Ausarbeitungen zu finden sind. Die Funde im Rahmen meiner Feldforschung zeigen, dass Stencils besonders im Bereich der Protest- und Parolengraffiti verwendet werden.
Ich möchte an dieser Stelle kurz auf etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede der antiken und modernen Graffiti eingehen, die sich laut Lohmann sowohl in „Form, Technik, und Verbreitung“ unterscheiden (2017, 19). Ein erster Punkt ist die Frage der Illegalität, die ich weiter oben bereits angesprochen habe. Es ist eine Tatsache, dass das Erstellen von Graffiti heutzutage, bis auf wenige Ausnahmen wie Auftragsarbeiten oder auf dafür bestimmten Flächen, eine Beschädigung fremden Eigentums ist und daher ein Rechtsproblem darstellt.15 Außerdem hat diese strafrechtliche Seite sicherlich Anteil an der allgemeinen negativen Perzeption von modernen Graffiti als ‘Geschmiere’ gehabt. Neben einer größeren Akzeptanz der breiten Masse (dazu gleich mehr) gegenüber den heutigen Formen, kann man auch davon ausgehen, dass unter bestimmten Umständen oder in bestimmten Räumen Graffiti zumindest von einem nicht unbedeutendem Teil der Bevölkerung toleriert werden.16 Weicht man illegal etwas auf und ersetzt es durch das neutralere ungefragt, wie dies bspw. bei Schrage und Siegl in ihrer sehr breit gefassten Definition17 geschieht, so lässt sich dieses Attribut auch auf antike Graffiti (und darüber hinaus) ausweiten und ist damit den beiden Formen gemeinsam. Wie oben erwähnt, wird ab dem 18. Jahrhundert zwischen graffiti und dipinti unterschieden (vgl. Lohmann 2017, 3-15, Northoff 2005, 52-53), wobei dipinti „Auftragsarbeiten gegen Bezahlung“ (also nicht ungefragt) sind und in diesem Sinne mit den Monumentalinschriften gleichzusetzen sind (vgl. Lohmann 2017, 15). In welchem Ausmaß Graffiti Teil der römischen Gesellschaft waren, ist bei Langner nachzulesen:
Das Beschreiben von Wänden war allerorts ganz üblich, wie die antiken Quellen belegen, und die meisten Römer hatten schnell einen Nagel oder gar einen stilus zur Hand. Den Unterschied muß man sich klar vor Augen halten, was in der Forschung bislang kaum der Fall war. […] [In] der Antike finden sich Graffiti überall, allerdings nur selten in Toiletten oder versteckten Ecken. Ebensowenig mußte man sich eines Vergehens schuldig fühlen, das als Sachbeschädigung strafrechtliche Folgen hätte.(Herv. im Orig.; 2001, 20)
Fraglich ist, ob die Behauptung, dass Graffiti in den antiken Städten ‘überall’ zu finden waren, ausreicht, um antike von modernen Graffiti zu differenzieren. Die Frage ist, was bedeutet ‘überall’ und ob sich in heutigen Städten nicht auch ‘überall’ (wenn man Fläche und Einwohnerzahl berücksichtigt) zu finden sind und wenn nicht, warum nicht? Eine der Fragestellungen dieser Arbeit ist die räumliche Verteilung der Scritte Murali in Rom und es wird sich zeigen, dass es normalerweise nicht an den Produzenten liegt, dass es Orte gibt, an denen nur wenige Scritte zu finden sind (American Graffiti nicht mit eingerechnet). Eine weitere Gemeinsamkeit sind die verschriftlichten Inhalte der Graffiti, auch wenn sich die thematische Bandbreite heute stark erweitert hat. Sowohl zu Zeiten des Römischen Reiches als auch heute wurden und werden Anwesenheitsnachlasse und Grüße, Sexuelles und Erotisches, Fäkales und Beleidigungen, aber auch Liebesbotschaften verarbeitet (vgl. Lohmann 2017, 28). Laut Northoff wurden die erotischen und sexuellen Inhalte „mehrheitlich in jener heute noch typischen Sprache, die viele Menschen Graffiti als etwas Schmutziges empfinden lässt“ angebracht (2005, 54), Liebesgraffiti in dagegen oft in gebundener Form, angelehnt an zeitgenössische Dichter wie z. B. Ovid, wobei sich sicherlich eine gewisse Ungeschicktheit erkennen lässt (2005, 72). Aber eben auch Namens- und Erinnerungsgraffiti, Poetisches und Nachdenkliches, Informationen im Sinne von heutigen Nachrichtenbörsen oder Anzeigen, Beschreibungen und Bekanntmachungen zu Gladiatoren oder Wahlaufrufe sind in Pompeji zu finden (vgl. Northoff 2005, 62 und 97-107 und Lohmann 2017, 5).18 Weiterhin gemeinsam ist der alten und neuen Form des Phänomens, dass sich Erstellungstechniken wie die Trägerflächen, in ihrer Essenz nicht verändert, sondern maximal (v. a. aufgrund der Erfindung neuer Schreibgeräte und potentieller Träger) erweitert haben (vgl. Northoff 2005, 111), was aus dieser Perspektive konträr zu Lohnmanns Aussage, dass sich die Formen „technisch“ klar unterscheiden (s. o.), steht. Auch lassen sich die strukturellen Merkmale der Graffiti aus der römischen Zeit, wie sie Lohmann formuliert, ohne Probleme auf die moderne Form übertragen (wodurch der proklamierte Unterschied zwischen den Formen immer geringer ausfällt):
Graffiti werden in der Forschung üblicherweise als privat, inoffiziell und informell bezeichnet: privat, weil sie persönliche Gedanken, Anliegen und Nachrichten enthielten; inoffiziell, weil sie nicht im Auftrag oder mit Genehmigung Anderer angefertigt wurden; informell, weil sie keinen inhaltlichen und formalen Vorschriften folgten.(Herv. SL; 2017, 14)
Unterschiede zu finden, ist weitaus schwieriger. Lohmann und Langner heben hervor, dass antike Graffiti zwar ungefragt aber (vermutlich) nicht illegal waren und sich daraus einer der (Haupt-) Gründe ergibt, die Formen klar voneinander zu differenzieren (s. o.). Der Aspekt ‘legal-illegal’ stellt jedoch ein zu marginales Element dar, um eine so deutliche Unterscheidung zu rechtfertigen. Lohmann nennt als weiteres Unterscheidungsmerkmal die Spontaneität der Produzenten, die „entsprechend ihrem künstlerischen Anspruch“ und der damit verbundenen Vorarbeit und Planung heute stark eingeschränkt sei, wogegen „antike Graffitischreiber umgekehrt wohl meist spontan dort schrieben, wo sie sich eben gerade aufhielten“, was wiederum eine unterschiedliche Motivation und Intention impliziere (vgl. 2017, 25). Das trifft jedoch lediglich auf einen Teil der heutigen Formen zu und ist daher nur teilweise als Argument zu werten. Auch die aus der unterschiedlichen technischen Ausführung resultierende Form ist ein zu diskutierender Punkt. Die Schrift in den antiken Graffiti ist heute „zunächst schwer lesbar“, die Kursive waren jedoch eine „gängige Form von Schreibschrift“, so Lohmann (2017, 27). Style-Writing sei heute auch (für jemanden der sich in der Szene nicht auskennt) schwer zu entziffern, allerdings sei dies von den Produzenten so gewollt, da genau dies ein „eigens entwickeltes Alleinstellungsmerkmal“ sei (Lohmann 2017, 27). Übersehen wird hierbei jedoch, dass sich auch dieses Kriterium nur auf einen ganz bestimmten Teil der aktuellen Graffiti (nämlich die Tags, Throw-Ups und Pieces) anwenden lässt – viele Kategorien der schlichten Formen, werden ebenfalls in heute ‘normalen’ Schriftformen und spontan erstellt. Also auch hier lassen sich weniger Unterschiede feststellen, als dies von einigen Autoren suggeriert wird.
Ein klarer Unterschied – der durch die empirischen Arbeiten im Bereich der Archäologie im Verbund mit den Ergebnissen dieser Arbeit zu Scritte Murali aus dem 21. Jhd. belegt werden kann – ist, dass interessanterweise in den pompejanischen Inschriften der thematische Bereich der Politik nicht zu finden ist, was im klaren Unterschied zu den heutigen Graffiti steht. Während in Pompeji Wahlempfehlungen zu finden sind, so kommt es an den Wänden so gut wie nie zu politischen Protesten, wie dies in Rom sehr wohl der Fall war, wo bspw. Nero-Statuen mit Graffiti kommentiert wurden (vgl. Northoff 2005, 101 und Lohmann 2017, 28).
Der Blick auf den geschichtlichen Verlauf der Begriffsverwendung von Graffiti und die Bedeutungserweiterung hat v. a. eines gezeigt: er kann nichts anderes sein, als ein komplexer Sammelbegriff, der eine Vielzahl von völlig unterschiedlichen Ausprägungen beschreibt, wobei selbst Untergruppen oft nur schwer zu fassen sind. Gleichzeitig ist eindeutig eine gewisse ‘Verwandtschaft’ auf verschiedenen Ebenen zwischen all den Formen erkennbar. Verschiedenste Konstituenten der Formen werden als gemeinsamer Knotenpunkt verwendet, um die Bezeichnung als Graffiti für die jeweilige Form zu rechtfertigen. Solche binominalen Bezeichnungen verweisen indirekt auf ein Kategorisierungsverfahren: Ein Teil des Ausdrucks gibt den Typus der übergeordneten Kategorie ‘Graffiti’ an (also z. B. Graffiti in denen Namen verschriftlicht werden), wodurch Laien wie Wissenschaftler schon einiges an Informationen ableiten können. Gleichzeitig werden jedoch unterschiedliche Grundlagen für die Kategorisierung impliziert: Erstellungstechnik (Schmauchgraffiti, Stencils), äußere Form (Style-Writing), Trägerflächen (Whole-Train), inhaltlich-thematische Aspekte (Liebesgraffiti, Namensgraffiti), Intention(en) seitens der Produzenten (Erinnerungs-, Protestgraffiti) usw.. Die verbindenden Ebenen werden in den wissenschaftlichen Arbeiten vermischt und heterogen verwendet, wobei oft nicht einmal explizit auf die Problematik der Terminologie hingewiesen wird. Es entstehen teils widersprüchliche Aussagen, aber v. a. wird oft übersehen, dass es (vermutlich) nicht möglich ist, eine allgemeingültige, umfassende Definition zu geben. Um mindestens Untergruppen bilden zu können, muss der Wissenschaftler darlegen, welche Sichtweise er einnehmen möchte und sich von unklaren Definitionen distanzieren. Das methodologische und analytische Vorgehen hängt stark von diesem ersten Schritt ab.
Als wäre es noch nicht verwirrend genug, beschränkt sich der Begriff Graffiti leider nicht auf die bisher beschriebenen Formen. In vielen Arbeiten zu Graffiti (aus unterschiedlichsten Perspektiven) wird dem Phänomen ein Ursprung in der prähistorischen Zeit zugeschrieben und neben den zwei großen Blöcken (20./21. Jhd. und Römisches Reich) scheinen Graffiti ‘immer schon’ ein Teil der Menschheit gewesen zu sein. Dabei ist der Grundgedanke – oder zumindest hat es dies zum Anschein -, dass es sich bei Graffiti um eine Praktik handelt, die eventuell sogar zu den ureigenen Bedürfnissen der Menschen gehört. Nachfolgend werde ich die Verwendung des Begriffs aus Sicht des Ursprungs und über verschiedene Epochen hinweg knapp zusammenfassen und auch hier versuchen, verbindende Elemente zu extrahieren.
2.1.2. Zur Diskussion des Ursprungs und Begriffsverwendung
Laut dem Volkswissenschaftler Peter Kreuzer hat es „Graffiti schon immer gegeben, im Mittelalter, im Altertum, in vorgeschichtlicher Zeit“ (1986, 8). Unter dem Eintrag ‘Geschichte der Graffiti’ in seinem Graffiti-Lexikon (1986) knüpft er die Geschichte der Graffiti an die „Zeiteinteilung der Historiker. Die gliedern in 1. vorgeschichtliche (= prähistorische), 2. geschichtliche (= historische) Zeit. So gibt es auch 1. vorgeschichtliche = prähistorische und 2. geschichtliche = historische Graffiti“ (Herv. SL; Kreuzer 1986, 107) und sodann antike, mittelalterliche, neuzeitliche und gegenwärtige Graffiti. Prähistorische Graffiti konstituieren sich dabei aus „Graffiti-Zeichen“19, „Symbolen“20 und „Bilder-Graffiti“21, „Schrift-Graffiti“22 treten dagegen erst ab der historischen Zeit auf (vgl. 1986, 107). Die prähistorischen Graffiti wurden in Höhlen (Kreuzer verweist dabei auf die sog. ‘Höhlen-’ und ‘Höhlenbären-Graffiti’), auf Felswänden (Petroglyphen), – platten, -brocken und Steinen angebracht, welche in der ganzen Welt zu finden sind und sowohl gemalt als auch gekratzt wurden (vgl. Kreuzer 1986, 428). Kreuzer nennt einige Fundorte von „altsteinzeitlichen Graffiti“, welche auf ca. 40 000 – 30 000 v. Chr. datiert sind (u. a. Höhlen in Solutré, Front-de-Gaume oder Lascaux in Frankreich sowie Morella la Valla, Cueva de la Arafin oder Las Batuecas in Spanien), aber auch jüngeren Abbildungen, wie den Sahara-Graffiti, die sich in Algerien am und im Atlasgebirge befinden und ungefähr in der Zeit zwischen 10 000 und 1500 v. Chr. entstanden. Interessanterweise sprechen die von Kreuzer zitierten Kley und Graupner nicht von Graffiti, sondern von „naturalistischen Bilder“, „Felsbildern“, „Bildergeschichten“, „Felsmalereien“ und „Steingravuren“ und auch Kreuzer selber erklärt nicht, warum er diese Funde (sowohl in den Höhlen als auch in Afrika) als Graffiti einer prähistorischen Zeit bezeichnet (vgl. 1986, 429-431). Unter Höhlenbilder versteht er von Menschen der ausgehenden Altsteinzeit (120 000 bis 10 000 v. Chr.) an Höhlenwände gemalte, gesprühte oder gekratzte Bilder, ohne dabei den Begriff Graffiti zu verwenden (vgl. 1986, 152). Höhlenbären spielen für Kreuzer in der Geschichte der Graffiti insofern eine wichtige Rolle, als die Steinzeitmenschen diesen Tieren „das Graffiti-Zeichnen abgeschaut haben“, womit er sich auf die Technik (Etwas-in-Wände-kratzen) bezieht und dabei auf Aussagen von Prähistorikern verweist (vgl. 1986, 151). Der zitierte Forscher Károly Földes-Papp selbst spricht nicht von Graffiti, sondern von einer „erste[n] Anregung zur zeichnerischen Tätigkeit an der Höhlenwand“ (1975, 8), zumindest in der deutschen Fassung des zitierten Werkes Vom Felsbild zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift (1975) – der Titel der italienischen Version dagegen lautet interessanterweise Dai graffiti all’alfabeto. La storia della scrittura (1985).
Eine explizite Gleichsetzung Wandbild – Graffiti geschieht schließlich bei der Erläuterung zur Höhle in Lascaux, in der die Wandbilder als „sehr frühe Graffiti“ beschrieben werden (Kreuzer 1986, 197-198). Die vormals erwähnten Petroglyphen bezeichnet der Autor ebenfalls als „vorgeschichtliche Feld-Graffiti“, welche sog. Sinnschriften trugen, einer Vorstufe der Sprachschriften (vgl. Kreuzer 1986, 262).
Der Autor setzt also die Phänomene Wand-/Felsbild, Kunstwerk und Graffiti gleich, gibt jedoch zu keinem Moment an, wie er zu dieser Gleichung kommt. Für ihn begann das Phänomen Graffiti in prähistorischer Zeit, vermutlich, weil für den Autor (zumindest bis zu einem gewissen Grad) die Technik oder allgemein die Praktik, Wände mit Zeichen (im weitesten Sinne des Wortes) zu versehen, ausschlaggebend ist.
Auch Beat Suter sieht in den prähistorischen Wandmalereien die Wiege der Graffiti, die er „als in Mauern eingeritzte Zeichen und Inschriften“ versteht (1994, 9) und sich bei der Begründung wohl auf das Lexikon von Kreuzer bezieht. In den Ausführungen variabel, sprechen sich u. a. auch Boese (2003) und Skrotzki (1999) für die These aus, dass Graffiti bereits in der Prähistorie existierten. Skrotzki argumentiert dabei, dass beide Formen – prähistorische Höhlenmalerei und American Graffiti – „benutzen die Wand als Medium, […] wollen eine Botschaft transportieren, und beiden liegt eine durchdachte Farbgebung zugrunde“ und daher sind moderne Graffiti die Fortsetzung der „Beschriftung und Bemalung der Wände seit der Steinzeit“ (1999, 13). Richtig bemerkt der Autor, dass die Entwicklung innerhalb einer solchen Praktik eine wichtige Rolle spielt, bei den drei Argumenten – beide nutzen die Wand, wollen etwas kommunizieren und die bewusste Farbwahl – fehlt es m. A. nach jedoch an Erläuterungen. Bis zu welchem Grad sind die Wände einer europäischen Großstadt gleichzusetzen mit den Höhlenwänden der Steinzeit?23 Eine ‘Botschaft transportieren’ ist sicherlich für beide Formen gültig, aber bis zu welchem Grad wären die funktionellen Faktoren um diese Botschaft für beide Formen gleich, würde man beide Formen nach einem wissenschaftstheoretischen Kommunikationsmodell analysieren? Das Argument der Farbgebung scheint dabei das stabilste. Allerdings scheint es mir gewagt, die Tatsache, dass sich bei Höhlenmalereien und American Graffiti eine bewusste Farbwahl erkennen lässt, als Begründung für eine so direkte Verbindung zwischen den Jahrtausende auseinanderliegenden Phänomenen zu nehmen. Diese drei Argumente, wie sie hier stehen, beschreiben eher ‘Wandmalerei’, zu welcher man eventuell bestimmte Formen (man denke bspw. an Werke der Street-Art, die besonders bildliche Abbildungen zeigen) der Graffiti rechnen kann. Der Autor nennt als Beispiele für prähistorische Graffiti die Höhlenmalereien in Lascaux (Frankreich) und Altamira (Spanien) sowie die „Bilderfelsen“ im schwedischen Tanum aus der Bronzezeit (1999, 13-14).
Kritik an der frühen Ursprungsthese findet man bei Hofmann (1985) und Northoff (2005), der sich teilweise auf Hofmann bezieht. Detlef Hofmann weist einen Zusammenhang zwischen Höhlenmalereien und zeitgenössischen Graffiti entschieden zurück, erkennt jedoch eine Verbindung zwischen Inschriften aus dem alten Ägypten bzw. der Römischen Antike und den heutigen Mauerschriften (vgl. 1985, 17-38).
Um eine solche Behauptung [gemeint ist eine Gleichsetzung von Höhlenmalerei und modernen Graffiti] auch nur mit dem Anflug eines Beweises umgeben zu können, muß so lange abstrahiert werden, bis die Nahezu-Identität übrig bleibt. Wer Höhlenritzung und Klozeichnung zu fast Gleichem erklärt, muß von den gesellschaftlichen Zusammenhängen genau so absehen wie von der formalen Ordnung der gesamten Wand. Die Behauptung, daß Höhlenritzung und Klozeichnung fast gleich seien, ist genau so banal oder tiefsinnig, wie die Behauptung, Sexualität habe schon immer im Leben des Menschen eine Rolle gespielt.(Hofmann 1985, 18)
Die Zurückweisung der prähistorischen These stützt Hofmann auf folgende Punkte: Einerseits gab es (bis zum Erscheinen des Artikels) schlicht zu wenig „wissenschaftlich profunde Sammlungen von Graffiti“ (1985, 18). Andererseits sieht er für zeitgenössische (also moderne) Graffiti zwei Voraussetzungen, wodurch sie sich grundlegend von älteren, insbesondere von prähistorischen, Graffiti-Formen differenzieren:
Die erste ist die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Elemente der neuen Gesellschaftsordnung bilden sich mit dem frühen Finanz- und Handelskapitalismus, der seit dem 13. Jahrhundert von den oberitalienischen Städten ausgeht. Von der alten Herrschaftsordnung können diese Elemente jedoch mühelos integriert werden. […] Die zweite Voraussetzung für unsere zeitgenössischen Graffiti ist die Industrialisierung der Reproduktion, die Fotografie.(1985, 18)
Dadurch, dass sich Graffiti-Produzenten Wände aneignen, deren Besitzer sie nicht sind, und dies unter der Prämisse, vom Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch zu machen und zwar außerhalb der Medien, die unter der Kontrolle anderer steht, treten sie in ein besonderes Verhältnis zur „zentrale[n] Kategorie des Bürgertums: den Besitz“ (Hofmann 1985, 19). Trotz der Verschriftlichung diverser Thematiken, haben Graffiti, so Hofmann, eine Gemeinsamkeit: die Spannung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – „Ein Stück Privatheit wird veröffentlicht“ (1985, 19). Überdies sind Graffiti für Hofmann ein „Zeichen fortgeschrittener Alphabetisierung“, was den prähistorischen „Bild-Graffiti“ und Zeichnungen, wie sie oben beschrieben wurden, offensichtlich konträr gegenübersteht (1985, 19). In Bezug auf Namensinschriften in Ägypten negiert er eine anthropologische Konstante der Menschheit, sondern verweist anhand mehrerer (historischer) Beispiele auf die besondere Struktur der damaligen Großreiche, welche seiner Einsicht nach von einer „komplexen Infrastruktur“ und einem „hohen Mobilitätsgrad“ geprägt waren und in denen sich bspw. Söldner der Öffentlichkeit mitteilen wollten (1985, 20). Hofmann verweist dabei auf einen wichtigen Aspekt – die Kommunikationsabsichten, bei ihm am Beispiel der Graffiti und den sog. dipinti in Pompeji, die für ihn Texte sind, „die nicht den festgelegten Weg der Meinungsäußerung benutzen“ (1985, 22).
Northoff sieht die vorgeschichtliche These ebenfalls kritisch und geht von einem Beginn der (verbalen) Graffiti in der Römischen Antike aus, wobei er seine These auf den Vergleich aktueller Graffiti und jener aus Pompeji stützt (vgl. 2005, 43-123). Northoff unterstreicht die Bedeutung des Trägermediums (= Wand), das den entscheidenden Unterschied ausmacht, „da vor der Erfindung von Tontafel, Papyrus, Papier etc. keinem Menschen ein anderes Trägermedium für die Hinterlassung von Malereien, Zeichnungen oder Zeichen offen stand, als natürliche oder von Menschenhand erschaffene Wände bzw. Flächen“ und sich daher „[e]rst mit den für die Allgemeinheit zu teuren und nur den Oberen zugänglichen ersten papierartigen und Papier- Unterlagen […] eine eindeutig inoffizielle Beschriftungs- Form der Wände entwickelt haben [konnte]“ (2005, 123). Sicherlich müssen diese Faktoren berücksichtigt werden und trägt man den extremen Entwicklungen in den kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen allein der letzten 2000 Jahren Rechnung, so wird deutlich, dass es umso schwieriger ist, ein Phänomen, welches dem Anschein nach gesellschaftlich bedingt ist, für die letzten 100 000 Jahre zu generalisieren.
Nimmt man den Aspekt der Motivation seitens der Produzenten, um eine Konstante zwischen prähistorischen Malereien und späteren Graffiti zu finden, so sprechen einige Indizien dafür, dass die Motivation der Höhlenmalereien eher in rituellen Gründen lag. So wurden z. B. Tierbilder gemalt, um bestimmte Jagdzauber heraufzubeschwören, wobei bestimmte Tänze aufgeführt wurden und die Zeichnungen mit Pfeil und Speer ‘gejagt’ wurden (solche Szenen wurden teilweise auch auf den Wänden dargestellt) (vgl. Kreuzer 1986, 152 und besonders Földes-Papp 1975, Kapitel I). Der ungarische Forscher Földes-Papp betont in seinem viel rezipierten Werk Vom Felsbild zum Alphabet, dass „die Magie den Hauptimpuls dieser Kunstausübungen bildete“ (1975, 10 und allgemein Kapitel I.2.). Aufgrund der großen Gefahren durch Naturkatastrophen, Seuchen und den vorzeitlichen Tieren, lebte der Mensch in der Altsteinzeit in ständiger Angst. In diesem relativ schutzlosen Zustand, versuchten die Ur- und Frühmenschen durch Magie die überlebenswichtigen Bereiche ihrer Existenz zu beeinflussen:
Die Jagdmagie sollte in wunderbarer Fernwirkung den Jägern Mut zum Kampf einflößen, ihn vor Gefahr schützen und die Beute garantieren. Die Totenmagie sollte den erfolgreichen Jäger vor der Rache des erlegten Tieres bewahren.(Földes-Papp 1975, 13)
Der Forscher beschreibt dabei zwei wichtige Faktoren, welche die ‘prähistorische These’ noch fraglicher erscheinen lässt. Erstens der Fundort – die magischen Felsbilder sind tief in den Höhlen versteckt (bis zu 700 Meter, wie bspw. in der berühmten Tuc d’Audoubert Höhle). Diese Tatsache ist für Földes-Papp ein unmittelbarer Beweis für die Verwendung der Felsbilder aus magisch-ritueller Motivation (vgl. Földes-Papp 1975, 13-17). Antike (wie auch moderne) Graffiti jedoch befinden sich im öffentlichen oder mindestens halb-öffentlichen24 Raum. Der Begriff Öffentlichkeit lässt sich nur schwer bzw. nur stark abstrahiert auf die Altsteinzeit übertragen – auf die Antike oder sogar das Alte Ägypten jedoch relativ problemlos. Zweitens wurden nicht nur die Rituale selber von Einzelpersonen (Magiern) durchgeführt, sondern – aufgrund der zentralen Bedeutung für das Leben der eiszeitlichen Menschen – wurden auch die Bilder, die selber Teil der Magie waren, von den „allerbesten Künstler[n]“ angefertigt (Földes-Papp 1975, 23). Dies impliziert jedoch, dass nur ein ganz bestimmter – wenn man so will ‘ausgewählter’ – Teil der sozialen Struktur als Produzent aktiv wurde, was offensichtlich im klaren Kontrast zur (potentiellen) Produzentenmenge in der Antike steht. Die sozialen und alltäglichen Umstände sind für die Höhlenmalereien mehr als sinnstiftend, wie Földes-Papp zusammenfasst:
Warum haben aber die hervorragenden Künstler der Eiszeit keine echte Bilderschrift zustande gebracht, obwohl sie technisch vollkommen über die zeichnerischen Mittel verfügten? Weil sie, ganz von der Magie gefangen, noch kein Interesse daran haben konnten. Die Jäger und Sammler der Eiszeit waren immer nur während einer Jahreszeit seßhaft. Ihr Interesse kreiste in dem engen Bereich des bloßen Überlebens, so daß in ihnen kein Bedürfnis nach Mitteilung schriftlicher oder darstellerischer Art entstehen konnte – außer den magischen Aufzeichnungen und den spielerischen Ornamentierungen. Der harte Nahrungserwerb ließ dem eiszeitlichen Jäger keine Zeit für Muße und nicht genügend Kraft für andere Interessen als die Befriedigung seiner Triebe, der auch die Magie diente. […] Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Eiszeit schlossen das Bedürfnis nach einer Schrift im Sinne alltäglicher Mitteilungen oder überhaupt der Kommunikation mit dem Mitmenschen völlig aus; einzig eine magisch beschaffene Zeichen- und Gemäldeschrift konnte entstehen.(Herv. SL; 1975, 27)
Entscheidend ist hier im letzten Satz, dass „Kommunikation mit de[n] Mitmenschen“ in Form von „alltäglichen Mitteilungen“ nicht der Motivationsgrund für die Höhlenmalerein sein konnte. Das gerade das sowohl bei antiken als auch modernen Graffiti der Fall ist, muss nicht weiter erklärt werden. Eine solche Verwendung von Wänden für rituelle Handlungsabsichten, hat also mit den Intentionen der antiken Graffiti der Römerzeit und den heutigen Graffiti als Kulturphänomen recht wenig gemein. So wird zunächst davon Abstand genommen, antike wie aktuelle Graffiti und Felsmalereien als ein Phänomen zu sehen.
Eine Form, die immer wieder in der Diskussion um den Beginn der Graffiti genannt wird, sind die Namens- oder Erinnerungsgraffiti aus dem alten Ägypten. Der Ägyptologe Friedhelm Hoffmann spricht in seiner Arbeit Ägypten Kultur und Lebenswelt in griechisch-Römischer Zeit (2000) explizit von „Graffiti“, wobei er den Leser gleichzeitig in einer Fußnote bittet, sich von „negativen Assoziationen“ zu befreien, die „man mit modernen Graffiti“ verbindet (2000, 226):
Ägypten ist zu Recht ‘das klassische Land der Graffiti’ genannt worden.[…] In der Ägyptologie benutzt man den Terminus ‘Graffiti’ im weiteren Sinne und versteht darunter nicht nur eingeritzte sekundäre Inschriften sondern auch mit Farbe oder Tinte geschriebene (eigtl. ‘Dipinti’).(Hoffmann 2000, 226)
Bereits ab dem Alten Reich (ca. 2700 – 2200 v. Chr.) entstanden zahlreiche Schriften auf „Tempelwänden und -dächern, in Gräbern, an Felsen, Statuen usw.“ (Hoffmann 2000, 226), wobei die Bedingung der ‘Öffentlichkeit’ teilweise erfüllt wäre. Jedoch handelt es sich bei solch frühen Schriften oft um Gebete, die spezifischen Formularen folgen (vgl. Hoffmann 2000, 227), und sind somit mit Blick auf die Motivation eher den magisch-rituellen Bildern ähnlich (s. o.).
Ein konstantes Element, dass in „menschlichen Niederbringungen an wie immer gearteten ‘Wänden’“ seit der Vorzeit bis heute immer wieder zu finden ist, sind die Zeichnungen (Northoff 2005, 109). Die zahlreichen Inschriften im (Mittleren und Alten) Reich der Ägypter markieren dabei einen Bruch, da hier erstmals Schriftzeichen verwendet werden (vgl. Northoff 2005, 109).
Interessanter sind die zahlreichen Namensinschriften (zum Teil datiert), die bis in das Römische Reich reichen und v. a. von der hohen Mobilität innerhalb des Reiches zeugen. Neben Soldaten aus Söldnerheeren, haben sich auch allgemein Reisende an den verschiedensten Orten verewigt – mit ihrem Namen oder längeren Inschriften z. B. in Form von Reiseberichten (diese Inschriften wären dann eher als Erinnerungsgraffiti zu bezeichnen). Auch Bauberichte oder Abrechnungen aus Kornkammern sind heute noch zu finden und geben Einblicke in die damaligen Lebensumstände. Festzuhalten ist dabei, dass es zum einen die Vernetzung des Reiches und die Mobilität der Einwohner erlaubte, zu reisen und die Reisenden anscheinend den Drang verspürten, dies der Nachwelt bzw. Öffentlichkeit mitzuteilen, und zum anderen, dass diese Reisenden fähig waren zu schreiben (vgl. Hofmann 1985, 20, Hoffmann 2000, 227-233).25 Northoff bemerkt jedoch, dass selbst von den vielen (Namens-)Inschriften im Alten Reich der Ägypter nur wenige „mit einiger Sicherheit als Graffiti identifiziert werden“ können, da das Anbringen religiös motiviert war (ein jenseitiges Weiterleben sollte damit erreicht werden) (2005, 111).
Ob die (Gebets- und religiösen Namens-)Inschriften aus dem Alten Ägypten nun tatsächlich als die ersten Zeugnisse der Praktik Graffiti gelten können, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Solange die Diskussion zu alt-ägyptischen Inschriften nicht abgeschlossen ist, wird im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen, dass man erst ab dem Römischen Reich mit Sicherheit von einer „volkskundlich relevante[n] Äußerungsform“ bzw. Kulturphänomen (das man als Graffiti bezeichnet) sprechen kann (Northoff 2005, 111). Seitdem wurden unzählige Inschriften in Felsen, Wände, Torbögen oder sonstige Oberflächen geritzt oder aufgetragen. Aufgrund der Vergänglichkeit von Graffiti, müssen sich die Graffitiforscher – Graffitiforschung gibt es seit ca. 200 Jahren – allerdings mit den erhaltenen Inschriften zufrieden geben. Zeitgleich mit dem historischen Ende des Römischen Reiches (ca. 400-900 n. Chr.), entstanden lesbare Graffiti in der spätklassischen Phase der Maya-Kultur. Northoff erklärt dies dadurch, dass wenn es „Schriftlichkeit als einigermaßen im Volk verbreiteten Teil der Kultur gab“, es auch seit jeher zu inoffiziellen Schriften (also Graffiti) gekommen ist und dies ungeachtet von interkulturellen Kontakten (2005, 115). Außer den vielen Zeichnungen in den Maya-Tempeln, wurden auch Graffiti in Form von hieroglyphischer Schrift gefunden (Webster 1963, 38 und 47).
Auf einer Ballustrade in der Hagia Sofia im heutigen Istanbul sowie auf den Orkney-Inseln26 wurden u. a. Namensinschriften von Wikingern aus dem 10. und 11. Jhd. gefunden.
Besonders interessant ist der sog. Inscription Rock oder El Morro, einer massiven Felsformation, wo neben zwei Anasazi Dörfern (eines davon aus dem Jahr 1275 n. Chr.) auf der Spitze der Formation, Graffiti gefunden wurden, die über mehrere Jahrhunderte an der gleichen Stelle angebracht wurden. Neben prähistorischen Wandmalereien und Ornaments- und Tierzeichnungen aus der Zeit zwischen 450 und 1300 n. Chr., wurden (Namens-/Erinnerungs-) Graffiti, die seit dem 17. Jhd. erstellt wurden gefunden. Siedler, Soldaten, Pioniere, Reisende und Eroberer hinterließen ihre Namen auf den Felsen (vgl. Hofmann 1985, 20).
Namens- oder Erinnerungsgraffiti aus dem 18. und 19. Jhd. sind aber auch bspw. aus der Klosterschule Bebenhausen bekannt, und v. a. Ritzungen in Gefängniszellen waren immer wieder Gegenstand von Untersuchungen unterschiedlicher Art. Dabei wurden Gefängnis- und Namensgraffiti nicht nur von weltberühmten Künstlern, wie z. B. von dem Amerikaner Herman Melville während seiner Europareisen 1849 und 1856/57, kommentiert, sondern auch erstellt (bspw. im Straßburger Münster von Goethe und Herder) (vgl. hierzu Northoff 2005, 31-32). Die Liste der hinterlassenen Schriften ließe sich noch lange fortführen: das (Gauner-) Zinken, das seit dem 16. Jhd. dokumentiert ist, die Schriften von Soldaten auf ihren Feldzügen, wie z. B. die Soldaten von Napoleon, die Namensgraffiti von Lord Byron und dem Italiener Giovanni Battista Belzoni aus dem 19. Jahrhundert, die vielen Kindergraffiti in Paris im 19. und zu Beginn des 20. Jhs. oder die von Mao Zedong 1915 verfasste Schmähschrift im Waschraum seiner Universität in Changsha.
Um eine Zugehörigkeit all dieser Inschriften zu einer ‘Familie’ Graffiti feststellen zu können, lautet die Frage, ob es eine (anthropologische) Konstante über die Jahrhunderte gibt. Northoff zieht eine solche Konstante aus dem Vergleich der pompejanischen/römischen Graffiti mit dem heutigen Phänomen. Er kommt zu dem Schluss, dass Graffiti sowohl in der Antike als auch heute (vgl. dazu Northoff 2005, 43-116 und insbesondere 109-115)
- erstens durch die Verwendung von Schrift definiert sind,
- zweitens ihre Produzenten „in offener oder verdeckter Form“ ihre Motive für das Schreiben vermitteln,
- drittens sich nicht in ihrer Essenz verändert haben, was die Auftragungstechniken und -flächen betrifft (s. o.),
- viertens ihre Produzenten und Produzentinnen anonym sind,
- fünftens eine ihrer verschriftlichten Hauptthematiken ‘Sexuelles’ (oder allgemein ‘Geschlechterbeziehung’) ist, wobei sich heute die Thematiken vervielfacht haben (Politik, Protest usw.),
- und sechstens als ubiquitäres Phänomen zu sehen sind, durch welches sich Produzenten immer schon durch inoffizielle Schriftmitteilungen ausgedrückt haben.
Nicht alle Faktoren lassen sich auf die genannten Beispiele der anderen Jahrhunderte übertragen. So scheinen in den Graffiti aus Pompeji v. a. Namens- oder Erinnerungsgraffiti zu dominieren. Ein zweiter Faktor, der sich nicht generalisieren lässt, ist der Standort der Trägerflächen. Northoff nennt es ein „ubiquitäres“ Phänomen (s. o.), was insgesamt sicherlich auf Graffiti zutrifft, bei genauerem Blick zeigt sich die Ortswahl für bestimmte Zeitepochen relativ begrenzt (Kirchen, Burgen, Kerker oder z. B. der Inscription Rock). Dies kann jedoch auch daran liegen, das eines der den Graffiti inhärenten Charakteristika eben die Vergänglichkeit ist, d. h., nur bestimmte Graffiti aus dem Mittelalter sind der Nachzeit erhalten geblieben. Zentrale Punkte der oben genannten Thesen jedoch lassen sich sehr wohl über die Jahrhunderte anwenden und scheinen somit eine Konstante und letztlich ein bildender Faktor des Phänomens zu sein. Sicherlich sind antike Inschriften aus beiden Städten seit ihrer Entdeckung von großem Wert für die Wissenschaften gewesen, da sie tiefe Einblicke in die Lebenswelt der Bürger des Römischen Reiches gaben. Besonders interessant ist dabei der Einblick in den Alltag des ‘normalen’ Bürgers, seine Sicht- und Handlungsweisen, Meinungen, Vorlieben usw., welche weder aus den Gebäudeüberresten, noch aus den schriftlichen Werken der großen Künstler und Autoren jener Zeit so einfach abzulesen sind, wie aus den Graffitis – praktisch Zeugnisse aus erster Hand.
Betrachtet man die Verwendung und Erweiterung des Begriffs Graffiti über die letzten 200 Jahre und die diversen Argumente aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, Familienähnlichkeiten unter den konkreten Realisierungen über die Jahrtausende hinweg zu erkennen, so lassen sich mehrere Aspekte zusammenfassen Diese spielen anscheinend schon rein intuitiv eine Rolle und sind auch für die Analyse in dieser Arbeit von grundlegender Bedeutung:
- Trägermedium: Der Versuch Wände (egal welcher Art) als verbindendes Element zu fixieren ist plausibel, stößt dabei jedoch auf seine Grenzen, wie man in den kritischen Argumenten von Northoff sehen kann (s. o.). Meiner Ansicht nach, ist in Bezug auf das Trägermedium jedoch ein anderer Aspekt, der auch teilweise genannt wird, zentral und zwar der Standort der Trägerfläche, d. h., dass sie sich in der ‘Öffentlichkeit’ befinden muss. Die Materialität (Wand, Felsen, Baum, Fenster usw.) ist also von gerigerem Interesse, als der Standort.
- Technische Verfahren: Das Repertoire an Werkzeugen hat sich im Laufe der Jahrhunderte natürlich erweitert. Das ursprüngliche ist das abtragende Verfahren, d. h., die Oberfläche wird durch Kratzen (it. sgraffiare), Wischen, Ritzen usw. präpariert, und ist bis heute in verschiedenen Formen verbreitet. Man denke an die ‘Wasch mich’ Schriftzüge auf schmutzigen Fahrzeugen, die unzähligen Kindernamen auf schneebedeckten Autos oder v. a. an das sog. Scratching, bei dem mithilfe harter Gegenstände Schriften oder Bilder in glasähnliche Oberfläche geritzt werden. Zu diesem Verfahren sind dann im Laufe der Zeit das verdrängende Verfahren (z. B. Handabdrücke auf dem Walk-of-Fame in Los Angeles) und v. a. das am häufigsten eingesetzte, auftragende Verfahren dazu gekommen. Hierbei werden Substanzen aufgetragen bzw. der Trägerfläche hinzugefügt.
- Schrift: Die Verwendung von Schrift ist ein weiteres Argument, muss allerdings lediglich als hinreichender und nicht notwendiger Aspekt gesehen werden. Schrift-Bild Kombinationen sowie reine Bild-Zeichen können in bestimmten Fällen ebenfalls zu typischerweise schriftbasierten Graffiti-Kategorien gezählt werden. Im Bereich der Street-Art kann es z. B. zur exklusiven Verwendung von ikonischen Bildern kommen. Ausschlaggebend ist hier, dass es weniger um das Vorhandensein von Schrift (i. S. menschlicher Sprachsymbole) oder Bildgraphischen Zeichen (z. B. Ikone) geht, sondern darum was kommuniziert werden soll, also ob bspw. ein (tiefere) Reflektion durch das Abgebildete seitens des Betrachters erreicht werden soll.
Diese drei Aspekte sind jedoch für eine Kategorisierung insgesamt als peripher anzusehen (ausser dem Standort der Graffiti) und reichen alleine nicht aus, um eine Familienzugehörigkeit zu erklären. Bedeutender sind die Aspekte der Öffentlichkeit und der Kommunikationsgehalt.
- Öffentlichkeit (bzw. Halb-Öffentlichkeit): Wie oben erwähnt, ist der Standort des Trägers ein zentraler Aspekt. Mit Öffentlichkeit sind Räume gemeint, die potentiell jeder Person offen stehen oder mindestens von einem solchen Punkt aus zu sehen sind (dies könnte man als halb-öffentlich bezeichnen). In der Öffentlichkeit sollen dann private Inhalte (Meinungen, Vorstellungen, Haltungen usw.) vermittelt werden. Diese Inhalte müssen nicht zwangsläufig an die Öffentlichkeit, sondern in der Öffentlichkeit kommuniziert werden – Öffentlichkeit bezieht sich primär also auf eine räumliche und nicht soziale Dimension.
- Kommunikationsgehalt: Dies ist m. A. nach der zentralste Punkt. Alle anderen, oben genannten Aspekte sind letztendlich Teil eines Kommunikationsprozesses, innerhalb dessen sie variabel gestaltet werden können und sich dennoch meistens um ein relativ begrenztes Repertoire anordnen. Aus dieser Perspektive lassen sich Formen wie die American Graffiti von Formen wie Parolengraffiti am deutlichsten abgrenzen, trotz den Gemeinsamkeiten auf anderen Ebenen (wie Technik oder Träger). Aspekte wie die Anonymität auf Produzentenseite oder intendierte(r) Empfänger laufen hier zusammen. Nimmt man die Kommunikationsabsicht (mit all ihren Faktoren), so lässt sich das kaum fassbare Phänomen Graffiti relativ deutlich subkategorisieren (wobei die Grenzen nie ganz trennscharf zu fixieren sein werden). Gruppierungen nach Aspekten wie Träger oder Technik enden in viel zu heterogenen und schwammigen Kategorien.
Die Betrachtungen in diesem Kapitel erfolgten aus mehreren Gründen. Zunächst sollten sie zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Terminologie für das Konstrukt Graffiti dienen, wobei es nicht Ziel war auf eine neue Definition hinzuarbeiten, da dies – wie dargestellt wurde – m. A. nach nicht möglich ist. Dann sollten die Ausführungen an den Untersuchungsgegenstand heranführen, auch um methodische Vorgehensweisen besser erklären zu können. Außerdem sollte nun klar sein, warum es vorzuziehen ist, nicht von Graffiti zu sprechen, sondern einen alternativen Begriff zu verwenden. Zuletzt kann bereits aus der Diskussion zu den verschiedenen Definitionsansätzen eine erste wissenschaftstheoretische Grundlage für eine genaue Analyse abgeleitet werden. Was ich als Scritte Murali bezeichne und welche der oben beschriebenen Formen von Graffiti darin zu verorten sind, werde ich im nächsten Kapitel erläutern.
2.2. Scritte Murali – Eine Definition
Wie man in den vorherigen Gegenüberstellungen sehen konnte, kann es sich bei dem Alltagsbegriff Graffiti lediglich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl an teils unterschiedlichsten Ausprägungen handeln, wobei all diese Formen im Sinne der Familienähnlichkeit von Wittgenstein mehr oder minder miteinander verwandt sind. Vorrangiges Ziel der Arbeit ist es, ein Phänomen, das umgangssprachlich als Graffiti bezeichnet wird/werden könnte, als Kommunikationsform mit ihren konstitutiven Parametern zu erfassen. Aufgrund der Undefinierbarkeit und konnotativen ‘Vorbelastung’ von Graffiti, ist der Begriff m. E. n. nicht für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung geeignet und ich sehe daher die Notwendigkeit, einen alternativen Begriff – nämlich Scritte Murali – zu verwenden. Scritte Murali fasst dabei eine Reihe der oben beschriebenen Graffiti-Untergruppen zusammen. Um das Phänomen zu analysieren, möchte ich in diesem Kapitel beginnen einige mögliche Abgrenzungsparameter zu sammeln. Zunächst aber noch ein kurzer Blick auf die Terminologie in der italienischen Fachliteratur.
Sucht man nach dem Begriff murale bspw. bei Garzanti oder Treccani, so erhält man u. a. folgende Bedeutungen27:
1. di, da muro: scritte, manifesti murali(Garzanti: murale)
Bzw. bei Treccani:
murale1 agg. [dal lat. muralis, der. di murus ‘muro’]. – 1. Eseguito, effettuato su muri: iscrizioni, scritte m.; pittura m., effettuata sul muro con la tecnica dell’affresco o con altra qualsiasi tecnica.(Treccani: murale)
Bemerkenswerterweise wird in keiner der beiden Beschreibungen direkt Bezug auf den Begriff Graffiti (bzw. ital. graffito oder graffitismo) genommen, welcher bei Garzanti noch relativ knapp beschrieben wird:
graffito
-
-i
-
scritta stilizzata o tag o disegno tracciato con una bomboletta spray o con l’aerografo su muri, convogli ferroviari e metropolitani ecc.
-
tecnica di incisione eseguita con una punta su una superficie dura, per lo più mettendo allo scoperto un sottostante strato di colore diverso: disegno a graffito | la figura o l’insieme di figure incise con questa tecnica: graffiti preistorici
-
(spec. pl.) segni caratteristici di un costume, di una cultura, di modi di vita propri del passato(Garzanti: graffito)
Bei Treccani dagegen schon etwas ausführlicher, wobei neben der Definition ebenfalls auf die Entstehungsgeschichte und die usi d’oggi eingegangen wird. Letztendlich wird bei beiden Einträgen zunächst auf die (Erstellungs-) Technik eingegangen, wie es auch bei den Beschreibungen zu murale der Fall ist, und danach die Entstehungsgeschichte bzw. die Bedeutung von graffiti für die Geschichte hervorgehoben. So liest man bei Treccani, dass
Sin dagli albori della civiltà l’uomo ha lasciato impronta di sé negli ambienti in cui è vissuto: dalle prime tracce del paleolitico superiore a oggi la messe di graffiti, siano essi semplici scritture o articolate elaborazioni grafiche di pregevole fattura artistica, è una costante di ogni forma di organizzazione sociale.(Treccani: graffito)
Anschließend wird die Wichtigkeit dieser Schriften für die Erforschung älterer Sprachstufen im italophonen Gebiet hervorgehoben („i graffiti sono preziosi testimoni di fatti linguistici propri del parlato“, Treccani: graffito), wie bspw. die Graffiti der catacomba di Commodilla in Rom – eines der ältesten Zeugnisse für das volgare. Zuletzt wird auf die klaffenden Unterschiede zwischen den kostbaren Schriftzeugnissen, welche die Bewohner von Pompei oder Rom vor langer Zeit auf den Wänden hinterlassen hatten, und den graffiti attuali hingewiesen. Zu letzteren werden in der Beschreibung Begriffe wie hip-hop, scritte murali spontanee, affetti, fede calcistica o politica, tratti locali, errori d’ortografia usw. gemischt und es lassen sich alle Aspekte, wie ich sie oben diskutiert wurden wieder erkennen. Die recht knappen Teileinträge zu scritte murali dagegen, lassen bereits darauf schließen, dass es sich dabei (aufgrund bestimmter Faktoren) um ein den Graffiti verwandtes Phänomen handelt, und doch nicht das Gleiche ist.
Pietro Maturi ordnet den Begriff Graffiti, ohne weiter auf die Definition einzugehen, unter die scritture esposte und stellt ihn dabei neben Begriffe insegne, gadgets, pubblicità, striscie televisive, striscioni/manifesti/tazebao28 politici und necrologi (vgl. Maturi 2006, 244).
Simone Pallotta spricht von „scritte politiche, […] calcistiche e d’amore“ und grenzt diese von den tags ab, wobei all diese Bezeichnungen als „scritte in giro“ zusammengefasst werden können (Pallotta 2008, 37). Nicola Guerra, ein italienischer Dozent an der Universität Turku, Finnland, verwendet dagegen in seinen Artikeln über die Scritte Murali meist den Begriff graffitismo (vgl. Guerra 2012, Guerra 2012b, Guerra 2013, Guerra 2013b, Guerra 2013c). Er weist darauf hin, dass es keine übereinstimmende Definition gibt und definiert weiterhin das fenomeno graffitismo als
una manifestazione sociale, culturale ed artistica che consiste nell’esprimere la propria creatività e nel comunicare tramite interventi di scrittura e pittura su superfici urbane, e nella quale l’elemento semantico ha il sopravento su quello semiotico, distinguendolo così il graffitismo dal fenomeno murales.(Guerra 2012c, 1)
Hervorzuheben sind bei Guerras Definition die Aspekte der „superfici urbane“ sowie die Unterscheidung zwischen semantischen und semiotischen Kernelementen. Antonella Stefinlongo (1998) bezeichnet die Wort-Graffiti in ihren interessanten Forschungsarbeiten als scritte murali und scritte spontanee esposte, wobei scritte esposte eventuell ausdrucksstärker ist, da der Begriff (esposte) die Bedeutung des öffentlichen Raumes stärker akzentuiert als murali.29 Träger, öffentlicher Raum, Materialien, Inhalte und Zeichensysteme scheinen also Ein- bzw. Abgrenzungskriterien der Scritte Murali gegenüber verwandten Schrift- und Bildformen zu sein. Es sollen nun Abgrenzungsparameter gesammelt und ihre Gewichtung diskutiert werden, um von diesen Überlegungen ausgehend eine erste Definition von Scritte Murali zu geben.
2.2.1. Abgrenzungsparameter
Ganz so komplex wie das berühmte Beispiel zu den Spielen von Ludwig Wittgenstein, gestaltet sich das Gebilde Scritte Murali glücklicherweise nicht. Trotzdem möchte ich auf der Suche nach den für eine Definition ausschlaggebenden Parametern den Anweisungen Wittgensteins folgen:
Sag nicht: ‘Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‘Spiele’ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. […] [D]u wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.(Wittgenstein 1953/77, zit. nach Kleiber 1998, 116).
So schauen wir uns Scritte Murali an und versuchen die Ähnlichkeiten und Verwandtschaften aufzudecken, um die Scritte dadurch von anderen Formen abzugrenzen. Ähnlich ist all diesen Formen zunächst die Erstellungstechnik. Nach den oben beschriebenen Prinzipien werden Oberflächen präpariert, um ‘Zeichen’ sichtbar zu machen. Dies geschieht durch abtragende (ritzen, kratzen usw.), verdrängende (Handabdrücke usw.) und v. a. auftragende Verfahren (bspw. das Auftragen von Farbe anhand von Sprühdosen oder Filzstifte, aber auch das Anbringen von Stickern). Ein weiteres Merkmal, ist der (Stand-) Ort der Scritte Murali. Dieser muss sich im öffentlichen Raum befinden – was genau das bedeutet, werde ich gleich genauer erläutern. Der bereits erwähnte Dreisatz von Lohmann, ließe sich ebenfalls auf Scritte Murali übertragen: sie sind privat (sie transportieren also persönlich Gedanken, Anliegen oder Nachrichten der Produzenten), inoffiziell (d. h., sie werden nicht im Sinne eines Auftrages durch Andere erstellt) und informell (da sie nicht inhaltlichen oder formalen Vorschriften folgen) (vgl. Lohmann 2017, 14). Durch diese drei Merkmale grenzen sich Scritte Murali bspw. von Werbeplakaten, Klingel- oder Straßenschildern ab. Für eine Abgrenzung von Scritte Murali gegenüber American Graffiti spielt v. a. die Form eine wichtige Rolle, d. h. die Verwendung von Schrift und Bild. American Graffiti und Scritte Murali unterscheiden sich grob dadurch, dass bei den Scritte die äußere Form sekundär ist, bei American Graffiti dagegen liegt der Fokus primär auf der Gestaltung (dem Style). Zusätzlich lassen sich American Graffiti überspitzt als ‘inhaltsleer’ bezeichnen. Sie werden, in Bezug auf die verwendeten Kombinationen schriftsprachlicher Zeichen, mit äußerst geringer Varianz erstellt. Um fame zu erlangen, erstellt der Produzent also möglichst viele Schrift-Bilder seines Pseudonyms (in Form von Tags, Throw-Ups und Pieces), wobei er sein Pseudonym (oder das seiner Crew) offensichtlich nicht ständig ändern kann, da sonst der Wiedererkennungswert und damit der fame gemindert werden würde. American Graffiti sind „Denkmäler der eigenen Existenz“ (Alber 1997, 530). Scritte Murali hingegen weisen eine signifikant höhere Varianz auf, was die Kombination der Sprachzeichen betrifft und somit die zu vermittelnden Inhalte. Dieser Unterschied verweist bereits auf eines der grundlegendsten Merkmale von Scritte Murali (nicht nur in Abgrenzung zu anderen Formen von Graffiti): die Kommunikationsfunktion. Sicherlich soll auch etwas durch American Graffiti kommuniziert werden, jedoch weniger durch den semantischen Inhalt, sondern durch die Aktion, also das Erstellen Graffiti an sich (vgl. dazu die Diskussion von Volland 2010). Das Pseudonym an sich trägt selbst bei einem ‘geschickt’ gewählten Namen, ein relativ geringes Maß an semantischem Gehalt. Skrotzki geht von den Produzenten aus und differenziert dabei zwischen den Writern, die Pieces erstellen und als Künstler zu sehen sind, die keine „konkreten Inhalte“ übermitteln wollen, und den „Parolenschreibern“, denen es weniger um künstlerische Aspekte geht, als um das Mitteilen bestimmter Inhalte auf „öffentlichen Flächen“ (Skrotzki 1999, 9). Jakob Dittmar ordnet die Graffitiformen in seinem Aufsatz Graffiti als En-Passant-Medien im städtischen Raum in einem Kontinuum ‘dekorativ’ (als Ornamente oder Verzierungen) – ‘diskursiv’ (hier dienen Graffiti als Übermittler von Kommunikationsinhalten) an (vgl. Dittmar 2013, 64). Er verweist jedoch auch auf Mischformen, da „ein Graffiti in seinen Proportionen und Formen sehr harmonisch und dekorativ sein kann, zugleich aber in seinem Inhalt auf politische Missstände hinweisen und ein Aufruf zu bewahrendem oder revolutionärem Handeln, also ausgesprochen diskursiv sein kann“ (Dittmar 2013, 64). Ein gutes Beispiel für eine solche optisch ansprechende Form, wären die Stencils, die eine serielle Anbringung und aufgrund ihrer Beschaffenheit eine hohe Detailgenauigkeit (bei der Kombination von Schrift- und Bild-Elementen) erlauben und dadurch einen kampagnenartigen Charakter erzeugen (vgl. Dittmar 2013, 62-67). Deutlich wird auch hier, dass der Fokus vorrangig auf der kommunikativen und weniger auf einer expressionistischen Funktion liegt.
Beuthan schreibt (American) Graffiti eine politische Botschaft per se zu und dies gerade wegen ihrer Bedeutungsleere, „weil die bestehende und als zu überwindende begriffene politische Ordnung auf einer mediale [sic] Funktion beruht, die hier sabotiert wird“ (2011, 131). Außerdem sieht er einen entscheidenden Punkt in der Bildhaftigkeit30 der American Graffiti, die seiner Meinung nach nicht den Regeln schriftbasierter Diskurse folgt, sondern den Ordnungen, die die Bildlichkeit regeln. American Graffiti besitzen also eine spärliche Semantik, die, aus ihrem Kontext (der Writer-Szene) genommen, meistens „witzlos“ sind, wobei Beuthan die bildliche Qualität dieser Graffiti ohnehin nicht in der Semantik sieht: auf Ebene der Bildhaftigkeit verschiebt sich die Darstellungsfunktion hin zur Ausdrucksfunktion des Bildes, d. h., es ist ausschlaggebend, wie ein Bild realisiert wird, nicht was (der Inhalt) verschriftlicht wird. Das, was in American Graffiti gezeigt wird oder werden soll, geht also nicht in schrift-sprachlichen Zeichen auf (vgl. Beuthan 2011, 131-134). Einen geeigneten theoretischen Rahmen, um Scritte Murali von American Graffiti in dieser Hinsicht abgrenzen zu können, finden wir in grundlegenden Modellen der Semiotik. Möglich wäre eine Betrachtung unter dem Aspekt der drei Dimensionen von Charles Morris (1988). Morris unterscheidet (vereinfacht gesagt) die Dimensionen Syntax (die Beschaffenheit der Form betreffend), Semantik (die inhaltlichen Aspekte betreffend) und Pragmatik (die Funktion betreffend), in denen semiotische Systeme funktionieren müssen (vgl. Morris 1988, zusammenfassend Nöth 2000, 88-94). Betrachtet man aus dieser triadischen Sichtweise nun American Graffiti31, so lassen sich bestimmte Graffitiformen – eben Scritte Murali – davon abgrenzen. Stöckl beschreibt innerhalb der syntaktischen Dimension (u. a.) die Aspekte des Sinneskanales (wie werden die Zeichen verarbeitet?), der Semiotisierung (wie wird ein Zeichenkörper als solcher anerkannt und semantisch aufgeladen?) und der internen Struktur (wie sind die Zeichenmodalitäten organisiert?) (vgl. Stöckl 2016, 10-12). Graffiti ganz allgemein – egal ob Scritte Murali, Street Art oder American Graffiti – sind visuelle Phänomene; eine Differenzierung ist in Bezug auf den Sinneskanal also nicht möglich. Bezüglich der Semiotisierung, also der Prozess, wie „ein Rezipient ein beliebiges materielles Phänomen als Zeichenkörper anerkennt und ihm einen bestimmten Inhalt oder Sinn zuschreibt“ (Stöckl 2016, 10), interessieren uns hier die Grade der Semiotisierung von Bild und (schriftlicher) Sprache, da American Graffiti zwar Schriftsprache zeigen, als Ganzes gesehen jedoch dazu tendieren, Bilder darzustellen. Sprache zeichnet sich durch einen hohen Grad an Semiotisierung aus, d. h., es muss relativ viel (semiotisches) Wissen über diese Zeichenmodalität und ihre Ressourcen abgerufen werden. Bilder dagegen orientieren sich zwar an systemimmanenten Regeln, weisen jedoch ein geringeres Maß an Semiotisierung auf als Sprache. Problematisch ist, dass sowohl American Graffiti als auch Scritte Murali, Schrift-Sprache zeigen. Entscheidend ist die Varianz innerhalb des Lexikons und die Komplexität auf grammatikalischer Ebene, womit die internen Strukturen als dritte syntaktische Instanz angesprochen sind. In American Graffiti werden die Möglichkeiten Einheiten aus einem großen Lexikon über grammatikalische Regeln zu (größeren) Syntagmen zu verknüpfen nur minimal ausgeschöpft.32 Eben diese Kombinationsmöglichkeiten machen jedoch gerade die „semantisch-kommunikative Stärke“ von Sprache aus (Stöckl 2016, 11). Mit anderen Worten: die doppelte Artikulation, wie sie Martinet beschreibt (vgl. Nöth 2000, 334), spielt für American Graffiti eine weitaus geringere Rolle, als bei Scritte Murali. Dafür spielen Parameter wie Vorwissen, Kontext und Seherfahrung (vgl. Stöckl 2016, 11) innerhalb einer bestimmten Szene (die der Writer und Sprayer) eine überordnete Rolle, um das ‘Bild’ zu verstehen. Die Unterschiede sind also v. a. auf Mikroebene der internen Strukturen zu suchen, wodurch im Bereich der formalen Aspekte keine klaren Grenzen ziehen lassen. Geeigneter sind die Bereiche der Semantik und der Pragmatik. Betrachtet man die Art und Weise, wie American Graffiti Bedeutung generieren, so sind zunächst im Bereich der Wirkungsmechanismen, wie sie Charles S. Peirce für die Interpretanten beschrieben hat (vgl. Nöth 2000, 65), Unterschiede beobachtbar: Sprache tendiert v. a. zu einer logischen Wirkungsweise, d. h. kurz gesagt, dass sie zu einer „Veränderung im Denken und Verhalten“ des Interpreten führt (bzw. führen kann), Bilder dagegen lösen (potentiell) logische und energetische (im Sinne von „körperlichen oder geistigen Anstrengungen“; vgl. Stöckl 2016, 12) Wirkungen aus. Gemeinsam ist m. A. n. den Formen ein emotionaler Wirkungsmechanismus, da es sich bei (modernen) Graffiti um eine ‘illegale’ Aktion handelt, welche bei einem Großteil der Bevölkerung bestimmte Gefühle auslösen kann. Eine klare Unterscheidung ist allerdings auch hier nicht möglich. Deutlicher wird der Unterschied, wenn man sich die Frage stellt, welche medialen Merkmale der Graffiti (und damit der American Graffiti und Scritte Murali) für das Verstehen relevant sind. Bekannterweise unterscheidet Peirce u. a. nach Quali-, Sin- und Legizeichen, „according as the sign itself is a mere quality [Qualizeichen], is an actual existent [Sinzeichen], or is a general law [Legizeichen]“ (Peirce 1994, 2.243)33. Für Sprache an sich, ist die konkrete graphische Realisierung eher nebensächlich, sondern vordergründig ist das ‘richtige’ Erkennen des types (also die „gesetzmäßige Verbindung von Form und Inhalt“; Stöckl 2016, 13) – dadurch wird Sprache zu einem Legizeichen. Bei bspw. Bildern oder Musik spielt dagegen Singularität (also Sinzeichen) und die Qualität (Qualizeichen oder tone) eine wesentliche Rolle (vgl. Stöckl 2016, 13; Nöth 2000, 65). Bei American Graffiti steht das Merkmal der Qualität, der tone – wie wurde das Piece oder Tag erschaffen, bzw. wie ist es konkret ausgeformt? – eine entscheidende Rolle, bei Scritte Murali dagegen (eher) eine untergeordnete. Auf der anderen Seite sind die types und deren Deutung bei American Graffiti als peripher zu betrachten, bei den Scritte Murali dagegen als dominant. Ganz zentral bei der Differenzierung ist das Ausdruckspotenzial, d. h., „welche Bedeutungen oder Aussagen sich gut, schwer oder gar nicht kommunizieren lassen“34 (Stöckl 2016, 14). American Graffiti beinhalten schriftliche Sprache, die ihrerseits ein beinahe uneingeschränktes Ausdruckspotenzial besitzt, was sich durch die internen Strukturen – doppelte Artikulation, die mögliche Verwendung von grammatikalischen Kategorien (Modus, Tempus, Kasus), das potentiell unbegrenzte Lexikon oder das Ausdrücken von illokutionären und allgemein Sprechakten – erklärt (vgl. Stöckl 2016, 14). Bei American Graffiti sind jedoch genau diese Aspekte stark eingeschränkt (s. o.). Durch die hauptsächliche Verwendung von (isolierten) Pseudonymen, können durch American Graffiti nur äußerst schwer „Verneinungen, logische Verknüpfungen von Sachverhalten, Modalität (Wirklichkeitsbezug und Sprechereinstellung), deiktische Verweise oder direkte und explizite Sprechakte […]“ ausgedrückt werden, wodurch sie weniger Sprache entsprechen als vielmehr Bildern, die sich eignen, um „konnotative Bedeutungen“ und „emotionale Anmutungen“ zu transportieren (vgl. Stöckl 2016, 14). Das Pseudonym eines Graffiti Writers ist ein Eigenname, ein Nomen Proprium, das ein Individuum bezeichnet. „Eigennamen erreichen ihren Zweck – die Identifizierung eines Gegenstands durch Rekurs auf eine spezifische Kenntnis – in einem Zug, ohne Syntax“ (Hoffmann 1999, 216), d. h., sie sind aus funktionaler Sicht autonom und müssen nicht syntaktisch integriert werden (vgl. Hoffmann 1999, 232). Aus Sicht von kausalen Eigennamentheorien, ist es entscheidend, dass das Nomen Proprium nach der Einführung (in einer geteilten Wahrnehmungssituation) mit seinem Bezug in einer referentiellen Kette weitergegeben wird. Dies geschieht im Idealfall durch den Produzenten (den Writer), wodurch einer bestimmten Szene klar ist, dass sich dieses Pseudonym auf ein konkretes Individuum (oder – im Falle von Crew-Namen – auf mehrere konkrete Individuen) bezieht, welches normalerweise aus verschiedenen Gründen anonym ist. Das Problem ist, dass Eigennamen semantisch gesehen keine Bedeutung haben bzw. die Extension ihre Bedeutung ist. Sie fungieren als „lautlichen ‘Etiketten‘, die an Dingen ‘haften’“, keine Bedeutung haben und auf etwas verweisen (Hoffmann 1999, 213).35 Dadurch stehen sie „außerhalb des Lexikons einer Sprache“ und kontrastieren mit den „prädikativen Wortfeldern, […] die als Lexikon mit Sinnrelationen und Wortfeldern dargestellt werden können“ (Hoffmann 1999, 219). Zugang zu Wissen über die Eigenschaften des Namenträgers erfolgt normalerweise durch Kenntnis des Trägers – durch die Anonymität der Writer erfolgt die Weitergabe spezifischer Informationen (bspw. über Fähigkeiten und charakterliche Eigenschaften) über die materiell-technische Ausarbeitung sowie die quantitative Verteilung der Pieces und Tags im Raum. Trotz der Verwendung von Sprache, schränkt diese semantische Leere das Ausdruckspotenzial enorm ein. Selbst die Verwendung eines Lemmas aus den prädikativen Wortfeldern als Pseudonym (also ein „witzreicher“ Name), bricht diese semantische Limitation nur minimal auf.
Eine klare Differenzierung wird vollends möglich, wenn man funktionale Aspekte miteinbezieht, d. h. auf pragmatischer Ebene. Hartmut Stöckl rückt hierbei perzeptive und kognitive Aspekte sowie die Kommunikationsfunktionen und –aufgaben ins Zentrum (vgl. 2016, 15-18). Bezüglich der Perzeption und Kognition ist Sprache als relativ zeitaufwändige Modalität zu sehen, da die arbiträren und konventionellen Zeichen umkodiert werden müssen. Betrachtet man American Graffiti konkret aus dieser Perspektive, so kann man feststellen, dass es v. a. zeitaufwändig ist, den Style (also die äußerliche Form) zu entschlüsseln, was szenefernen Betrachtern schwer fallen kann. Die Umkodierung der Sprache an sich (also des aus Buchstaben bestehenden Pseudonyms) geschieht dagegen vergleichsweise schnell, da die Varianz der types und token stark begrenzt sind. Bei Scritte Murali dagegen ist die Anzahl der types und token, ihre Varianz und strukturellen Kombinationen weitaus größer und bedürfen daher mehr Zeit bei der Entschlüsselung. Die Form zu ‘verstehen’ stellt dagegen normalerweise kein größeres Problem dar.
Um die Kommunikationsfunktionen zu analysieren, bietet es sich an, auf die Modelle von Bühler bzw. Jakobson zurückzugreifen. Nach Bühler lassen sich Bild (also American Graffiti, aber auch Graffiti und somit Scritte Murali als Ganzes gesehen) und Schrift eine dominante Darstellungsfunktion zuordnen36 (vgl. Stöckl 2016, 17), wobei sich (wie bei Beuthan geschehen, s. o.) bei den American Graffiti die primäre Funktion von der Darstellung zugunsten des (produzentenseitigen) expressiven Ausdrucks verschiebt. Spätestens durch das Modell von Jakobson, der das Bühlersche Modell (u. a.) um die ‘poetische Funktion’ – auf die das ganze Modell von Jakobson hinzielt – erweitert (vgl. dazu Auer 2013, 33-40 und speziell 39), wird es möglich, das Unterscheidungskriterium theoretisch zu fassen. Die poetische Funktion beschreibt (grundlegend) die Möglichkeit der Selbstreferenz von Sprache, d. h., die Funktion der Sprache bezieht sich auf ihre Form, wenn sie dominant poetisch ist37 (vgl. Auer 2013, 39, Stöckl 2016, 17). Die Kommunikationsfunktion von American Graffiti entspricht eben jener (dominant) poetischen, was Stöckl auch als „Ästhetisierung von Kommunikation“ bezeichnet (vgl. Stöckl 2013), d. h., für das Verständnis der Botschaft auf Empfängerseite ist die Form der Botschaft – und Form bezieht sich hier nicht auf die paradigmatischen und syntagmatischen Achsen der Sprache, sondern auf die visuell-stilistische Gestaltung der Zeichen – ausschlaggebend. Die Funktionen der Scritte Murali sind weitaus schwieriger zu bestimmen (eine Analyse der Scritte nach ihren Kommunikationsfunktionen erfolgt im Laufe dieser Arbeit), jedoch ist eine dominant poetische Funktion bis auf wenige Grenzfälle auszuschließen. Ist bei einer Scritta die poetische Funktion auffällig dominant (oder im Vergleich dominanter), so zeigt sich dies bspw. in der Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse der Sprache, wie dies z. B. bei binominalen Ausdrücken, Assonanzen oder Dreier-Listen der Fall sein kann (vgl. Auer 2013, 39), oder es ist klar erkennbar, dass andere Funktionen (v. a. die referentielle) ebenso stark gewichtet werden müssen, wie die poetische (häufig Stencils oder sog. Murales, siehe Abb. 18-20).
Eng mit den Kommunikationsfunktionen verbunden sind die Kommunikationsaufgaben, wie sie Stöckl für multimodale Texte als zentrales pragmatisches Element anführt (vgl. 2016, 17-18). In Anlehnung an Umberto Eco spricht er Sprache v. a. die Eignung zu, Narrationen (also „Geschehnisse und Prozesse in ihrer zeitlichen Abfolge zu schildern“) und Explikationen („Erklärung logischer Zusammenhänge“) zu liefern sowie Argumentationen zu konstruieren (Stöckl 2016, 17). Dies liegt an der „großen artikulatorischen und kombinatorischen Flexibilität“ (Eco 1991, 231) von Sprache, wodurch flexible und klare Referenzen hergestellt, Aussagen durch ein Set von Konjunktionen verbunden und Illokutionen entäußert werden können (vgl. Stöckl 2016, 17). Aufgrund der bereits erwähnten Eingeschränktheit in ihrer Kombinatorik, ist das Potenzial von American Graffiti für diese Kommunikationsaufgaben äußerst gering, von Scritte Murali dagegen erheblich.
Zusammenfassend lassen sich aus semiotischer Sicht bisher folgende Parameter für eine Abgrenzung der Scritte Murali von anderen Graffitiformen sammeln:
- Syntax (die Form betreffend): Erstellungstechnik, (Erstellungs- und Stand-) Ort38 und interne Strukturen (Potenzial aus lexikalischen Einheiten mithilfe von (grammatikalischen) Regeln, größere syntaktische Einheiten zu bilden)
- Semantik: die Rolle der Qualität und Singularität der konkreten Ausformungen und besonders ihr Ausdruckspotenzial
- Pragmatik: die (potentielle) Produzentengruppe und v. a. die Kommunikationsfunktionen.
Generell handelt es sich bei fast allen beschriebenen Aspekten um graduelle Abstufungen, wodurch Grenzfälle und Mischformen auftreten. Außerdem ist zu beachten, dass die Kriterien unterschiedlich gewichtet, v. a. aber im Verbund gesehen werden müssen, wodurch sich eine Abgrenzung aufgrund von nur einem Merkmale nicht vollziehen lässt. Das wesentlichste Kriterium ist die Text- bzw. Kommunikationsfunktion, welche in diesem Fall besonders stark durch zwei (semantische) Faktoren bedingt ist: Erstens durch das Potenzial Bedeutungen und Aussagen zu vermitteln und zweitens die Dominanzverhältnisse in einer Klassifizierung nach Legi-, Sin- und Qualizeichen. Die formalen Aspekte können dabei in unterschiedlichem Ausmaß an der Funktion mitwirken und spielen besonders für das Ausdruckspotenzial eine wichtige Rolle, sind für sich genommen aber kein hinreichendes Kriterium für eine Abgrenzung. Auf Basis dieser Beobachtungen, bezeichne ich alle Graffitiformen, bei denen typischerweise die Kommunikationsfunktion nicht dominant poetisch (sondern informationsübermittelnd) ist, der semantische Gehalt der Schrift- und Bildzeichen zentral ist und die materiell-technische Realisierung (die ‘Qualität’ und damit verbunden der Erstellungsprozess und das Können des Produzenten) nur eine subsidiäre Rolle spielt, als Scritte Murali. Oder anders ausgedrückt, alle Formen, die dominant poetisch (selbstreferenziell) sind, deren Qualität primäres Merkmal für die Sinnstiftung ist und deren semantisch-pragmatische Darstellungskraft stark beschränkt ist (‘inhaltsleere’ Formen), werden nicht als Scritte Murali bezeichnet. Dass es Grenzfälle39 und Mischformen gibt, ist insofern unerheblich, als durch die Erklärung der Funktionalität(sfrage) als zentrales Abgrenzungskriterium bereits die Untersuchungsperspektive vorgegeben wird. Das bedeutet, dass ich mich auch bei den Misch- und Grenzformen (die auch während der Feldforschungsarbeit im Rahmen dieser Arbeit erfasst wurden) auf die Semantik und/oder Pragmatik konzentriere und den äußerlich-formalen und technischen Aspekten lediglich eine periphere oder subsidiäre Rolle zuschreibe.
Theoretisch könnte man nun die in Kapitel aufgezählten Graffitiformen den Scritte Murali zuordnen oder eben nicht. Dazugehörig wären dann bspw. Liebes-, Politgraffiti usw., aber auch (aufgrund des oben beschriebenen „Einschusses an Reflexivität“) bestimmte Formen der Street-Art, solange die primäre Kommunikationsfunktion nicht poetisch-selbstreferenziell ist. Man könnte auch antike und mittelalterliche Graffiti und sogar Höhlenmalereien nach diesen Kriterien betrachten und sich fragen, ob sie den Scritte Murali zuzuordnen sind. Jedoch ist dies nicht das Ziel dieser Arbeit und auch fraglich, welchen Wert eine solche Zuordnung hätte. Das Phänomen Graffiti lässt sich nach wie vor nicht als Ganzes definieren, sondern muss aus der analytischen Perspektive erfolgen, wobei für die vorliegende Arbeit die Kommunikationsfunktionen entscheidend sind.
Die Beobachtungen der bisherigen Kapitel förderten einige wesentliche Parameter zu Tage, um den Untersuchungsgegenstand Scritte Murali abzugrenzen. Dies geschah jedoch eher aus vorwissenschaftlich-intuitiver Perspektive. Für eine sprachwissenschaftliche Analyse des Gegenstandes ist eine genauere Betrachtung auf Basis theoretischer Ansätze nötig. Nachfolgend soll eine erste Definition von Scritte Murali gegeben werden, wobei die vorangegangenen Erkenntnisse einfließen sollen.
2.2.2. Definition der SM
Die Grundannahme ist, dass Scritte Murali eine Kommunikationsform, i. S. v. „medial bedingte[n] kulturelle[n] Praktiken“ (Holly 2011, 155), ist, wobei hier unter „medial“ physikalische (technisch-materielle) und handlungsbezogene („sozial konstituierte Verfahrensformen“ (Schneider 2008, 246-247) in Bezug auf die Zeichenverwendung) Aspekte zu verstehen sind. Die Produzenten bedienen sich bestimmter Zeichenressourcen, um zweckgerichtet bestimmte Inhalte im Rahmen der gegebenen (physikalischen) Voraussetzungen zu übermitteln. Den Grundüberlegungen zu Graffiti folgend, lassen sich Scritte Murali als transgressive und informell-private (siehe dazu weiter unten) Kommunikationsform beschreiben, die im öffentlichen Raum angebracht und durch bestimmte Techniken realisiert wird.
Scritte Murali sind visuelle, transgressive Zeichen. Scollon/Scollon (2003) bezeichnen solche Zeichen als „in some way unauthorized“ (Herv. SL; Scollon/Scollon 2003, 146), also Zeichen, die bestimmte Erwartungen der Öffentlichkeit verletzen, da sie auf dafür nicht bestimmten Oberflächen angebracht werden (vgl. Scollon/Scollon 2003, 147). Der Produzent vollzieht eine illegale Handlung (selbst wenn diese in bestimmten Räumen toleriert ist), weil er Eigentumsrecht und möglicherweise gegen weitere Gesetze verstößt (z. B. durch unerlaubtes Betreten von Privatgrund). Aufgrund der Illegalität ist diese Kommunikationsform in ihrem Wesen subversiv, wobei aber zu bezweifeln ist, dass dieses Merkmal generell die zentrale Motivation für die Erstellung der Scritte Murali ist.40
Dass Scritte Murali in irgendeiner Form unautorisiert sind, impliziert, dass es sich dabei um informell-private Botschaften handelt, da die Urheberschaft und Anfertigungsentscheidung von keiner staatlichen oder amtlichen Autorität veranlasst, reguliert oder anerkannt ist (weshalb bspw. auch Zeichen für kommerzielle Zwecke nicht dazu gehören). Dass es sich um informell-private Botschaften handelt, gilt jedoch lediglich nach der Definition von Landry und Bourhis (1997) für die Linguistic Landscape-Forschung, die sich ebenfalls mit Sprachphänomenen im (öffentlichen) Raum beschäftigt und signs traditionell nach public und private signs klassifiziert (vgl. dazu z. B. Landry/Bourhis 1997, Gorter 2006, Ben-Rafael u.a. 2006). Scritte Murali sind streng genommen weder public signs41 noch private signs42. Den Ergebnissen meiner Analyse vorausgreifend, lassen sich Ähnlichkeiten zu den private signs bezüglich der Funktionalität erkennen: diese haben neben einer denotativen (strukturierend-informativen) zusätzlich eine „stark konnotative Ebene, die diese Signs emotional auflädt“ (Schulze 2019, 30). Das informell-private Spezifikum bedeutet auch, dass Scritte Murali in Bezug auf Inhalt, Form und Standort (theoretisch) frei wählbar und nicht an Regeln gebunden sind.43 Wie gezeigt werden wird, orientieren sich die Scritte sehr wohl an musterhaften ‘Richtlinien’. Allerdings beziehen sich die Normen, an denen sich die Scritte orientieren, nicht auf staatlich- oder städtisch-offiziellen Behörden, sondern an der Funktionalität, d. h., die Produzenten richten sich nach dem, was ihrer Absicht entspricht, nicht nach dem, was erlaubt ist. Gerade der transegressive und mediale Aspekt der SM besetzen die Scritte Murali mit einem öffentlichen (also pulibic sign) Moment. Gleichzeitig ergibt sich ein privat (diskretes) Element, bspw. wenn sich Produzenten in den Texten selbstidentifizieren oder ausschließlich von einem stark begrenztem Rezipientenkreis identifiziert werden können (siehe etwa die Domänen EXPRESSIVITÄT, DEFAULT, und DIVERSES, DEFAULT). Allerdings kann es auch zu einer gezielten Indiskretion kommen – dann ganz im Sinne der oben genannten public signs – wenn z. B. Informationen über Einzelpersonen oder Gruppen an die Öffentlichkeit gerichtet werden. Letztlich kommen die klassischen Definitionen aus dem Bereich des Linguistic Landscape nur stark revidiert zum Tragen und SM werden hier als informell-öffentlich mit optionaler privater Botschaft44 beschrieben. Die unterschiedlichen Funktionalitäten, die sogar innerhalb der Domänen zu sehen sind (siehe DEFAULT), erschweren eine allgemeingültige Definition in dieser Hinsicht und so muss die Frage nach öffentlichen und privaten Aspekten stets in Abhängigkeit der konkreten Texte bzw. mindestens Domänen geklärt werden.
Ein weiteres wesentliches Merkmal der Scritte ist der Erstellungs- und damit der Standort der Scritte, der zwar theoretisch frei wählbar ist45, sich aber im öffentlichen Raum bzw. an öffentlichen Orten befinden muss. Dabei stellt sich die Frage, was genau mit ‘Raum’ und ‘öffentlich’ bzw. ‘Öffentlichkeit’ gemeint ist.46 Zunächst ist der ‘physische’ vom ‘wahrgenommenen’ Raum zu unterscheiden, wobei ersterer hier als „konkrete[r], materielle[r] Ausschnitt der Erdoberfläche“ (Blotevogel 1995, 739), letzterer als dynamischer, durch sozio-kulturelle Handlungen geformter (und daher auch durch sprachlich-kommunikative Handlungen) und von den Personen wahrgenommener Raum47 verstanden wird. Scollon/ Scollon unterscheiden nach Space, „[which] refers to the objective, physical dimensions and characteristics of a portion of the earth or built environment; often defined by sociopolitical ideologies and powers“ (2003, 216) und Place, als „the human or lived experience or sense of presence in a space“ (2003, 214). Es existieren also ‘Orte’, die geographisch definierbar sind, und ‘Räume’, die sich an den Orten befinden und durch sozio-kulturelle Faktoren und Handlungen zu Räumen werden. Diese Sichtweise entspricht dem Raumkonzept von Michel de Certeau, der den Raum (im franz. Original espace) als „Geflecht von beweglichen Elementen“ und den Ort48 als „momentane Konstellation von festen Punkten“ beschreibt, woraus folgt, dass „der Raum ein Ort [ist], in dem man etwas macht“ (1988, 217-218). Der Ort ist demnach der ‘Austragungsort’ für dynamische, kommunikative Handlungen, durch die er zum einem wahrgenommenen Raum erhoben wird. Dieser Vorgang wird auch als Place-making bezeichnet und findet in der Linguistik seit einigen Jahren verstärkt Beachtung (siehe dazu Friedmann 2010 und Warnke/Busse 2014). Für die Definition von Scritte Murali, ist hier der konstitutive Aspekt des ‘Ortes’ entscheidend – die Vorgänge und Folgen des Place-making, also der Generierung von ‘Räumen’ speziell durch die Scritte, erfolgt (u. a.) im weiteren Verlauf dieser Arbeit, da er mit der Funktionalität der Scritte korreliert. Als Scritte Murali werden Schriften bezeichnet die sich an ‘öffentlichen Orten’ befindet. Auf die Beobachtungen von Klamt (2007) zurückgreifend, verstehe ich unter ‘öffentlichen’ Orten geographische Areale, die grundsätzlich für ‘Jeden’ zugänglich und (potentiell) nutzbar sind, unabhängig davon, ob dies gegen Eigentumsrecht Anderer verstößt oder nicht. Dass sich die beiden Seiten der Ort/Raum-Differenzierung gegenseitig bedingen, liest man bei Klamt:
Davon ausgehend ist mit der de facto-Dimension vereinfacht gesagt das gemeint, was aus dem Zusammen- und Wechselspiel zwischen Nutzern und Räumen als Realität entsteht und entstehen kann. Die Wahrnehmung der Nutzer spielt deshalb die wichtigste Rolle. Sie müssen den Raum (zumindest potentiell) für sich ‘nehmen’ können. Damit kann neben dem physischen Raum auch imaginativer, virtueller oder medialer (und damit ebenfalls realer, nur anders dimensionierter) Raum gemeint sein. Das bezeichne ich als quantitatives Kriterium, weil es sich auf eine wie auch immer geartete Nichtbeschränkung bezieht und den Raum als solchen erst eröffnet.(Herv. im Orig.; Klamt 2007, 68-69)
Der Aspekt der öffentlichen Zugänglichkeit und/oder Nutzbarkeit kann dabei weiter differenziert werden, je nachdem, ob man sie auf die Produzenten oder die Empfänger bezieht. Scollon/ Scollon sprechen von sog. Exhibit-display spaces, wobei entscheidend ist, dass diese Art von Spaces „are set aside as not being open for public use, or at least not ‘use’ in the sense that we may act upon them“ (2003, 170). Solche ‘halb-öffentlichen’ Orte eignen sich die Produzenten durch das Anbringen von transgressiven Scritte Murali an, indem sie sich (unerlaubterweise) Zugang zu den Flächen verschaffen, Empfänger rezipieren dann die Scritte ohne Vorschriften oder Gesetze zu brechen. Die (potentielle)49 visuelle Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit (auf Empfängerseite) ist also ausschlaggebend, wodurch auch alle Formen von Schriften die sich in einem solchen öffentlichen Raum befinden, wie Nachrichten auf Smartphones, ausschließen lassen. Die Zugänglichkeit, und damit einhergehend die Nutzbarkeit, muss also für die Produzenten unmittelbar, physisch sein. Für die Empfänger dagegen ist die visuelle Zugänglichkeit notwendig bzw. ausreichend. Da ich davon ausgehe, dass Scritte Murali als Kommunikationsmittel fungieren, ist anzunehmen, dass die Rezipienten-Seite der maßgebende Faktor ist, da die Produzenten den Standort nach der visuellen Zugänglichkeit für die intendierten Rezipienten auswählt. Scritte Murali befinden sich außerdem nicht innerhalb von Gebäuden, wodurch Scritte in (öffentlich zugänglichen) Toiletten, Museumsgebäuden, Bars oder ähnlichem nicht dazu gerechnet werden.
Die Trägerfläche spielt in diesem Zusammenhang insofern eine Rolle, als sie sich in einem solchen öffentlichen Ort bzw. Raum und nicht innerhalb von Gebäuden jeglicher Art befinden muss. Die Beschaffenheit der Trägerflächen ist lediglich dadurch eingegrenzt, dass sie mehr oder weniger starr bzw. fest sein muss, also Wände, Mauern, Handgeländer, Bäume usw. Informationsblätter z. B. (selbst wenn sie von transgressiver und informell-öffentlicher Natur sind) gehören also nicht zu Scritte Murali.
Ein letztes konstitutives – wenn auch ein marginales – Merkmal ist die Erstellungstechnik. Scritte Murali werden hauptsächlich durch auftragende Verfahren erstellt. Dazu zählen alle Arten von Farbauftragungen (Spraydose, Filz- oder Buntstift, Kugelschreiber usw.), aber auch Aufkleber oder (im weiteren Sinne des Begriffs) das Anbringen von Plakaten, Tazebaos oder sog. Striscioni, solange diese (auch) durch die anderen Merkmale (transgressiv, informell-öffentlich, öffentlich usw.) beschrieben werden können. Seltener sind abtragende (‘kratzende’) und v. a. verdrängende Verfahrensweisen. Digitale oder auditive Verfahren gehören nicht dazu.50
Die bisherigen Beobachtungen sind in Abbildung 21 graphisch zusammengefasst. Sie können nach direkten (unmittelbar, sensorisch ersichtlichen) und indirekten (kognitiv ableitbaren) Betrachtungs-Dimensionen gruppiert werden.51 Der direkten, unmittelbar ersichtlichen Dimension sind Aspekte zugeordnet, die mit der Materialität, der Situierung im Freien (also Standort-bezogen), der Zeichen-Form52 und der visuellen Zugänglichkeit zusammenhängen. Diese Aspekte betreffen die Konstituenten ‘Träger’ (in Bezug auf die Materialität und der Standort im Freien), ‘technische Verfahren’ (auf-, abtragend, verdrängend), ‘Informell-Öffentlich’ (frei wählbare Form) und ‘Öffentlicher Standort’ (im Freien und visuell zugänglich, i. S. v. unmittelbar sensorisch erfassbar).
Indirekt, also vom Rezipient mithilfe spezifischen Wissens interpretierbar, sind Aspekte hinsichtlich der Praktiken und Erstellungs-Techniken, d. h., die Rezipienten können Hypothesen über das Vorgehen und motorische Abläufe auf Seiten der Produzenten ableiten.53 Auch Bereiche des Konstituenten ‘Öffentlicher Standort’ gehören zur indirekten Dimension: die Empfänger müssen anhand von sozio-kulturellen und politisch-institutionellem Wissen sowie situationellem Kontext das Konstrukt ‘Öffentlichkeit’ erst abstrahieren. Ebenso müssen Teile der informell-öffentlichen Konstituente von den sichtbar-physischen Artefakten abgeleitet werden. Dazu gehört neben den Informationen über die Initiatoren (privat) auch die Interpretationen bezüglich den Inhalten, den konkret verwendeten stilistischen Formen und dem gewählten Standort. Zuletzt ist der Faktor ‘Transgressiv’ ausschließlich auf der indirekten Ebene einzuordnen, da dieses wesentliche Kriterium weder an Zeichen, noch am Träger oder Standort direkt erkenntlich ist. Erst durch das Interpretieren auf Basis von Wissen über Besitz und Eigentum, juristische und gesellschafts-strukturelle Bedingungen usw. kann das Zeichen als transgressiv erkannt werden.
Es handelt sich also in der direkten Dimension um Bottom-down-Prozesse. Kognitive oder Top-Down-Prozesse ergänzen diese physiologischen Wahrnehmungen um außersprachliches, abstraktes Wissen über verschiedene Konzepte und erlauben dadurch ein stark erweitertes Wahrnehmen der Zeichen.54 Beide Dimensionen, wie auch die anderen physikalischen Konstituenten, sind dabei nicht isoliert, sondern stets holistisch zu betrachten (mit variabler Gewichtung der einzelnen Faktoren).
2.2.3. Textlinguistischer Rahmen und Multimodalität
Wir haben uns bisher aus einer eher intuitiv-vorwissenschaftlichen Perspektive dem Phänomen Scritte Murali angenähert, was zu einer Reihe von Beobachtungen geführt hat. Jedoch sind diese Beobachtungen bei weitem nicht ausreichend, um darauf ein Analysemodell aufzubauen. Eine Möglichkeit für einen theoretischen Zugang zum Phänomen ist, einige textlinguistische Rahmenbedingungen zu definieren.
‘Graffiti’ tauchen zwar immer wieder in Texttypologien verschiedenster Natur auf, aber die in den vorangehenden Kapiteln angeführten Gründe erfordern eine eigene Beschreibung bzw. einen angepassten Ansatz. Ich folge dabei der Prämisse von Ulrich Schmitz (zur multimodalen Texttypologie), dass „[e]ine vollständige Typologie […] weder möglich noch sinnvoll [ist]. Sinnvoll sind von Fall zu Fall zweckorientiert konstruierte Typologien“ (2016, 345). Es ist also nicht das Ziel in vorhandene Typologien einzusortieren, sondern eine texttypologische Beschreibung aus verwendungsorientierter Sicht zu skizzieren. Deshalb konzentriert sich eine solche Einordnung auf jene Faktoren, die bei der Betrachtung des Referenten aus kommunikativ-funktionaler Perspektive von größtmöglichem Nutzen sind. Mir ist bewusst, dass man die Faktoren anders wählen oder gewichten könnte und die nachfolgenden Einordnungen nicht die einzig möglichen sind. Dieses Kapitel hat zum Ziel, die Scritte Murali in einen textlinguistischen Rahmen einzuordnen, die gesammelten Parameter aus DEFAULT zu ergänzen und die Weichen für eine Untersuchung auf themenspezifischen, kommunikativ-funktionalen Mustern zu stellen.
Die These ist, dass Scritte Murali ein Kommunikationsmittel ist, das sich in Form von multimodalen Texten manifestiert und nur angemessen untersucht werden kann, wenn man die multimodalen Faktoren und Relationen miteinbezieht. An dieser Stelle ist zu klären, was (kontextuell) unter den Termini ‘Text’ und ‘multimodal’ zu verstehen ist und welche Argumente dafür sprechen, Scritte Murali als multimodale Texte zu bezeichnen.
Text. Aus Sicht einiger (v. a. traditioneller und alltäglicher) Konzeptionen von Text, wäre es sicherlich schwierig Scritte Murali (und viel mehr noch Graffiti) als Texte zu bezeichnen. Anhand Brinkers (2018) Textdefinitionen55 – die eigentlich kommunikationsorientiert sind – funktioniert das bspw. nur bis zu einem gewissen Grad: Es ist plausibel bei den Scritte von „eine[r] begrenzte[n] Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (Brinker u.a. 2018, 17) zu sprechen. Laut Brinker handelt es sich dabei um Texte, die aus zusammenhängenden, korrekt gebildeten Satzfolgen bestehen (vgl. Schmitz 2016, 329). Die Scritte Murali bestehen, wie man im praktischen Teil der Arbeit sehen wird, allerdings selten aus zusammenhängenden oder korrekt gebildeten Sätzen und generieren ihre funktionale Bedeutung nicht ausschließlich durch „schriftkonstituierten monologischen Text“ (Brinker u.a. 2018, 20), sondern im Verbund mit anderen Modi. Es müssen also Ansätze gewählt werden, die den Textbegriff anders fassen. Ulla Fix plädiert dafür, von einer „faktischen Auflösung des sprachlichen Textes in einen multimedialen Text auszugehen und die Untersuchungsinstrumentarien danach einzurichten“ (Herv. im Orig.; 2001, 115) und weiter, dass „Texte […] als Komplexe von Zeichen verschiedener Zeichenvorräte betrachtet werden [müssen]“ (2001, 118). Diese Erweiterung des Textbegriffs um semiotische Dimensionen, erlaubt nicht nur eine Klassifizierung der Scritte Murali als ‘Text’ – was für sich genommen, von geringem Nutzen ist, da von einer Einordnung allein noch nichts gewonnen ist -, sondern verweist bereits auf die Notwendigkeit, die Faktoren des zu untersuchenden Gegenstandes auf verschiedenen (semiotischen) Ebenen zu betrachten. Eine semiotisch erweiterte Interpretation des Textbegriffes soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Scritte Murali um Zeichenprodukte handelt, deren Grundlage die Sprache ist, d. h., dass das sprachliche Zeichen das dominante semiotische System ist und anderen semiotischen Dimensionen v. a. komplementärer Status (in variabler Gewichtung) zukommt (- dies wird sich in der Beschreibung der Korpusdaten im zweiten Teil der Arbeit zeigen). Mit der Erhebung des Sprachlichen als dominantes Element, folge ich Adamzik, die gegen eine Ausdehnung des Textbegriffs auf Botschaften, die „mittels irgendeines semiotischen Systems“ plädiert, sondern „das Sprachliche [muss mindestens] eine bedeutende oder sogar dominante Rolle spielen“, um eine solche Botschaft als Text bezeichnen zu können (2002, 173; vgl. auch Adamzik 2016, 68).56
Multimodalität. Die Erweiterung des Textbegriffes hin zu weiteren semiotischen Ebenen, verweist auf den zweiten zu klärenden Terminus, der eingangs genannt wurde: Multimodalität. Eine eindeutige Definition zu diesem Begriff existiert bisher nicht und es ist fraglich, ob eine solche überhaupt möglich ist. Existierende Ansätze reichen von umfassenden Beschreibungen, mit dem Ziel Multimodalität als Ganzes zu fassen (z. B. Bateman u.a. 2017), bis hin zu stark zweckorientierten und disziplin-spezifischen Modellen (z. B. Kress/van Leeuwen 2006, Schweppenhäuser/Friedrich 2010). Auch mit Blick auf die im folgenden Kapitel anstehende Genese eines (multimodalen) Analyse-Modells, ist es notwendig einige grundlegende Aspekte von ‘Multimodalität’ in Bezug auf Sprache (zunächst bewusst weit gefasst) nach vorhandenen Ansätzen zu diskutieren. Dem Ansatz von Kress/ Van Leeuwen zufolge, ist menschliche Kommunikation durch Sprache insofern multimodal, als die Verwendung des abstrakten Systems ‘Sprache’ „nur noch in seiner materialisierten bzw. medialisierten Form zu fassen“ ist, die zwangsläufig „auf unterschiedliche Zeichenressourcen zurückgreift“ (Klug/Stöckl 2015, 242). Innerhalb dieser semiotischen Zeichenressourcen spielt das sprachliche Zeichensystem eine zentrale, aber eben nicht exklusive Rolle und so kann der Sprachgebrauch einer Gemeinschaft nur dann angemessen erfasst werden, wenn die Merkmale der „relevanten Deutungs- und Verstehensrahmen“ mit einberechnet werden (Klug/Stöckl 2015, 243).57 In Bezug auf schriftliche Kommunikation bedeutet dies, dass die para-verbalen Visualisierungskontexte (wie Handschrift oder Farbe) nicht nur den Zugriff gewähren, sondern auch hinsichtlich des kommunikativen Zwecks eine Rolle spielen (vgl. Fricke 2012, 39). Für eine umfassende Erfassung einer kommunikativen Wirklichkeit ist dann von Interesse, auf welche Weise Sprache mit den verschiedenen semiotischen Zeichenmodalitäten verbunden ist und besonders welchen Status und welche Funktion die einzelnen Zeichenmodalitäten oder modes haben (vgl. Klug/Stöckl 2015, 244). Was genau mit Zeichenmodalität oder mode gemeint ist, hängt von der jeweiligen Sichtweise auf das Phänomen ab58 und so orientieren sich auch die Bezeichnungen für das Konzept an diesen Sichtweisen: bspw. funktionsbasierte Zugriffe, wie communicative resource (vgl. van Leeuwen 2011) oder mode of communication (vgl. LeVine/Scollon 2004). Bei Bezeichnungen für die Modalitäten als semiotic resource (vgl. O'Halloran 2004) oder representational mode (vgl. Jewitt/Kress 2003) steht dagegen der Zeichencharakter im Mittelpunkt. Charles Forceville, der selber keine Definition für mode gibt, sondern praktisch vorgeht und acht Arten von mode59 nennt, weist im Kontext der unterschiedlichen Definitionsversuche auf die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung hin, wenn er bemerkt:
Various attempts have been made […], but the definitions diverge, and it is too early to accord any of them authoritative status. However, if there is no agreement on what constitutes a mode, any dimension of discursive meaning could qualify for modal status, and that would make the concept useless.(Herv. im Orig.; Forceville 2014, 51)
Zwei Blickweisen, die jedoch miteinander kompatibel sind, lassen sich bei der Herangehensweise an eine Begriffsklärung von Multimodalität bzw. mode erkennen (vgl. Klug/Stöckl 2015, 245; Stöckl 2016, 4).60 Wird Multimodalität als empirischer Begriff verstanden – womit der Fokus auf Kommunikationspraktiken und ihren Gestaltungsmustern mittels variabel kombinierten Zeichenmodalitäten liegt – sind keine scharfen Grenzen zwischen den Zeichenmodalitäten fassbar, da diese sich gegenseitig überlappen und wechselseitig miteinander verwoben sind (vgl. Klug/Stöckl 2015, 244). Daraus resultiert, dass auch eine Definition von mode keine Kategorien unterscheidet und „mediale, kode-bezogene und sozial-kulturelle Faktoren“ zusammen gezogen werden (Klug/Stöckl 2015, 245). Eine der bekanntesten Definitionen i. S. dieser Sichtweise stammt von Gunther Kress, der mode (aus stark sozial-semiotischer Perspektive) als „a socially shaped and culturally given resource for making meaning. Image, writing, layout, music, gesture, speech, moving image, soundtrack are examples of modes used in representation and communication“ (Herv. im Orig.; Kress 2011, 54) definiert. Er unterstreicht dabei die zwei Aspekte ‘sozial’ (in „social semiotics“) und die „formal requirements“ für eine sozial-semiotische Kommunikationstheorie. Sozial gesehen ist ein mode dann „what a community takes to be a mode and demonstrates that in its practices“ (Kress 2011, 58-59). Page spricht in diesem Kontext von der „fluid nature of modes“ (2010b, 6).
Die zweite Sichtweise fasst Multimodalität als kategorialen Begriff auf und schreibt ihm daher den Status eines „Wesensmerkmal[s] von Zeichengebrauch in Text und Interaktion“ zu (Klug/Stöckl 2015, 244). Diese Perspektive erfordert eine Trennung bzw. Ordnung der Zeichenmodalitäten, welche sich oft an prototypischen Modalitäten (Schrift, Rede, Gestik, Mimik, Bild, Ton usw.) orientiert. Modes stellen hier v. a. „Zeichensysteme, die über Ressourcen und Regeln ihrer Verwendung (Grammatik) verfügen“ dar (Klug/Stöckl 2015, 245). Gleichzeitig spielen die Parameter Medium und Sinneswahrnehmung eine ausschlaggebende Rolle, da der Zeichengebrauch immer an eine Materialität (Medium) gebunden ist und über einen Sinneskanal prozessiert wird. Eine Zeichenmodalität kann dabei in ihrer Medialität verschiedentlich realisiert und über verschiedene Sinneskanäle verarbeitet werden: Sprache kann gesprochen oder geschrieben, gehört oder gelesen werden. Außerdem können modes in eine andere Zeichenmodalität übergehen – bspw. können typographische Praktiken Schrift zu Bildern werden lassen (vgl. Klug/Stöckl 2015, 245). Modalitäten sind kognitiv miteinander verwoben, wodurch es dazu kommen kann, dass eine Modalität eine andere entstehen lässt: so können Redewendungen durch Bilder visualisiert werden (vgl. dazu das Beispiel in Klug/Stöckl 2015, 246). Auf diesen Konzepten – Medium, Kode und Sinneswahrnehmung – basieren dann anwendungsorientierte Begriffsdeutungen von semiotischen Zeichenmodalitäten, wie dies bei Klug und Stöckl der Fall ist. Sie beschreiben das Phänomen-Komplex mit folgenden fünf Aspekten der Zeichenressourcen: 1) Materialität und Medialität, 2) Kodalität (Zeichenset und Grammatik), 3) Sinnesmodalität, 4) Prozessierungsverfahren und 5) sozio-kulturelle Konventionen (Klug/Stöckl 2015, 245).
Ein weiterer, erwähnenswerter Aspekt sind die Funktionsweisen der Multimodalität. Prinzipieller Konsens besteht dabei, dass Zeichenmodalitäten, innerhalb eines Gesamttextes oder kommunikativen Ereignis, in „einem komplementären und wechselseitig integrierenden Bezug“ zueinander stehen (Klug/Stöckl 2015, 247). Trotzdem lassen sich klare Akzentuierungen in Bezug auf die postulierten Funktionsweisen erkennen: für Royce (2013) stehen intersemiotische, Kohärenz-stiftende Vertextungsprinzipien im Vordergrund, Jewitt und Kress dagegen prägten Ausdrücke wie modal affordance, reach of mode oder functional load, um das semantische Ausdruckspotenzial oder die multimodale Aufgabenteilung der Zeichenmodalitäten zu fassen (Kress 2011; Jewitt/Kress 2003). Es existieren aber auch Ansätze aus der Sozialsemiotik – die neben den Ideen von Roland Barthes aus dem Aufsatz Die Rhetorik des Bildes (vgl. Klug/Stöckl 2015, 248) v. a. auf Hallidays Funktionaler Grammatik basieren – sowie text- und diskursanalytische oder rhetorische Ansätze.
Die recht komplexen Verhältnisse, die Vielzahl an Aspekten und Faktoren, die außerdem variabel gewichtet werden müssen (abhängig vom Forschungsziel) und die Einflüsse aus den unterschiedlichsten Disziplinen, bieten eine breite Palette an möglichen Zugängen zum Forschungsgegenstand, erfordern dabei jedoch gleichzeitig ein gewissenhaftes Vorgehen. So fasst Stöckl zusammen:
Jede Zeichenmodalität ist an einen Kanal der Sinneswahrnehmung gebunden. Sie muss materiell-medial realisiert werden und in einer raumzeitlichen und sozialen Situation verwendet werden. Semiotische Modalitäten verfügen über eine interne Strukturierung, die Bedeutungen, Kombinationsmöglichkeiten und Gebrauchsfunktionen ihrer Zeicheninventare regelt. Aus dieser Auffassung lässt sich der Schluss ziehen, dass bei der Zuordnung von Phänomenen zu modes Vorsicht geboten ist. Farbe z. B. scheint eher Bestandteil, d. h. Ressource von Bild oder Typographie; Film, Comics, Oper, Tanz etc. sind medial bestimmte Kommunikationsformen bzw. ihre multimodalen Textsorten, nicht aber Zeichenmodalitäten.(Stöckl 2016, 9)
Diese grundlegenden Betrachtungen zum Phänomen Multimodalität können nun mit den Scritte Murali verbunden werden. Eine Klassifizierung nach den Merkmalen Sinneskanal und Medium (s. o.) ist schnell geschehen: Scritte Murali werden visuell prozessiert (psychologisch sinnliche Wahrnehmung) und eine Kombination technisch-materiell unterschiedlicher Ausdeutungen (mediale Realisierung) findet innerhalb einer Scritta typischerweise nicht statt, sondern beschränkt sich auf ein und dieselbe (auf- und abtragende) Technik, wobei (typischerweise!) derselbe Werkstoff verwendet wird (vgl. Stöckl 2016, 7).61 Intertextuell ist eine medial-materielle Varianz möglich, d. h., die einzelnen Scritte (oder Texte) können durch verschiedene Techniken und Materialien erstellt werden. Es bleibt also eine Ausdeutung auf kodaler Ebene, im Sinne von Zuordnungen zu bestimmten Zeichensystemen. Zwei Zugänge sind für eine (multimodale) Beschreibung besonders gewinnbringend: erstens die Kombination semiotischer Zeichensysteme innerhalb der Texte und zweitens eine Deutung des Standortes als semiotische Modalität.
Die textuellen und rhetorischen Prinzipien der „Vielgestaltigkeit von Zeichentypen und ihrer Verknüpfung [ist] recht klar umrissen“ (Stöckl 2016, 4) und lässt sich auch für Scritte Murali bestimmen. Es können schrift-sprachliche Zeichen mit statischen Bildern verknüpft werden, wobei beide Zeichensysteme ihren eigenen Regeln folgen und jeweils komplementär zur Gesamtbedeutung beitragen. Genauer gesagt, „folgen [sie, also Sprache und Bild,] einer unterschiedlichen internen Logik, haben verschiedene semantische Reichweiten und erlauben je spezifische kommunikative Funktionen“ (Stöckl 2016, 18), sind also nach syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimensionen zu differenzieren (vgl. Stöckl 2016, 9-18). Typischerweise nimmt Sprache dabei eine dominante Rolle ein. Designmodi, wie Typographie, Anordnung der Zeichen, Farbe usw., können dabei ebenfalls als modes gedeutet werden und es wird sich zeigen, dass ihnen in bestimmten Fällen ein entscheidender Status zu zuschreiben ist. Allerdings sind diese Designmodi immer an die Schriftsprache bzw. Bildlichkeit gebunden und können daher nicht als eigenständige modes gesehen werden, sondern gelten als periphere Zeichenmodalitäten, mit einem eigenen Set an Ressourcen (vgl. Stöckl 2004). Diese sekundären Zeichensysteme, soviel sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen, fungieren besonders als konnotative Bedeutungsträger (vgl. Spitzmüller 2016, 231-233). Sowohl die Kombination aus bildlichen und schriftsprachlichen Zeichen als auch jene der unterschiedlichen Designmodi, sind dabei nicht zwingend realisiert und so bleibt das multimodale Moment aus dieser Perspektive ein potentielles.
Zweckmäßiger ist es, wenn man nicht nur von den intern verwendeten Zeichen ausgeht, sondern die jeweiligen Texte in ihrer Gesamterscheinung als Anknüpfungspunkt wählt und sie Zeichentypen zuordnet. Ausschlaggebend ist dabei die Beziehung der Zeichen zu den bezeichneten Objekten und Konzepten (Zweite Trichotomie nach Peirce, vgl. Peirce 1994, 2.247-249), die für Peirce die „grundlegendste Einteilung der Zeichen“ darstellt (Nöth 2000, 66). Stark vereinfacht unterscheidet Peirce Zeichen innerhalb der zweiten Trichotomie nach Symbol, Index und Ikon und ordnet sie den Kategorien der Erstheit (Möglichkeit), Zweitheit (Existenz) und Drittheit (Gesetz) zu (vgl. Nöth 2000, 66). Ähneln Zeichen dem Objekt, für welches sie stehen, so handelt es sich um Ikone. Entscheidend ist also die Ähnlichkeit zwischen Objekt und Zeichen. Indexikalische Zeichen stehen in kausaler Relation zum Objekt. „The index is physically connected with its object; they make an organic pair, but the interpreting mind has nothing to do with this connection, except remarking it, after it is established“ (Peirce 1994, 2.299). Handelt es sich um Zeichen, deren Bedeutungszuschreibung auf gesetzmäßigen Regeln bzw. Gewohnheit beruhen, so handelt es sich um ein Symbol. Oft wird davon ausgegangen, dass nach Peirce Symbole zwingend konventionell und arbiträr sind. Streng genommen ist Konventionalität für Peirce jedoch lediglich ein hinreichendes und kein notwendiges Kriterium (vgl. Nöth 2000, 179). Entscheidend ist (nach Peirce) die Regelmäßigkeit mit der einem Zeichen Bedeutung zugewiesen wird und zwar „ohne irgendeine Form der Motivation durch das Objekt“ (Nöth 2000, 179). Der Objektbezug ist also willkürlich, d. h., er beruht weder auf Ähnlichkeit (Ikon), noch auf faktischer Zusammengehörigkeit (Index) (vgl. Nöth 2000, 66).
Scritte Murali können nun dem Rang dieser Zeichentypen zugeordnet werden, wobei jedes kategoriale Moment entscheidend am Bedeutungs- und Verstehensprozess mitwirkt.
Scritte Murali als symbolische Zeichen. Scritte Murali können symbolischen Zeichencharakter haben, da sie gesetzmäßig und der Gewohnheit bestimmter Gesellschaftsformen nach für etwas stehen, ohne durch dieses ‘etwas’ direkt motiviert zu sein. Sie können bspw. als subversiv gelten, aber auch als tolerierte oder sogar gewünschte (Massen-) Kommunikationsform, sicherlich aber werden sie als transgressiv gedeutet. Die Klassifizierung als Text impliziert außerdem, dass Scritte Murali typischerweise symbolische Zeichensysteme (Sprache) auf einer internen Ebene verarbeiten.
Scritte Murali als ikonische Zeichen. Scritte Murali können auch als Ikone interpretiert werden, wenn auch auf abstrakterer Ebene, und zwar ausgehend von der Erscheinung des Gesamttextes, selbst wenn keine bildlichen Elemente realisiert werden. Mit anderen Worten ausgedrückt: wenn der gestalterischen Präsentation eine größere Rolle zukommt, sie also eher als Schrift-Bilder wahrgenommen werden – ähnlich wie bei den American Graffiti (s. o.; vgl. Metten 2011). Die peripheren Modalitäten, wie Typographie, Farbwahl usw., kommunizieren „quasi ikonisch“ (Stöckl 2004, 14), was offensichtlich Auswirkungen auf die „Prozesse des Bedeutens und Verstehens“ hat, da „Präsenz- und Sinneffekte […] nicht voneinander zu lösen“ sind (Metten 2011, 74-75). Noch einleuchtender wird der ikonische Charakter von Scritte Murali, wenn man die Ideen Roland Barthes‘ (zu Werbetexten) berücksichtigt, da er den Bildteilen der Werbung kodierte ikonische Botschaften zuschreibt, das sie „Konnotationen des Bildes“ (im Sinne von „Produktimage[s]“) vermitteln (Nöth 2000, 510). Die ikonischen Konnotationen der Scritte Murali – also ihr „Produktimage“ – sind bspw. ihr transgressives und/oder subversives Moment, das in „sekundäre symbolische“ Bedeutungen (s. o.) übergeht.
Scritte Murali als indexikalische Zeichen. Ganz entscheidend ist die Tatsache, dass Scritte Murali immer auch indexikalisch funktionieren, da sie auf mehreren Ebenen auf ‘etwas’ verweisen. Zunächst sind sie unwiderruflich an ihren Standort und damit an ihre Oberfläche gebunden sind – werden sie entfernt, überschrieben oder verschwinden bspw. aufgrund der Witterung, so existieren sie nicht mehr, außer sie werden fotografiert oder, wie im Rahmen dieser Arbeit, in einem Korpus digitalisiert. Dann jedoch sind es so gesehen keine Scritte Murali mehr, sondern die Fotografien oder digitalisierten Formen sind dann selbst Ikone der eigentlichen Scritte (= Referenzobjekte) mit ihrem ganz spezifischen Standort. Diese „faktische Existenz in Raum und Zeit“ ist für Peirce die Voraussetzung für ein indexikalisches Zeichen (Nöth 2000, 185). Scritte Murali (wie auch allgemein Graffiti) nehmen eine Sonderstellung ein, weil die Trägerflächen nicht einfach nur als Untergrund dienen, sondern „selbst zeichenhaft“ sind, also zu „bedeutungsvollen Flächen werden, deren Verortung für die Sichtbarkeit entscheidend ist“ (Herv. im Orig.; Metten 2011, 84; vgl. auch die Überlegungen zu Träger und Standort oben). Die Verortung (also der Standort) und damit der indexikalische Aspekt ist für diese Form der Kommunikation ganz entscheidend, da Scritte Murali erst durch den Standort (im öffentlichen Raum) existieren und zu Scritte Murali werden. Sie verweisen gleichzeitig auf einen Produzenten (‘Jemand war hier!’) und seine/ihre möglichen Stimmungen und/oder Einstellungen (vgl. Stöckl 2016, 14). Außerdem geben sie immer Hinweise auf Handlungen, wobei mit Handlungen nicht nur die Erstellungstechnik, verwendeten Werkstoffe und motorischen Abläufe während der Erstellung gemeint sind, sondern auch die (transgressive) Inbesitznahme der Fläche (vgl. auch Metten 2011, 84).
Einige der bisher eher abstrakt-theoretischen Ausführungen möchte ich exemplarisch anhand einer konkreten Scritta verdeutlichen. Betrachten wir die semantisch-funktionalen und formal-strukturellen Aspekte einer möglichen Scritta wie Giulia ti amo ♥ (vgl. Abb. 22).
Die Gesamtbedeutung dieser Scritta (auch in Hinblick auf die Funktionalität) wird durch verschiedene Elemente generiert, die mehr oder weniger stark gewichtet werden können (bzw. müssen). So beteiligen sich aus formal-struktureller Sicht verschiedene Einheiten an der Sinnstiftung: die ikonische und symbolische Funktion bestimmter Ressourcen der Designmodi – wie Farbwahl oder eine ästhetisch ansprechende Typographie – können bewusst vom Produzenten gewählt werden, um die semantisch-funktionale Seite zu modellieren. Mehr noch kann die Anordnung der Zeichen und die Verwendung von Bildelementen (♥) mit symbolischer und ikonischer Funktion die Bedeutung manipulieren. Würden die verschiedenen Ressourcen ‘falsch’ oder besser ‘schlecht’ gewählt (z. B. Frakturschrift oder anstatt eines Herzen ein Smiley), so würde die Aussagekraft der Scritta gemindert bzw. abgeändert werden. Noch entscheidender ist der öffentliche Standort und der Aspekt als indexikalisches Zeichen, da die Scritta an einem ungünstigen Standort (bspw. an einem Ort, den Giulia wahrscheinlich nicht frequentieren wird) ihren Zweck verfehlen würde und auch der Verweis auf den Produzenten und seine Einstellung (Liebesgefühle) nicht mehr abgeleitet werden könnte. Wie bereits erwähnt, ist die Verwendung von Sprache eine zentrale Modalität, da sie die semantisch-funktionale Seite am besten füllen kann. Die Verwendung bestimmter Verben und –formen (amo), die deiktischen Verweise (-o, ti) und die konkrete Referenz auf eine Einzelperson mit dem Namen Giulia, transportieren den Großteil der vermittelten Botschaft. An diesem Beispiel wird deutlich, dass erstens der Sprache eine dominante Rolle zukommt, zweitens die anderen Elemente in verschiedenem Maße an der Gesamtbedeutung teilhaben und drittens bestimmte Elemente, nämlich der Standort, ganz wesentlich und entscheidend für die Bedeutung sind. Es wird auch deutlich, dass bestimmte Faktoren, wie Herstellungswerkzeug, Farbe und Typographie, eher eine periphere Rolle einnehmen. Die Bedeutung der Scritta würde auf denotativer Ebene nicht geändert werden, würde sie in einer schlecht gewählten Typographie geschrieben werden – auf konnotativer Ebene dagegen schon.62
Scritte Murali generieren ihre Bedeutung also nicht allein auf der sprachlichen Ebene (Symbol), sondern ihre kommunikative Wirklichkeit kann erst unter Einbeziehung ihrer Ikonizität und ihres verweisenden Zeichencharakters (Index) erfasst werden. Dabei handelt es sich nicht um Mischformen, wie es oft in der Literatur beschrieben wird (vgl. etwa Stöckl 2016, 13). Scritte Murali sind nicht ein Zeichen, das gleichzeitig symbolisch, indexikalisch und ikonisch ist, sondern in Scritte Murali gibt es „isolatable aspect[s] of a situation that is working (i.e., is being isolated by an interpreter)“ (Bateman u.a. 2017, 61), nämlich symbolische, indexikalische und ikonische Aspekte. Diese Aspekte „are orchestrated together as [three] responses to a single ‘encounter with the world’ needing interpretation“ (Bateman u.a. 2017, 61). Selbstverständlich sind diese Aspekte eng miteinander verwoben und werden in der Prozessierung bzw. bei der Interpretation parallel und komplementär verarbeitet. Bateman bezieht die Unterscheidung der Zeichen nach ihren Objektrelationen auf die modes:
Essentially the division is concerned with explaining the ways (or, in yet another sense to that which is employed in multimodality, the ‘modes’) in which the connection between signs and their objects can be constructed—that is, just what is it about some particular sign-vehicle and its object that supports that usage as a sign. Peirce offers three ‘modes’, or manners of support […].(Herv. im Orig.; Bateman u.a. 2017, 59)
Die Kombination mehrerer (oder mindestens zweierlei) Zeichenaspekte begründet also, neben der textuell-rhetorischen Bild-Schrift-Kombination, eine Deutung der Scritte als multimodale Texte.63
Zusammenfassung. Scritte Murali können also im Rahmen einer minimalen Definition und auf den zugrunde gelegten Beobachtungen und Konzepten folgendermaßen beschrieben werden: Scritte Murali sind eine visuell wahrnehmbare Kommunikationsform, die sich in Gestalt klar abgegrenzter, multimodaler Texte präsentiert, worin schrift-sprachliche Zeichen typischerweise eine dominante Rolle einnehmen. Die Modalitäten und konstitutiven Elemente der Scritte werden „formal-strukturell und semantisch-funktional in den Gesamttext eingebunden“ (Stöckl 2016, 5), wobei sich die einzelnen Elemente im Bereich des Ausdruckpotenzials und der funktionalen Eigenschaften unterscheiden, typspezifisch zur Gesamtbedeutung der Scritta beitragen und intern strukturiert sind. Neben dem dominanten Status der Sprache, sind die konkrete raum-zeitliche (Standort) und sozial-situationelle Einbindung sowie die materiell-mediale Realisierung als zentrale Elemente für die Sinnstiftung der Scritte zu sehen. Scritte Murali sind grundsätzlich transgressiv, ihre Inhalte und ihre Formen sind informell-öffentlich und ihr Standort ist mindestens visuell der Öffentlichkeit zugänglich.
Die im vorherigen Kapitel beschriebenen formalen Charakteristika der Scritte, basieren auf der Grundannahme, dass es sich bei Scritte Murali um eine Form von Kommunikation handelt. Eine strukturelle Betrachtung und Klassifizierung, ganz gleich welcher Art, ist dabei v. a. Mittel zum Zweck, d.h., die (Zu-) Ordnung allein „trägt […] nicht unbedingt zu Erkenntnis bei“ (Schmitz 2016, 343), sondern ist zweierlei Zwecken dienlich: erstens schafft sie einen Überblick über den Forschungsgegenstand und zweitens stellt dieser Überblick die Weichen für die eigentliche(n) Forschungsfrage(n). Die bisherigen Betrachtungen sind nicht erschöpfend und müssen es auch nicht sein, da aus einer statisch-deskriptiven Beschreibung der Scritte noch nicht wirklich viel gewonnen ist. Sie dienen eher als Beschreibungswerkzeug, welches einen zweckorientierten Zugang zum Gegenstand eröffnet. So werde ich nun Schritt für Schritt von einer semasiologischen Herangehensweise (Was bedeutet das Zeichen ‘Scritte Murali’?) zu einer onomasiologischen Perspektive (z. B. Wie funktionieren die konkreten Ausprägungen?) übergehen. Ich möchte dazu die (vorrangig) formalen Aspekte der vorangegangenen Kapitel als Anknüpfungspunkt nehmen, um einige Thesen abzuleiten, die sich in die übergreifende Forschungsfrage, Scritte Murali als Kommunikationsform zu analysieren, integrieren lassen. Ausgehend von diesen Thesen werde ich im nächsten Kapitel ein passendes Analysemodell erstellen und es auf ein Korpus konkreter Scritte anwenden.
3. Theoretisches Arbeitsmodell
Die Ausführungen und textlinguistischen Kategorisierungsversuche in Kapitel dienten v. a. für eine Sensibilisierung in Bezug auf die Thematik sowie zur Orientierung innerhalb der Materie, die sich auf den ersten Blick unübersichtlich darstellt. Nicht grundlos werden die SM alltagssprachlich als Gekritzel oder Geschmiere bezeichnet, da es sich augenscheinlich um recht willkürlich erstellte Texte oder Textteile handelt. Jedoch konnten im vorangegangenen Kapitel bereits einige wesentliche Merkmale fixiert werden und ein erster Überblick, der gewisse Muster und Schemata erahnen lässt oder zumindest hypothesiert. Um die kommunikative Wirklichkeit der Scritte Murali möglichst umfassend zu verstehen – soweit dies möglich ist – und theoretisch zu erfassen, muss nun ein Arbeitsmodell geschaffen werden, welches die konstitutiven Faktoren beinhaltet.
Aufgrund der Komplexität der SM, scheint es sinnvoll bei traditionellen Fundamenten anzuknüpfen und ‘modernere’ Ansätze, trotz ihrer Leistungsfähigkeit, hinten anzustellen. In Hinblick auf eine spätere Analyse und Interpretation der kommunikativen Strategien ist es nötig, kommunikations-konstitutive Basiskategorien zu selektieren und gegebenenfalls auf Verbindungen zu benachbarten Bereichen und/oder Disziplinen zu verweisen. Ein klassisches Modell, welches die Funktionen von sprachlicher Kommunikation erklären sucht, ist jenes von Roman Jakobson (1979). Praktikabel erweist sich dabei, dass Jakobson die Funktion in Verbindung mit basalen Kategorien oder Dimensionen deutet. In Anlehnung an Jakobsons Modell möchte ich in diesem Kapitel die Basiskategorien für die Kommunikationsform SM erörtern. Die bisherigen Beobachtungen bekommen dadurch einen stabilen Rahmen und verschiedene Analysedimensionen werden auf diese Weise eminent. Das anschließende Kapitel setzt sich konkret damit auseinander, wie musterhafte Strukturen und Prozesse auf textinterner Ebene der SM anhand eines Korpus erfasst werden können, um Genres einteilen zu können.
3.1. Analytische Basiskategorien nach Jakobson
Die Überlegungen der vorherigen DEFAULT deuten darauf hin, dass es variabel gewichtete, ineinander verwobene und grundlegende Merkmale der Scritte Murali als Textform gibt. Möchte man SM als Kommunikationsform analysieren und ihre Funktionalitäten theoretisch erfassen, so ist es nötig analytische Bezugsgrößen für die Interpretation festzulegen. Aufgrund der Komplexität und der Spezifik dieser Kommunikationsform ist es nicht möglich vorhandene Analysemodelle zu verwenden, ohne diese zweckgerichtet anzupassen. Feinkörnigere Klassifikationen verschiedenster Kommunikationsformen, wie sie z. B. bei Schmitz (vgl. 2016, 336-337) zu finden sind, scheinen auf den ersten Blick recht übersichtlich. So zählen Graffiti (zu denen, wie man sehen konnte, SM zu rechnen sind) bei Schmitz zu den „[p]otentiell multimodale[n] sprachgebundene[n] Kommunikationsformen“ und werden nach den Dimensionen „Sein“, „Modus“ und „Nutzung“ beschrieben (2016, 337):
- Sein: Graffiti (und damit SM) sind weder flüchtig noch aktuell.
- Modus: Schriftliche und statisch-bildliche Elemente können verbunden werden.
- Nutzung: Die Kommunikationsrichtung ist unidirektional; SM sind „öffentlich“ und es ist nicht möglich „[sich] aktiv ein- oder auszuschalten“ (Schmitz 2016, 336).
Meine persönliche Erfahrung (die sich in den Ergebnissen der Korpus-Auswertungen widerspiegelt, siehe DEFAULT) und einige der oben ausgeführten Beobachtungen, stellen jedoch bestimmte Punkte dieser Klassifizierung in Frage:
- Zum Sein: Die Texte der SM können (und werden) regelmäßig ‘entfernt’, was einer Klassifizierung als ‘nicht flüchtig’ zwar grundsätzlich nicht widerspricht, aber zumindest eine genauere Betrachtung dieses Faktors erfordert.
- Zum Modus: Richtig ist, dass schriftliche und nicht-schriftliche graphische Verfahren miteinander verbunden werden (können). Geklärt ist dabei jedoch nicht die Bedeutung der einzelnen Merkmale für die Sinnstiftung des Gesamttextes und in Bezug auf die Textfunktion.
- Zur Nutzung: Es scheint zunächst, dass SM (bzw. Graffiti) unidirektional sind. Allerdings besteht wohl die Möglichkeit SM-Texte zu modifizieren (also z. B. zu kommentieren, innerhalb der Textfläche), wodurch direkte Kommunikation entsteht und auch ein „sich aktives ein- oder ausschalten“ (s. o.) möglich ist. Inwiefern dies für alle SM-Texte bzw. –Genres gilt, ist noch zu klären. Der Faktor Öffentlichkeit wurde bereits angesprochen.
Dass eine solche Klassifizierung nicht wirklich funktioniert, liegt m. E. n. besonders an einer fehlenden Ausdifferenzierung der verschiedenen Graffiti-Unterformen (siehe Kapitel ). Ganz gleich, wie eine Klassifizierung nach diesem Schema zu diskutieren ist, wird jedem, der sich mit SM eingehender beschäftigt, schon rein intuitiv bewusst, dass gewisse, ganz grundlegende Faktoren distinktiver Natur nicht berücksichtigt werden – man denke dabei besonders an die hervorstechende Bedeutung des (Stand-) Ortes für die Texte (siehe DEFAULT und DEFAULT). Holly weist auf die Schwächen solcher „Merkmalslisten“ hin, wenn er feststellt, dass diese „nicht die feinen Unterschiede [erfassen], die durch bestimmte technisch-mediale und kulturelle Unterschiede erreicht werden“ (2011, 152).64 Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch nicht eine Diskussion des Nutzens bestimmter Typologien, sondern, wie Holly weiter herausstellt: „Viel interessanter als die typologisierende Einteilung wäre aber eine konsequente Beschreibung der Kommunikationsform-Vielfalt mit ihren technischen und historisch-kulturellen Hintergründen“ (2011, 160). So lautet die Frage also, wie sich SM als Kommunikationsform beschreiben lassen und welche Faktoren – neben dem technischen-medialen Aspekt – von besonderer Bedeutung sind.
Auf diesem Hintergrund werden nun zweckgerichtet analytische Basiskategorien erstellt, wobei ich mich an Roman Jakobsons Kommunikationsmodell von 1960 orientiere und die von ihm beschriebenen konstitutiven Faktoren adaptieren bzw. erweitern möchte, soweit dies in Hinblick auf die SM notwendig ist. Auf diese Weise werden distinktive Größen herausgestellt, welche für eine Interpretation der kommunikativen Funktionen erforderlich sind. Dabei möchte ich noch einmal unterstreichen, dass an dieser Stelle noch keine Interpretation der Funktionen stattfinden soll, sondern lediglich die Basiskategorien mit Bezug auf das Korpus fixiert werden. Dies bedeutet bspw., dass geklärt werden soll, ob der Ort von Bedeutung ist und in welchem (grundlegenden) Maße, aber (noch) nicht welche funktionalen Aufgaben der Raum übernimmt oder wie SM in wechselseitiger Beziehung mit dem (Stand-) Ort diesen zu einem kommunikativen Raum werden lassen.
In seinem berühmten Aufsatz Poetik und Linguistik von 1960 fasst Jakobson seine Gedanken zu den Sprachfunktionen, welche schon in früheren Werken teilweise auftauchen, zusammen (vgl. Auer 2013, 33-34). Sein Funktionsmodell zeigt v. a. in graphischer Hinsicht Ähnlichkeiten mit Shannon und Weavers Kommunikationstheorie, knüpft aber explizit65 an Karl Bühlers Organonmodell an. In Bühlers Modell steht das sprachliche Zeichen im Zentrum und Kommunikation spielt insofern eine Rolle, als das Zeichen erst in der Kommunikationssituation konstituiert wird, „d. h. in der Beziehung zwischen Sprecher (Sender), Hörer (Empfänger) und Denotat (Gegenstände und Sachverhalte)“ (Auer 2013, 26). Jakobson möchte ein Modell schaffen, das erlaubt Sprache „in Bezug auf die ganze Vielfalt ihrer Funktionen“ zu untersuchen(1979, 88). Eine solche Interpretation (bei Jakobson „Skizzierung“, 1979, 88) „verlangt eine kurze Übersicht der konstitutiven Faktoren in […] jedem verbalen Kommunikationsakt“ (Jakobson 1979, 88). Diese Faktoren lassen sich nach Jakobson folgendermaßen beschreiben:
Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m. a. W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Mitteilung) gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS, eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfänger, der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.(Herv. im Orig.; Jakobson 1979, 88)
Graphisch lassen sich diese „unabdingbaren Faktoren“ (Jakobson 1979, 88) in folgendem Schema (Abb. 23) festhalten:
Jakobson beschreibt anschließend die dominanten Funktionen (vgl. 1979, 88-96), welche sich in Bezug auf diese sechs Faktoren ausrichten, worauf ich jedoch nicht weiter eingehen möchte. Vielmehr möchte ich die einzelnen Dimensionen im Hinblick auf Scritte Murali betrachten, gegebenenfalls neu ordnen und um nötige Kategorien erweitern. Wie an anderer Stelle bereits angedeutet, ist eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit den konstitutiven Faktoren der Kommunikationskonstellation(en) unerlässlich. Bateman (2017) weist in seinem ausführlichen Werk zur Multimodalität(sanalyse) wiederholt auf die Wichtigkeit dieses Schrittes hin und im Kontext von kommunikativen Situationen:
One of the most significant problems found in particular disciplinary accounts of ‘communication’ is that of missing ‘levels’ of abstraction or organisation. Failing to separate out levels of representation sufficiently is the single most common cause of descriptive confusion or lack of specificity.(2017, 77)
Und an anderer Stelle:
Moving too quickly from simple to complex descriptions often means that important properties are being skipped over, and these may come back to haunt us later if a different communicative situation demands attention to be paid to just those properties that were formerly ignored.(2017, 78)
Es wird sich zeigen, dass SM eine Kommunikationsform ist, welche ihre Bedeutungen und Funktionalitäten zu einem alles andere als geringen Teil aus Faktoren erfährt, die in vielen theoretischen Arbeitsmodellen zu Kommunikation bisher vernachlässigt wurden.66
3.1.1. Kommunikationsteilnehmer (Produzent und Rezipient)
Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art von Sprache?(Foucault 1981, 75)
Die oft verwendete „Übertragungsmetapher“ (Luhmann 1984, 194), dass ‘jemand’ – ein Sender – ‘jemandem anderen’ – einem Empfänger – etwas überträgt oder übermittelt, ist so gesehen richtig, lässt jedoch bei weitem die von Bateman geforderte Genauigkeit (s. o.) für ein komplexes Kommunikationsmittel wie SM vermissen. Adamzik beklagt zu Beginn des Kapitels zu Produzenten und Rezipienten in ihrer Arbeit zur Textlinguistik (2016), dass eine Differenzierung in Bezug auf diese Dimension eine (zu) geringe Rolle spielt und spricht einen weiteren wichtigen Punkt an:
Alle Anleitungen zur Textproduktion, zur kritischen Beurteilung von Texten und Vorschläge für ihre Optimierung stellen die adressatengerechte Gestaltung in den Vordergrund. Welchen Texten man wie begegnet – wozu auch gehören kann, dass man sie gar nicht erst zur Kenntnis nimmt bzw. gleich wegwirft –, mit welcher Einstellung und Vorerwartung man sich ihnen nähert, ist entscheidend davon abhängig, wen man als Produzenten/Autor identifiziert.(Adamzik 2016, 136)
Die Tatsache, dass SM weithin als ‘Geschmiere’ betrachtet werden, hat demnach nicht nur mit der (negativen) Einstellung der Rezipienten zu tun, sondern auch mit der Identifikation der Produzenten und/oder Autoren. Dass Scritte von vornherein ignoriert (oder absichtlich nicht gelesen werden), kann auch damit zusammenhängen, dass die (produzentenseitige) Wahl dieser transgressiven Form, Rückschlüsse auf die Produzenten und ihre Werte provozieren. Die Typisierung, auf die ich später noch genauer eingehen werde (DEFAULT), erscheint hier als zentraler Faktor. Geht man von dieser wechselseitigen Beziehung Produzent/Produktion – Rezipient/Rezeption aus, muss die scheinbare Trennung der Pole Sender – Empfänger, wie sie auf den ersten Blick bei Jakobson wirken mag, neu gedeutet werden. Spitzmüller und Warnke konstatieren in ihrer Arbeit zur Diskurslinguistik (2011), dass es sich bei den Faktoren Sender/Schreiber und Empfänger/Leser um „Sammelbegriffe handelt, weil damit ganz unterschiedliche Rollen bezeichnet werden“ (2011, 174). Die „abstrakte Kategorie“ (Adamzik 2016, 137) der Rolle, die sich für eine systematische Beschreibung der an der Interaktion Beteiligten eignen, profitiert von Erving Goffmans Konzept des footings (vgl. 1979 und 1981). Goffman hatte die Notwendigkeit erkannt, speaker und hearer jeweils genauer auszudifferenzieren und teilt den beiden Seiten jeweils drei Rollen zu. Für SM lassen sich folgende Konstellationen festhalten:
Produzenten67
Vortheoretisch lässt sich zunächst beobachten, dass die Texte von anonymen Personen erstellt wurden (und auch an einen anonymen Empfängerkreis ‘gesendet’ werden). Bei genauerer Betrachtung sind jedoch zwischen den beiden Polen ‘anonym’ und ‘explizit individualisiert’ alle Grade denkbar:
Von Texten, die (auf textinterner Ebene) keinerlei Hinweise auf den Produzenten zulassen, außer, dass dieser (scheinbar) bereit war, eine transgressive Handlung zu vollführen (Abb. 24), über Texte, die aufgrund von Initialen (am Ende des Textes, i. S. v. ‘Signaturen’) zumindest eine Einschränkung der Namenskombination zulassen (Abb. 25) oder durch bestimmte Verfahren (Verwendung bestimmter Lexik und/oder graphischer Elemente, wie politische Symbole oder Farben) auf Produzenten verweisen, die bestimmten sozialen Gruppierungen angehören (Abb. 26), bis hin zu Texten, die eindeutig die Produzenten ausweisen (Abb. 27-28), ist alles denkbar.68
Goffman differenziert produzentenseitig zwischen animator, author und principal, welche im Gesamt das sog. Production format ergeben (vgl. 1979, 16-18). Animator bezeichnet dabei den „Akteur der Äußerung“ (Spitzmüller/Warnke 2011, 175), vom Author wurden die Worte ausformuliert, also „someone who has selected the sentiments that are being expressed and the words in which they are encoded“ (Goffman 1979, 17) und der Principal schließlich ist die Instanz, welche “für das Gesagte die Verantwortung übernimmt” (Burger/Luginbühl 2014, 6). Diese triadische Unterscheidung ist jedoch nur für einen bestimmten Teil der SM-Texte anwendbar. Dies möchte ich anhand zweier bewusst gewählter Beispiele (Abb. 29-30) exemplarisch zeigen:
Die Differenzierung nach Animator, Author und Principal könnte für den Text in Abb. 29 folgendermaßen interpretiert werden:
Animator: Aufgrund der Größe wären mehrere Produzenten (unterschiedlichen Geschlechts und Alters) denkbar, d. h., der Text wurde von mehreren Personen parallel oder abwechselnd mithilfe bestimmter technischer Hilfsmittel (Farbe, Pinsel usw.) an der Wand angebracht.
Author: Die Verwendung der doppelten Anführungsstriche und des Namens Paolo di Nella am Ende des Textes, deuten darauf hin, dass eine gewisse Person namens Paolo di Nella den Text zu einem bestimmten Zeitpunkt entäußert hat, schriftlich oder mündlich. Paolo di Nella wäre also derjenige, der den Text (bis zum Anführungszeichen) ausformuliert hat. Dies gilt jedoch nicht für den Namen (Paolo di Nella), den Zusatz la trieste sowie das bildgraphische Zeichen (keltisches Kreuz). Für diese Textteile wäre eine Korrelation mit den Personen, die der Rolle der Animators zugeschrieben werden (können), denkbar.
Principal: Für Goffman ist der principal „someone whose position is established by the words that are spoken, someone whose beliefs have been told, someone who has committed himself to what the words say” (1979, 17). Die Rollenzuordnung nach dieser Kategorie lassen sich erst bei Kenntnis des außer-sprachlichen Kontextes erahnen. Danach wäre eine ganze Gruppierung als Principals zu sehen und zwar eine neo-faschistische, hierarchisch organisierte Gruppierung, welche im Stadtviertel, in welchem der Text situiert ist69, recht präsent sind und welche in der Tradition von Paolo di Nellas rechts-extremer Gruppierung des gleichen Stadtviertels stehen.
Plausibel wäre, dass Mitglieder der Gruppierung zugleich die Rolle der Animators, Authors (für die Teile, die nicht von Paolo di Nella stammen) und Principals einnehmen, wobei hierarchisch-bedingte Dominanzverhältnisse denkbar sind.
Für den Text aus Abb. 30 wäre es denkbar, dass alle drei Kategorien zusammenfallen. Mit anderen Worten: Die Person, die den Text mithilfe eines Filzstiftes/Markers erstellt hat (= Animator), nimmt auch die Rolle des Authors ein, d. h., sie hat den Text selber ausformuliert, und übernimmt schließlich auch die Verantwortung (besonders in Bezug auf den Inhalt) und ist damit also auch Principal. Selbstverständlich ließen sich aufgrund verschiedenster Hinweise im Text Vermutungen zum Produzent anzustellen. So könnte die Typographie als Hinweis auf eine (stereotypische) Zuordnung zum weiblichen Geschlecht gedeutet werden. Der verarbeitete Inhalt dagegen mag die sozio-biographische Verfassung des Produzenten widerspiegeln, d. h., der/die Produzent(in) hat schmerzhafte Erfahrungen mit der Liebe gemacht und beschreibt sie daher als unbarmherzig.
Ganz gleich wie beide Texte interpretiert werden könnten, wird folgendes deutlich:
- Eine allgemein gültige Zuordnung nach Goffmans triadischer Unterscheidung ist für SM nicht möglich. Verschiedene Konstellationen sind möglich. Ob sich dabei typische Muster erkennen lassen, soll in den anschließenden Kapiteln geklärt werden, wobei die (prototypischen) Genres der Texte von zentraler Bedeutung sein werden.
- Es ist zu vermuten, dass ein gewisser Grad an Anonymität bei dem Großteil der Scritte erhalten bleibt, selbst wenn potentielle Produzenten stark eingegrenzt werden können. Selbst für den Fall, dass eine klar eingegrenzte Zahl von Rezipienten den Animator bei der Erstellung beobachten kann und Produktions- und Rezeptionszeit minimal versetzt sind, ist nicht klar, ob die Rezipienten den Produzenten ‘kennen’, und selbst wenn, steht diese klar begrenzte Zahl von Rezipienten in deutlicher Minderheit zur Zahl der potentiellen Rezipienten, die bei der Erstellung nicht anwesend sind und daher kein (oder geringes) Wissen über den Produzenten haben. Ein gewisser Grad der Anonymität ist also wesentliches Merkmal der Produzenten von SM-Texten.
- Diese Anonymität liegt auch an der fundamentalen Bedeutung zwei weiterer Faktoren, welche – so viel sei vorweggenommen – in alle weiteren Dimensionen der Interaktionssituation ausstrahlt: der (Erstellungs-) Zeitpunkt und der (Stand-) Ort des Textes. Auf beide Faktoren werde ich weiter unten ausführlicher eingehen, wenn ich die Dimension des Kontextes (aber auch des Kontaktes) skizziere. Aufgrund der technisch-materiellen Bedingungen (d. h. das Auf- oder Anbringen der Texte und die daraus resultierende symphysische Verbindung70) ‘schreibt’ sich der Produzent in den eigenen Text ein. Der Ort verweist also immer indexikalisch auf einen Produzenten, sei er anonym oder offen individualisiert.
- Auf die Annahme, dass sich die SM-Texte in Genres organisieren und damit Typisierungsleistungen erfordern, verweisend, lässt sich vermuten, dass sich Produzenten bei der Erstellung an potentiellen Rezipienten-Profilen orientieren.
Rezipienten
Parallel zur Rolle des Produzenten beschreibt Goffman den Begriff der Rezipienten (im Original hearer, listener oder recipient, vgl. 1979, 7). Grundlegend unterscheidet er dabei: „a ratified participant may not be listening, and someone listening may not be a ratified participant“ vgl. 1979, 8. Es werden also autorisierte („ratified“, sog. Primary recipients, vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, 177) von nicht-autorisierten („unratified“) Rezipienten bzw. Hörern unterschieden, wobei letztere weiter differenziert werden („in one of two socially different ways“, Goffman 1979, 8), abhängig davon, wie sich die Hör-Situation gestaltet: ein nicht-autorisierter Rezipient, der bewusst beabsichtigt die Äußerungen des Produzenten wahrzunehmen, bezeichnet Goffman als Eavesdropper; jene nicht-autorisierten Rezipienten, die die Äußerungen „unintentionally and inadvertently“ wahrnehmen, nennt er Over-hearers (1979, 8). Weiterhin können bei den autorisierten Hörern zwischen jenen, die „direkt adressiert sind“ und jenen, die „lediglich mithören/-lesen“ Adamzik 2016, 139; vgl. Goffman 1979, 9), unterschieden werden. Offensichtlich sind (für Texte unterschiedlicher Art bzw. Kommunikationsformen allgemein) auch Mehrfachadressierung möglich, d. h., dass ganze Gruppierungen als intendierte Rezipienten gelten, wobei sich diese Gruppenkonstellationen äußerst heterogen gestalten können (vgl. Adamzik 2016, 139 und Burger/Luginbühl 2014, 8-14). Es wäre nun möglich verschiedene Konstellationen auf Basis vorhandener Typologien (bspw. aus der Polito- oder Medienlinguistik) zu erfassen, jedoch wird bei diesen Typologien, trotz aller Gemeinsamkeiten, ein Faktor meist ignoriert, der jedoch für SM der entscheidende Schlüssel-Faktor ist und bereits mehrmals als zentrales Moment aufgetaucht ist: der Ort. Es ist infolgedessen notwendig die Texte der SM aus der Perspektive der in Kapitel festgehaltenen minimalen, konstitutiven Merkmale – also, dass die Texte visuell der Öffentlichkeit zugänglich sind – zu betrachten, um die Rezipientenrollen ansatzweise rahmen zu können. Gerade dadurch, dass die Texte für die Öffentlichkeit zugänglich sind, scheint es zunächst als wären sie ‘jedem’ zugänglich, was theoretisch auch richtig ist. In der Praxis gilt jedoch: Jede Person, die sich am Standort der Scritta aufhält bzw. daran vorbeigeht, ist ein potentieller Rezipient – potentiell, da der Person freisteht den Text zu lesen. Ausgehend von diesen Bedingungen (erstens, dass sich der Standort visuell der Öffentlichkeit zugänglich ist, und zweitens, dass potentielle Rezipienten sich normalerweise am Standort des Textes aufhalten müssen, um als Rezipienten zu gelten)71 lassen sich folgende, grundlegende Überlegungen zusammenfassen:
- Nicht-autorisierte Rezipienten sind laut Adamzik jene, „die sich (illegal) Zugang zu für sie nicht vorgesehenen Texten verschaffen“ (2016, 139). Aus dieser Sicht sind Rezipienten von SM-Texten in der Terminologie Goffmans generell als ratified, also autorisiert, zu bezeichnen, da sich niemand ‘unerlaubterweise’ Zugang verschaffen muss. Ausschlaggebend für eine Interpretation, wie sie später erfolgen soll, ist hier jedoch das Moment der Adressaten: Sind die Texte für ‘alle’ zugänglich, so müssen andere Strategien gewählt werden72, um die Texte so zu ‘verschlüsseln’, dass sie nur für die intendierten oder direkt adressierten, Rezipienten Sinn ergeben bzw. zu ‘entschlüsseln’ sind.
- Wie bereits bei den Produzenten (s. o.), ist auch auf Seiten der Rezipienten ein Minimum an Anonymität zu vermuten. Angenommen der Standort ist für die Öffentlichkeit (visuell) zugänglich, befindet sich aber – was dem/den Produzenten bewusst ist – an einem gering frequentiertem geographischen Ort, wie z. B. ein Hauseingang innerhalb eines Wohnkomplexes, so wird die potentielle Rezipientengruppe stark eingeschränkt: Nur die Hausbewohner und -besucher oder maximal Personen, die sich am Hauseingang aufhalten, können die Scritta wahrnehmen und rezipieren. Anders gestaltet sich der ‘Pool’ an potentiellen Rezipienten für einen Text, der sich an einer Hauptverkehrsstraße oder in der Nähe einer Bushaltestelle befindet. Selbst für den Fall stark eingeschränkter Rezipienten-Pools ist anzunehmen, dass die Rezipienten aus Sicht der Produzenten ein Minimum an Anonymität tragen. In anderen Worten: ein Produzent der eine Scritta an einem Hauseingang anbringt, ist sich eventuell bewusst, wie viele und möglicherweise welche Personen aus- und eingehen, weil sie dort wohnen. Eventuell auch welche Besucher zu den Anwohnern kommen. Trotzdem werden sie niemals die gesamte (potentielle wie konkrete) Zahl an Rezipienten kennen.
- Die Masse an potentiellen Rezipienten (ganz gleich ob direkt adressiert oder nicht-adressiert) wird also durch die Ortswahl eingeschränkt oder erweitert. Wie man sehen wird (siehe DEFAULT), ist der Produzent bei der Wahl eingeschränkt, da er stets von der Ortsabhängigkeit (Text kann nur am Ort wahrgenommen werden) und dem potentiellen Bewegungsradius der/des (intendierten) Rezipienten(gruppe) ausgehen muss.
- Für Christine Domke, die sich in ihrer Publikation zu Textbeschriftung im öffentlichen Raum v. a. mit empraktischer Kommunikation beschäftigt (2014b), gestaltet sich die Konstellation (des konstitutiven Merkmals) der ‘Kommunikationspartner’ für verschiedene sichtbare Kommunikationsmittel als „1:n, wobei n zu einem Zeitpunkt orts- und medienbedingt eingeschränkt ist“ (2014b, 230, 245 und 266). Neben der bereits erwähnten Variabilität der Rezipienten-Gruppe und der Ortsgebundenheit, wird hier ein weiterer Punkt, der sich direkt auf die Rezipienten bezieht, erwähnt, nämlich die Medialität und Materialität der Texte. Diese wird nachfolgend in Kapitel genauer beschrieben. Mit Fokus auf den Empfänger lassen sich diesbezüglich zwei spezifische Momente für SM-Texte ableiten:
Zunächst spielt die Materialität, also ‘Wie’ der Text in Bezug auf Größe, Farbe, Anordnung im Sichtfeld der anwesenden Rezipienten usw. beschaffen ist, für die Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle. Man könnte davon ausgehen, dass je größer und auffälliger ein SM-Text beschaffen ist, desto eher zieht er die Aufmerksamkeit auf sich und wird folglich auch eher gelesen. In der Praxis müssen dabei jedoch mehr Faktoren mit einberechnet werden: bspw. die sozio-kontextuelle Einbettung des Textes oder die sozio-biographische Verfassung des (potentiellen) Rezipienten. Bestimmte Punkte, auf die ich im Kapitel zu Genre-Wissen erneut eingehen werde (sowohl Welt- als auch Erfahrungswissen sowie die Erwartungshaltung der Rezipienten zu bestimmten Texten; siehe DEFAULT), lassen der Materialität eine größere oder geringere Bedeutung zukommen. An dieser Stelle, reicht es aus allgemein davon auszugehen, dass die Materialität allgemein von Bedeutung ist, auch weil eine Gewichtung pauschal für SM nicht möglich ist – dies ist erst im Rahmen einer Interpretation bzgl. der Genre-Prototypen möglich.
Weiterhin bedingt das Merkmal der Transgressivität (DEFAULT) nicht nur Materialität, sondern ebenfalls die potentielle Zahl der Rezipienten. SM-Texte können jederzeit entfernt werden, da sie wie gesagt unautorisiert bzw. illegal sind. Dies bedeutet, dass die potentielle Gruppe der Rezipienten auch durch den Zeitfaktor eingeschränkt wird, da die Texte nicht nur vor Ort rezipiert werden können, sondern auch nur in der Zeit, in der sie visuell sichtbar sind, also noch nicht entfernt oder sonst wie unkenntlich gemacht wurden. Das auch hier der Ort und welche weiteren Faktoren (wie bspw. die Wahrscheinlichkeit für Modifikationen) von fundamentaler Bedeutung ist, soll ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit gezeigt werden.
3.1.2. Kontext (Ort/Raum, Zeit)
Man braucht keinem Sachverständigen zu beweisen, daß das wichtigste und interessanteste Umfeld eines Sprachzeichens sein Kontext ist; das Einzelne erscheint mit anderen Seinesgleichen im Verbände, und der Verband erweist sich als wirksames Umfeld.(Bühler 1982, 155)
„Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur)“, so Jakobson (Herv. im Orig; 1979, 88). Die „Orientierung auf den KONTEXT hin“ (Herv. im Orig.; 1979, 88) resultiert in der referentiellen (denotativen, kognitiven) Funktion und ist für Jakobson eine der „wesentliche[n] Leistungen vieler sprachlicher Botschaften“ (1979, 88-89). Im Aufsatz zu sozio-emotionalen Koordinationsmitteln aus Sicht der Konstruktionsgrammatik von Andreas Langlotz (2015), werden diesbezüglich zwei Probleme erkannt, welche auch an dieser Stelle eine Neuinterpretion bzw. Erweiterung des Modelles von Jakobson erfordern:
Erstens sind Jakobsons und Bühlers Modelle primär satzbezogen und abstrahieren von den kommunikativ-interaktionalen sowie den sozial-institutionellen Zusammenhängen, in welche Aussagen eingebettet sind. Zweitens beschreiben die Funktionsmodelle bloß die möglichen Funktionen von sprachlichen Zeichen, sie erklären nicht theoretisch, wieso diese Dimensionen kommunikativ notwendig sind. (Langlotz 2015, 260)
Dass die kommunikativ-interaktionalen Zusammenhänge für die Funktionalität(en) von SM-Texten eine Rolle spielen muss, wird bei der Diskussion um Typisierungsabläufe in Bezug auf Genres (siehe DEFAULT) erwähnt werden. Folglich muss das Modell von Jakobson an die vorliegende Fragestellung angepasst werden. Im Sinne von Bateman („Moving too quickly from simple to complex descriptions […] may come back to haunt us later[…].; s. o.; 2017, 78), empfiehlt es sich jedoch schrittweise die Dimension ‘Kontext’ zu beschreiben (ohne dabei in erschöpfende Diskussionen zur Begrifflichkeit abzuschweifen).
Ulrich Schmitz führt in der bereits erwähnten Arbeit zur Multimodalen Texttypologie (2016) unter den „für eine multimodale Texttypologie relevanten zehn Termini“ (2016, 331) u. a. die Dimensionen ‘Kontext’ und ‘Situation’ auf, wobei er Kontext als die „semiotische Umgebung des Textes“ deutet und exemplarisch das „gesamte Handbuch“, in welchem sein Beitrag abgedruckt wurde, nennt (2016, 332). Situation dagegen stellt für ihn die „lebensweltliche Umgebung, in deren Rahmen der jeweilige Text eine Rolle spielt“ (2016, 331), dar. Übertragen auf die Texte der SM wäre es plausibel Kontext in dieser Lesart als den konkreten geographischen Ort zu deuten, Situation dagegen als den Ort mit allen sozio-kulturellen Merkmalen, spezifischen Bedeutungen und Konnotationen. Dabei wird bereits deutlich, dass sich die beiden Größen nicht voneinander trennen lassen, zumindest nicht, wenn man auf Basis dieser Größen Funktionen interpretieren möchte. Adamzik fasst diese Tatsache, wie auch die beiden Begriffe, treffend zusammen, wenn sie in den einleitenden Sätzen zum Situativen Kontext eine Beziehung zwischen „objektiven Daten“ – zu welchen neben der Charakterisierung der Interaktionsteilnehmer eben auch zeitliche und räumliche Konstellationen gehören – und „subjektiver Situationseinschätzung“, welche jedoch „nicht systematisch aus den objektiven Daten“ herzuleiten ist, sondern einer deutenden Interpretation bedarf (2016, 114). Aus dieser Perspektive scheint es logisch objektive Daten und subjektive Deutungen von Situationen im Verbund zu betrachten, da eine solche (hier poly-dimensionale) Interpretation wie gesagt als übergeordnete Fragestellung im Zentrum dieser Arbeit steht. Auf die zentrale Bedeutung der objektiven Daten – bisher der ‘Kontext’ im weitesten Sinne – für Interpretationsprozesse verweisen auch Holly (2011) und Sandig (2000). Für Holly ist Zeichengebrauch aufgrund der „verschiedenen möglichen Zeichenmodalitäten immer von der Situation abhängig“, wobei die Gewichtung der einzelnen Merkmale alles andere als trivial ist (2011, 150). Nach Sandig erlaubt die spezifische Verwendungssituation von Texten eine Interpretation der Textfunktionen, wenn diese bspw. nicht am Text selbst erkennbar sind (vgl. 2000, 98). Auch diese beiden Sichtweisen entsprechen nicht nur den bis hier angestellten Überlegungen, sondern liefern, wie zu sehen sein wird, eine der Grundlagen für eine linguistische Analyse der Scritte Murali.
So ist zunächst festzuhalten, dass zwischen objektiven, gegebenen Daten und davon ableitbaren, subjektiven Deutungen zu unterscheiden ist. Es stellt sich nun die Frage, welche für Scritte Murali spezifischen Datentypen eine analytische Basiskategorie Kontext ergeben, um in einem späteren Schritt (DEFAULT) diesbezüglich die kommunikativen Funktionen zu interpretieren. Diese Basiskategorie wird durch die beiden Faktoren Ort und Zeit konstituiert, wobei besonders der Ort bzw. die Ortsgebundenheit der SM-Texte einer der wesentlichsten Faktoren darstellt und alle weiteren Faktoren (wechselseitig) grundlegend bedingt, wodurch der Ort schließlich zum Raum wird, wie bereits an anderer Stelle angedeutet wurde.73 Für beide Faktoren Ort und Zeit lassen sich verschiedene (objektive) Datentypen unterscheiden und es bietet sich an einige grundlegende Überlegungen zusammen zu fassen, welche für die Interpretation richtungsweisend sein werden.
Ort
Im Rahmen dieser Arbeit, beschränken sich streng genommen die rein objektiven Daten des Ortes auf die ‘Adresse’ bzw. – in noch abstrakterer Form – auf die Positionierung innerhalb der natürlichen, geographischen Daten, welche sich in Form von Längen- und Breitenkoordinaten darstellt. Dass Daten in dieser Form für die kommunikative Wirklichkeit keine Rolle spielen, versteht sich von selbst. Die Daten beschreiben Punkte innerhalb eines „konkrete[n], materielle[n] Ausschnitt[s] der Erdoberfläche“ (s. o.; Blotevogel 1995, 739), welcher wiederum durch konkrete, poly-dimensionale, geographische, sozio-kulturelle und historische Fakten und Hintergründe geprägt ist. Diese Fakten und Hintergründe sind hochkomplex, kaum als Ganzes fassbar und in bestimmten Individuen und Gruppierungen in variabler Ausprägung in Form von Weltwissen (wie auch prozeduralem und Sprachwissen) verankert. Konkretisiert bedeutet das z. B., dass eine ortsansässige Person aus dem oben erwähnten Stadtviertel Trieste in Rom (Italien) verschiedenste Informationen zu ihrem lebensweltlichen – und damit auch und besonders zum geographischen – Umfeld abrufen kann, wie z. B. welche Läden sich wo befinden, der Wohn- und Lebensort/-raum von Bekannten und Freunden, eventuell wie sich die demographische Zusammensetzung des Viertels gestaltet, welche kulturellen Besonderheiten das Viertel bietet, und vieles mehr. Aber auch auf makro-struktureller Ebene kann die Person Informationen verwenden, um sich in ihrer Lebenswelt zu bewegen und handeln: das Stadtviertel ist in einer bestimmten Gegend von Rom gelegen (was wiederum bestimmte Informationen über den sozialen Status des Viertels nach sich ziehen kann), Rom liegt in der Region Lazio und schließlich in Italien und Europa. Auch geschichtliche Hintergründe zum Ort (Trieste, Rom, Italien, Europa) spielen für bestimmte Lebensbereiche, wie z. B. für die Politik, eine Rolle und können bei den Anwohnern in verschiedenem Maße vorhanden oder sogar von großer Bedeutung sein. Selbstverständlich wäre eine erschöpfende Erfassung dieser Hintergründe im Rahmen einer (linguistischen oder sonstigen wissenschaftlichen) Analyse so gut wie unmöglich, erst recht, weil die objektiven Daten nicht in gleichem Maß allen Personen bekannt sein müssen. Trotzdem ist natürlich anzunehmen, dass zumindest für bestimmte Gruppen, die aus wenigen Individuen bis hin zu mehreren Millionen Personen bestehen können, annähernd gleiches Wissen zu den Hintergründen bzgl. bestimmter Orte vorliegt, und dass bestimmte Aspekte der Hintergründe besonders wichtig sind (siehe dazu auch die Ausführungen zu den cognitive und cultural models in Kapitel ).
Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls durch strukturelle und sozio-kulturelle Faktoren geprägt wird, ist die Tatsache, dass nicht alle Punkte (i. S. v. geographischen Daten) gleich sind. So ist zu vermuten, dass etwa ein Standort an einer Straßenkreuzung, einem Platz oder einer U-Bahn Station weitaus häufiger frequentiert wird und dies von einer heterogeneren Menschenmasse, als z. B. ein Hintereingang eines Wohnhauses in einem reinen Wohngebiet. Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, wirkt sich das auf die Menge potentieller Rezipienten, was von den Produzenten hinsichtlich der Kommunikationsansicht miteinberechnet werden muss. Ebenso kann die die Höhe der Texte als mögliche Größe innerhalb der objektiven Daten begriffen werden. Für den urbanen Kontext ist damit nicht die Höhe über dem Meeresspiegel gemeint, sondern die Anordnung, d. h. Platzierung, in Bezug auf den Blickwinkel des (gehenden/stehenden oder sitzenden) Rezipienten, wodurch die visuelle Zugänglichkeit zu- oder abnehmen kann. Dieser Aspekt betrifft jedoch in noch größerem Maße die Materialität der Texte, weshalb ich darauf im nächsten Kapitel zurückkommen möchte.
Aus diesen Beobachtungen wird v. a. zweierlei ersichtlich: Erstens wird evident, dass die ‘nackten’, objektiven Orts-Daten innerhalb der Kommunikationssituation (im Rahmen der SM) erst dann bedeutungsvoll werden, wenn sie hinsichtlich ihren komplexen mikro- und makro-strukturellen Hintergründen gedeutet werden, wie es Adamzik allgemein für den situativen Kontext beschrieben hat (s. o.). Zweitens wird bewusst in welchem Ausmaß der Faktor Kontext bzw. Ort die kommunikative Wirklichkeit der Scritte Murali mitbestimmt, da er alle anderen Dimensionen in verschiedener Ausprägung bedingt.
Ganz wesentlich ist an dieser Stelle eine klare Abgrenzung der Begriffe Ort und Raum, wie Domke allgemein für den Konnex ‘Sprache – Ort/Raum’ in sprachwissenschaftlichen Arbeiten unterstreicht (vgl. 2014b, 71). Notwendig ist dies v. a. deswegen, weil in Rahmen des Spatial Turn in den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften verschiedenste Perspektiven auf die Relationen zwischen Ort, Raum und Sprache eingenommen werden, was auch zu diversen Vorgehensweisen bei der Untersuchung von (sprachlichen) Phänomenen geführt hat. Domke unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei zentrale Merkmale, für die oft parallel betrachteten und zusammengehörigen Bereiche „Raum durch Sprache“ und „Sprache im Raum“ (2014b, 59): beim ersten Bereich stehen Sprachformen im Fokus, die auf Räume referieren, wobei diese Konzeption entweder als „sprach-(system)-immanent, ohne Bearbeitung von Gesprächs- und Kommunikationssituation oder materialisierter Sprache als raumkonstituierend“74 (2014b, 59-60) oder als in Verbindung mit verschiedenen Kontextfaktoren (dann i. S. v. „Räume durch Sprache“) verstanden werden kann, wobei Domke resümiert, dass „[ein] konkreter Einbezug realer Kommunikationsbezüge“ bei Arbeiten aus diesem Bereich75 (noch) nicht erfolgt und sich der „eingangs postulierte Einbezug des Kontextes“ auf textuelle und sprachliche Kontexte bezieht und anhand von „experimentelle[n] Settings“ durchgeführt wird (2014b, 60). Ein solcher Ansatz ist für die vorliegende, pragmatisch orientierte Arbeit, welche sich zum Ziel gesetzt hat, die Sprachfunktion(en) in und für kommunikative Räume in konkreten Kontexten zu untersuchen, weniger sinnvoll. Zum zweiten Bereich („Sprache im Raum“, s. o.) zählt Domke v. a. Arbeiten, „die im Gesamt Fragen nach dem konkret geographischen Raum der Varietäten sowie zu spezifischen sprachlichen Phänomenen und ihrem ‘Sprachraum’ untersuchen“ (2014b, 60-61).
Arbeiten, die sich speziell mit Schrifttexten im öffentlichen Raum und der Genese von Räumen durch Sprachvarietäten beschäftigt, und beide oben genannte Perspektiven gleichermaßen einnehmen können, werden oft als Linguistic Landscape bezeichnet. Den Beginn der Linguistic Landscape-Forschung als Teil der Soziolinguistik markierte der Aufsatz „Linguistic Landscape and Ethnolinguistic Vitality. An Empirical Study” von Landry und Bourhis (1997). Dieser Wissenschaftsbereich beschäftigt sich grundlegend mit verschriftlichter Mehrsprachigkeit in Form von signs im öffentlichen Raum und dabei insbesondere mit dem (politischen) Status und Zweck von Minderheitensprachen in städtischen Räumen. Empirische Grundlage ist zumeist die Dokumentation des Sprachmaterials anhand von Fotografien, welches anschließend auf die Fragestellungen hin interpretiert wird, wobei sowohl Zielsetzung als auch Vorgehensweise nicht immer einheitlich von statten geht. In den letzten Jahren rückte in verschiedenen Studien verstärkt die semiotischen Ressourcen, wie Typographie oder Farbe, in den Fokus, um ihre Teilfunktionen für die (Minderheiten-) Sprachen zu untersuchen – diese spezielle Form der Linguistic Landscape-Forschung, die Sprache normalerweise weiterhin als zentrales Moment versteht, wird auch als Semiotic Landscape bezeichnet, wobei diese Form als Fortführung der Linguistic Landscape-Ansätze gesehen werden kann, sich aber gleichzeitig von dieser abzugrenzen versucht, wie man bei der Einführung ihres Sammelbandes Semiotic Landscape bei Jaworski und Thurlow herauslesen kann:
[W]e have choosen not to call this book ‘Linguistic Landscapes’, as some of our predecessors have […], because in this collection we are keen to emphasize the way written discourse interacts with other discursive modalities: visual images, nonverbal communication, architecture and the built environment. For this reason, ‘linguistic’ is only one, albeit extremely important, element for the construction and interpretation of place.(Jaworski/Thurlow 2010, 2)
Und weiter:
However, our goal in putting together Semiotic Landscapes, alongside a number of other, recent studies of linguistic landscapes, is to move on from the predominantly surveybased, quantitative approaches […] and also to complicate some of the taken-for-granted dichotomies in favour of more nuanced, genre- and context-specific analyses of language in ‘landscape texts’ […].(Herv. im Orig. Jaworski/Thurlow 2010, 14)
Ausschlaggebend für die vorliegende Arbeit ist, dass die spezifische Ortsgebundenheit bzw. Raumgebundenheit der Texte in den Studien des Linguistic und Semiotic Landscape kaum oder nicht ausreichend berücksichtigt wird. Eine Arbeit, auf deren Ansätze ich teilweise schon eingegangen bin und auf die sich auch Jaworksi/ Thurlow (2010) – wie auch andere neuere Arbeiten der Linguistic und Semiotic Landscape-Forschung – beziehen, ist die von Scollon/ Scollon (2003), welche sich anhand des Konzepts der Geosemiotik76 mit der Situierung von Sprache in der Welt auseinandersetzt. Wenngleich die für die vorliegende Arbeit zentralen Merkmale der Materialität und „Platzierung von Kommunikaten“ (Domke 2014b, 66) in Scollon/ Scollons Arbeit endlich hervorgehoben wird und sie sich dadurch von den vielen Arbeiten der Linguistic und Semiotic Landscapes absetzt, so bemerkt Domke doch richtig, dass „die entscheidende Frage nach der Gebundenheit von Kommunikation an Orte verschenkt“ wird (2014b, 66), da der Spezifität von Ortsgebundenheit für die jeweilige Kommunikationsform nicht genügend Rechnung getragen wird (vgl. Domke 2014b, 65-66).
Die methodische Engführung der meisten Linguistic und Semiotic Landscape-Studien77 fasst Ortsgebundenheit von Text – oder allgemeiner ausgedrückt Gebundenheit von „Kommunikation an bestimmte Räume“ (Domke 2014b, 71) – bisher nicht als konstitutives und v. a. distinktes Merkmal (vgl. Domke 2014b, 71), was jedoch für die Kommunikationsform Scritte Murali zwingend erforderlich ist. So wird der Raum zur eigenständigen Analysegröße innerhalb des Kommunikationsmittels, basierend auf spezifischen Orten und (sozial-konstruierten) Kontexten, in die sie (die Orte) eingebettet sind (vgl. Domke 2014b, 72). Für die Frage, „was das für ein Typus von Kommunikation ist, der mit der Anwesenheit seiner Beteiligten oder Rezipienten an ganz bestimmten Orten des Alltags einhergeht und welche Aufgaben diese Textwelt im öffentlichen Raum erfüllt, den sie so nachhaltig ‘betexte’“ (2014b, 333), sind also die Faktoren der Kategorie Kontext von zentraler Bedeutung, was zu einer Verschiebung des postalischen Schemas nach Jakobson (siehe DEFAULT) hin zu einem triadischen Schema Produzent-Rezipient-Kontext/Ort bewirkt.
Ein Modell, das in erster Linie im Rahmen der Varietätenlinguistik entwickelt wurde, sich jedoch problemlos auf den Gegenstand der SM übertragen lässt, und dem teils unübersichtlichen Komplex ‘Sprache – Raum’ einen theoretisch fundierten und ordnenden Rahmen gibt, findet man bei Thomas Krefeld (2019). Besonders nützlich ist dabei neben der ausformulierten Terminologie zu den kommunikativ-räumlichen Instanzen, dass in dem Modell die Bedeutung der Perzeption innerhalb der Sprechsituation und für den kommunikativen Raum hervorgehoben wird, worauf ich zu einem späteren Zeitpunkt noch zurückkommen werde.
Krefeld unterscheidet für die Instanz des Sprechers eine dreifache Staffelung der kommunikativen Umgebung: Die Sprecher schaffen und erhalten den sog. kommunikativen Nahbereich, anhand der durch Sozialisation erworbenen Sprachkenntnisse. Demgegenüber steht das institutionalisierte Territorium, also von Institutionen geschaffene Gebiete, die bestimmten Ordnungen (Gesetze, Konventionen, Normen usw.) untergeordnet sind. Für diesen Bereich ist normalerweise eine bestimmte Sprachform gefordert, da sie die Kommunikation auf territorialer Ebene und mit den Institutionen garantiert – bspw. Italienisch in Italien. Entscheidend ist nun, dass eine weitere Instanz zwischen den Nahbereich und das Territorium eingeschoben wird und zwar das Areal (oder areale Zone), da die Territorialsprache in bestimmten Fällen78 „nicht unbedingt der dominanten Sprache der lokalen oder regionalen Umgebung entspricht“ (Krefeld 2019, Abschnitt 24). Ursprünglich bezogen auf Varietäten, Dialekte und Minderheitensprachen, lässt sich diese Gliederung prinzipiell auf den Bereich Scritte Murali und Ort/Raum übertragen, wenn man die Spezifität der Scritte berücksichtigt: Die objektiven Ortsdaten (s. o.) ergeben einerseits ein wesentliches, distinktes Charakteristikum der Kommunikationsform Scritte Murali – d. h., sie können nur an einem spezifischen, geographisch fixiertem Ort perzepiert werden79 – andererseits müssen diese objektiven Daten innerhalb der Modellierung der Kommunikationssituation zu letztlich subjektiv (selbst wenn dies kollektiv geschieht) interpretierten Parametern umgedeutet werden, was unter dem Begriff Raum zusammengefasst wird.
Diese Differenzierung zwischen (objektivem) Ort und (kommunikativem) Raum berücksichtigend, lassen sich die oben genannten Instanzen (Nahbereich, Areal, Territorium) auf den Gegenstandsbereich der SM übertragen. Die Spezifizität der Scritte, dass sie nur am Erstellungsort perzepiert werden können, was sich aus der besonderen Materialität der Texte ergibt (siehe DEFAULT), bewirkt eine ganz grundlegende und wechselseitige Beziehung zwischen den objektiven Ortsparametern und dem subjektiven Kommunikationsraum der Teilnehmer. Der Nahbereich ist somit nicht nur als Bereich der persönlichen, alltäglichen Kommunikation in mehr oder weniger festen bzw. regelmäßigen Netzwerken zu verstehen, sondern muss aus ‘objektiver’ Sicht als der physische Bereich begriffen werden, der sich in der Nähe des Rezipienten befindet.80 Aus physischer, also ORTSzentrierter, Sicht umfasst der Nahbereich somit Orte, an denen sich der Rezipient regelmäßig, verhältnismäßig dauerhaft und über einen längeren Zeitpunkt aufhält. Exemplarisch seien der Wohnort, die regelmäßig frequentierten Bus- oder U-Bahn-Haltestellen, Bars usw. genannt. Geographisch weiter gefasst, als der Nahbereich, sind die Areale (oder arealen Zonen), welche sich zwar weiterhin in der physischen Nähe zum Rezipienten befinden können, diese Orte aber nicht unbedingt oder regelmäßig von diesen Rezipienten frequentiert werden. Diese Areale sind letztlich das, was bisher in den Beispielen als Stadtviertel oder Gegenden bezeichnet wurde, wie das Quartiere del Tufello oder Trieste (s. o.). Das Besondere der arealen Zonen in Bezug auf die SM ist, dass sie mehr oder weniger deutlich durch die konkret vorliegenden Ortsdaten der Scritte umrissen werden können, obwohl Areale keine institutionalisierten geographische Gebiete sind, wie das bei den Territorien der Fall ist. Umgangssprachlich wird selbstverständlich auf solche Areale referiert, wenn von ‘meinem Viertel’, ‘in meiner Strasse’, ‘bei dir in der Gegend’ usw. die Rede ist. Diese Zonen können sich mit den von Obrigkeiten festgelegten, objektiven Grenzen decken, tun dies aber nur für bestimmte Bereiche und auch nur bis zu einem gewissen Grad. Im Vergleich zum Nahbereich, der stark auf den individuellen Rezipienten ausgerichtet ist, gelten die Areale für größere Personengruppen, da das Wissen über Areale (bspw. Stadtvierteln) auch interindividuell geteilt und weitergegeben wird und weniger auf den persönlich Bewegungskreis fixiert ist.
Der Unterschied zwischen Nahbereich und Areal wird deutlich, wenn man die oben gezeigten Beispiele der politischen Paolo di Nella-Scritta (Abb. 29) mit der Liebes-Scritta Deborah ti amo (Abb. 27) vergleicht. Die Liebesscritta sollte sich im Nahbereich der intendierten Rezipientin Deborah befinden, da die Kommunikation sonst nicht hergestellt werden kann.81 Dass die Scritta gleichzeitig im Nahbereich mehrerer potentieller Rezipienten liegt, ist dabei unerheblich – entscheidend ist der Nahbereich der intendierten Rezipientin. Der Produzent (hier Fabio Guida) kann auch einen Standort für die Scritta wählen, der sich in einem bestimmten Areal, zu welchem die intendierte Rezipientin Deborah in irgendeiner Weise in Verbindung steht (bspw. das Stadtviertel in dem Deborah wohnt), die Wahrscheinlichkeit, dass Deborah die Botschaft ‘erhält’ sinkt dann jedoch. Im Vergleich zu einer solchen Schrift, stehen jene wie in der Paolo di Nella-Scritta, welche an ein viel breiteres Publikum gerichtet ist und daher von den Nahbereichen einzelner Rezipienten abgekoppelt werden kann. Der Standort wird hier also nicht nach dem Nahbereich der Rezipienten gewählt, sondern basiert auf anderen Faktoren.82 Entscheidend für eine solche Scritta ist das Areal, in welcher sie sich befindet und welches durch die Standorte von weiteren Scritte derselben Kategorie (bzw. desselben Genres; siehe dazu Kapitel ) gebildet wird. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass diese Scritta einerseits eine Teilfunktion bei der Bildung eines objektiven, Ortsdaten-basierten Areals übernimmt und andererseits innerhalb dieses, dann subjektiv interpretierten, arealen Kommunikationsraumes interpretiert wird. Der Standort der Scritta ist also einer von mehreren Punkten innerhalb eines Areals, welches von den Teilnehmern aufgrund der Inhalte und weiterer Merkmale (siehe dazu DEFAULT und DEFAULT) als rechts-extremes Areal empfunden wird, was sich wiederum auf die Rezeption bzw. Interpretation allgemein auswirkt.83
Territorien, i. S. v. institutionalisierten Gebieten mit objektiven Grenzen, sind für den Untersuchungsgegenstand der Scritte Murali insofern interessant, als die Scritte meta-referenziell auf sie verweisen können, wenn bspw. auf einen Staat, die Europäische Union, Regionen oder Parks referiert wird. Außerdem interessant ist die Verbindung des Parameters Sprache (siehe DEFAULT) mit den territorialen Daten, da Scritte, die nicht in italienischer Sprache verfasst sind, sich aber im Territorium Italien befinden, diesbezüglich interpretiert werden müssen.84
Kommunikationsteilnehmer orientieren sich nicht ausschließlich an den übermittelten Informationen (siehe dazu auch Kapitel ), sondern filtern die Aussagen nach Auffälligkeiten (vgl. Krefeld 2019, Abschnitt 27). So fasst Krefeld zusammen: „Sprecher bemerken alle möglichen Besonderheiten ihrer Gesprächspartner, seien sie phonetischer, lexikalischer morpho-syntakischer [sic!] oder pragmatischer Art. Diese Auffälligkeiten rufen bestimmte Assoziationen hervor oder sind – wenn schon bekannt – fest mit solchen metasprachlichen Assoziationen verknüpft“ (2019, Abschnitt 27). Zu diesen Auffälligkeiten muss die spezifische, materialitätsbedingte Ortsgebundenheit der SM gezählt werden, da sie auf ganz besondere Weise Assoziationen hervorrufen können (siehe dazu vertiefend Kapitel ). Scritte Murali müssen demnach grundlegend nach diesen Ortsdaten bzw. den Nahbereichen und Arealen analysiert und interpretiert werden.
Ortsgebundenheit wird im Rahmen der analytischen Basiskategorien demnach verstanden als distinktes und wesentliches Merkmal der Scritte Murali. Statische, objektive Ortsdaten sind somit grundlegender Bestandteil der empirischen Analysedaten und nehmen innerhalb der Gesamtstruktur des Kommunikationsvorgangs eine zentrale Stellung ein, da sie sowohl Produktion (also Materialität, s. u.) als auch Rezeption – und folglich auch Produzenten und Rezipienten (s. o.) – zwingend an sich binden. Die kommunikative Wirklichkeit schafft dann sozio-kulturell konstruierte Räume anhand dieser Ortsdaten, wobei eben diese „Raumfragen für Sprachtexte mit nicht sprachlichen und textexternen Faktoren“ verbunden werden müssen (Domke 2014b, 70). Ortsgebundenheit erscheint dann nicht mehr als Sonderfall, sondern bestimmt das Wesen der gesamten Kommunikationsform, weshalb sie in der Form-Funktions-Analyse dementsprechend berücksichtigt wird (vgl. Domke 2014b, 72). Der Ort prägt als distinktes Merkmal die Kommunikationssituation nachhaltig, schafft Räume und bedingt sowohl Inhalt als auch Struktur der Scritte, wie Domke hinsichtlich der „Generierung von Rezeptions- und Interaktionsräumen“ (2014b, 169) u. a. zusammenfasst:
Wo beispielsweise ein Schild (ein Richtungs- oder Nichtraucherhinweis) steht, ist nicht frei wählbar; die kommunikative Praktik Schild ist verbunden mit Textsorten, deren Inhalt nicht beliebig platzierbar ist, sondern sich an spezifischen, geographischen Adressen an „Fortbewegungseinheiten“ (vgl. Goffman 1982) richtet und diese über den Standort, Notausgänge, erwartbare Einrichtungen (Toiletten, Schließfächer, historische Gebäude) zu informieren unternimmt.(Domke 2014b, 169)
Offensichtlich muss diese Bedingung perspektivisch für Scritte Murali begriffen werden, d.h. der Inhalt der Genre-Scritte – etwa politische Scritte – kann zwar theoretisch beliebig platziert werden, der Standort bedingt jedoch die Funktion der Einzelscritta und letztlich des gesamten Genres. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass eine ‘falsch’ platzierte Scritta, ihre Wirkkraft verliert, weshalb Scritte in der Praxis nicht beliebig platziert werden, sondern der Standort („spezifische, geographische Adressen“, Domke 2014b, 169), abhängig von Inhalt und Funktion, von den Produzenten gezielt ausgewählt wird, um die gewünschte Wirkung zu erreichen, etwa um Rezipienten über bestimmte Räume, Territorien usw. zu informieren (siehe dazu die Ergebnisse in Kapitel ).
Die Wahl des Platzierung an einem Ort (z. B. über Kopf, in Augenhöhe, nah/ fern, erhöht) und die damit einhergehenden Möglichkeiten des Rezipienten, das Mitgeteilte sitzend, stehend, gehend wahrnehmen zu können, beeinflusst den Komplexitätsgrad mindestens der Ausdrucksseite der Kommunikation.(Domke 2014b, 170)
Für Scritte Murali bedeutet dies, dass Größe, Form, Inhalt, Komplexität der semiotischen Ressourcen und Standort der Texte abhängig von der potentiellen bzw. erwartbaren Rezipientenzahl gezielt gewählt wird. So unterscheiden sich Scritte, die an eine große Rezipientengruppe gerichtet ist und daher z. B. an vielfrequentierten Straßenkreuzungen erstellt werden, in Inhalt und Form von Texten, die in erster Linie an einen kleineren Rezipientenkreis oder primär sogar nur an eine Person gerichtet sind. Man vergleiche etwa die Totenscritte der politischen und Ultraszene mit den kleinformatigen Scritte an den DIVERSES-Hotspots (siehe DEFAULT, DEFAULT und DEFAULT). Ob sich die Rezipienten fortbewegen, stehen oder sitzen spielt insofern eine Rolle, als z. B. eine in einem Fahrzeug sitzende und sich fortbewegende Person Scritte ganz anders wahrnehmen kann, als dies etwa bei auf einer Parkbank sitzende Jugendliche der Fall ist.
Neben Rezeptionsräumen […] und Interaktionsräumen lassen sich zudem durch Kommunikation angezeigte Handlungs- und Benutzungsräume (wie „Raucherfelder“ am Bahnsteig) ausmachen, die durch Kommunikation angezeigt werden […].(Herv. im Orig.; Domke 2014b, 172)
Die durch Scritte-Genres – man beachte bspw. die Gebiete der politischen und Ultratexte sowie die Hotspots in der DIVERSES-Gruppe (DEFAULT, DEFAULT und DEFAULT) – unterscheiden sich offensichtlich von den bei Domke etwa für Bahnhöfe genannten Handlungsräume, da es hier keine ‘offiziellen’ oder regulierenden Handlungsräume sind, sondern z. B. von ortsdominanten Gruppen geschaffene soziokulturelle Räume. Exemplarisch seien die politischen Territorien (wie z. B. Tufello, siehe DEFAULT) genannt, in welchen über spezifische politische Texte kommuniziert wird, das bestimmte Handlungen nicht toleriert werden, also z. B. rechtspolitische Demonstrationen, Veranstaltungen usw. oder das Erstellen von rechtspolitischen Scritte in linkspolitischen Territorien und umgekehrt.
Zeit
Der zeitliche Faktor ist für die Kommunikationsform SM aus zwei Perspektiven belangvoll und zwar hinsichtlich der Zeitspanne (oder –dauer) und des Zeitpunktes. Von beiden Betrachtungswinkeln aus spannen sich Beziehungen zu weiteren Kategorien und Faktoren auf.
Der Zeitpunkt der Erstellung ist in Bezug auf die sozio-biographischen Hintergründe der Kommunikationsteilnehmer mit ihren konkreten lebensweltlichen Umständen von Bedeutung. Deutlich wird dies an einem einfachen Beispiel: Nimmt man an, dass der Produzent den Text der Liebesbotschaft in Abb. 22 erstellt hat, kurz nachdem die beiden in ein engeres Verhältnis getreten sind, so ist der Gehalt der Botschaft ein anderer, als wenn der Produzent die Botschaft erstellt, kurz nachdem Giulia die Beziehung beendet hat oder sich bereits in einer anderen Beziehung befindet. Selbst wenn verschiedenste Konstellationen möglich wären und es ohne Kenntnis der Kommunikationspartner (in diesem Fall) praktisch unmöglich ist die Situation zu rekonstruieren, so wird deutlich, dass der Zeitpunkt der Erstellung für die kommunikative Wirklichkeit von nicht unerheblicher Bedeutung ist bzw. sein kann. Ebenso wie die objektiven Ortsdaten Bedeutung erst durch das in Beziehung setzen mit spezifischen Hintergründen generieren, werden aus zeitlichen ‘Rohdaten’ erst durch die Integration derselben in einen sozio-kulturellen und historischen Zeitrahmen bedeutungsvolle Parameter. Eine Verbindung des Zeitpunktes mit dem Standort zeigt sich insofern als der ‘richtige’ Zeitpunkt nur im Konnex mit dem ‘richtigen’ Standort zum gewünschten (Kommunikations-) Ziel führen kann.
Die Zeitspanne oder –dauer funktioniert auf mehreren Ebenen innerhalb der SM-Texte und zwar im Bereich der Erstellung, der Materialität und hinsichtlich der Rezipienten. Da es sich um eine transgressive Kommunikationsform handelt, wäre anzunehmen, dass die Produzenten nur begrenzt Zeit haben, um den Text zu erstellen. Kreuzer bezeichnet das als das „Gesetz der Kürze“, d. h., der Produzent muss seine Botschaft „so lapidar wie möglich ausdrücken, so stark, wie es geht, komprimieren“ (1986, 116), um bei der illegalen Aktion nicht erwischt zu werden. Dies würde auch das hohe Auftreten von Symbolen (als informations-verdichtende Zeichen) und Akronymen erklären. Ich bezweifle jedoch, dass dies der hauptsächliche Grund für die oft kurzen Texte ist, und gehe vielmehr davon aus, dass sich die Produzenten an der Rezeption der Empfänger orientieren, um möglichst viel Information in kurzer (Rezeptions-) Zeit zu übertragen (vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Frame-Semantik in Kapitel ). Weiter kann die Dauer auf das Vorhanden- oder Sichtbar-Sein des Textes – also auf die Materialität – bezogen werden. SM-Texte können nicht nur entfernt werden – man bedenke, dass sie unauthorisiert sind –, sondern ihre Sichtbarkeit ist auch durch Witterungsumstände und das Modifizieren durch andere ‘gefährdet’. Abhängig vom Zweck kann dies von größerer oder kleinerer Bedeutung für die Kommunikationssituation spielen. Zuletzt greifen zwei zeitlich bedingte Faktoren mit Blick auf den Rezipienten in die kommunikative Funktion. Einerseits ist die anzunehmende, potentielle Aufenthaltsdauer des Rezipienten in Standort-Nähe von Belang, andererseits kann die Rezeptionszeit aufgrund verschiedener Faktoren variieren. Bestimmte Orte werden nicht nur in größerem Maße frequentiert (s. o.), sondern die Verweildauer der (intendierten) Rezipienten mag an bestimmten, geographisch definierten Punkten (man denke an Bushaltestellen, Parkbänke, Plätze usw.) größer ausfallen, als an anderen Punkten, wie an Durchgangspassagen oder Schnellstraßen. Produzenten müssen dies bei der Erstellung der Texte miteinberechnen, was sich bspw. in der modalen und semiotischen Komplexität der Texte oder der Quantität von Texten an bestimmten Orten widerspiegelt. In direktem Zusammenhang mit der ortsspezifischen Verweildauer der Rezipienten steht die Rezeptionszeit. So steigt die erforderliche Rezeptionszeit mit zunehmender Komplexität (und v. a. Länge) der Texte, aber auch die Materialität, semiotische Aspekte oder die Quantität von Texten auf begrenzten Flächen hat zeitliche Auswirkungen. Bei ‘ungeschickt’ gewählten Farben, schlecht lesbaren oder zu kleinen Lettern oder der Verwendung von wenig bekannten Zeichensystemen muss der Rezipient mehr Zeit investieren, um den Text zu lesen. Befinden sich mehrere Texte innerhalb der Sehfläche, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Rezipient nicht sofort auf den Text aufmerksam wird, höher als bei isoliert stehenden oder mithilfe anderer semiotischer Ressourcen salienter auftretenden Texten. Diese etwas abstrakten Beschreibungen werden schnell deutlich, wenn man bspw. die Scritte der Abb. 22 und 29 vergleicht.
Zusammenfassend ist die analytische Basiskategorie Kontext hier als zweigliedriges Konstrukt zu verstehen, das durch die Faktoren Ort und Zeit gebildet wird, wobei angenommen wird, dass die ortsspezifischen Daten in Bezug auf die Gesamtbedeutung der Texte sinnstiftender sind, als die zeitlichen Daten. Beide Konstituenten basieren auf objektiven Daten (beim Ort die geographische Verortung anhand von Koordinaten; bei der Zeit die punktuelle und andauernde Situierung in Bezug auf ein bestimmtes Zeitsystem), wobei diese Daten an sich keine Aussagekraft tragen, sondern erst durch die subjektive Ausdeutung innerhalb der poly-dimensionalen Lebenswelt der Kommunikationsteilnehmer Sinn erhält. Diese Interpretation der Texte betrifft sowohl die kommunikative Wirklichkeit als auch die linguistische Analyse, dann als heuristisch-deutende Interpretation der kommunikativen Realitäten auf Basis multimodaler Sprachdaten (vgl. Adamzik 2016, 114). Anzumerken ist abschließend, dass der Kontext keine rein äußerliche Variable ist, die die Texte/Sprache beeinflussen, sondern dass ein wechselseitiges Verhältnis besteht.85 D. h., dass Scritte Murali ganz massiv auf den Kontext – an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten – einwirken und diesen verändern (können), wodurch in extremen Fällen ‘Szeneviertel’ wie San Lorenzo in Rom entstehen, was sich wiederum auf die Scritte auswirkt.
3.1.3. Kontakt (Medialität und Materialität)
Um „in Kommunikation zu treten und zu bleiben“ braucht es laut Jakobson einen Kontakt, im Sinne „eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung“ (1979, 88). In Anlehnung an Hollys Aussage, dass es „ohne Äußerung von Zeichen und ohne deren Wahrnehmung“ keine „Gedankenübertragung“ und schließlich „[o]hne Medialität keine Kommunikation“ gebe (2011, 144), verstehe ich die Basiskategorie Kontakt zunächst i. S. eines physischen Kanals, welcher der Herstellung (und Wahrung) der Kommunikation zwischen den Teilnehmern dient (s. o.). Somit bezieht sich die Kategorie auf die in Kapitel beschriebenen Konstituenten Technik und Träger, wobei festgehalten wurde, dass die technischen Aspekte die möglichen Verfahren (auf- und abtragend sowie verdrängend) und die damit verbundenen prozeduralen Abläufe umfassen, der Träger dagegen v. a. dadurch beschrieben werden kann, dass er aus einem festen oder starren Material, welches sich „an einem öffentlichen Standort“ befinden muss (s. o.; DEFAULT). Implizit wurde bereits in diesen grundlegenden Beobachtungen auf die Schlüsselfaktoren für die Kategorie Kontakt verwiesen, welche ich nachfolgend etwas systematischer fassen und genauer beschreiben möchte.
Wenn im alltäglichen Sprachgebrauch Mediales und daran anknüpfend Materialität thematisiert wird und zwar im Bereich der „Sortierausdrücke für kommunikative Ereignisse“86 (Holly 2011, 144), so hat sich die „Sprachwissenschaft […] – besonders in ihrer medialitätsvergessenen Traditionslinie – mit dem Medialen und entsprechend auch mit den Typologien des Medialen durchaus schwer getan und sich damit bisher, wenn überhaupt, dann nur ein bisschen und manchmal auch ein bisschen hilflos beschäftigt“ (Holly 2011, 145). Holly begründet dies v. a. mit der Komplexität des Begriffes Medialität (vgl. 2011, 145). Nichtsdestotrotz tut es Not die Begriffe im Kontext der Kommunikationsform SM zu klären, um interpretieren zu können, welchen Beitrag diese Kategorie (Kontakt) zur Funktionalität der SM leistet (oder leisten kann). Dass es gerade die Verbindung der situationalen (also aus der Basiskategorie Kontext, wie im vorherigen Kapitel beschrieben) mit medial-materiellen Aspekten ist, welche die Distinktheit der Parameter einer Kategorie Kontakt für die SM zeigt, soll nachfolgend verdeutlicht werden. Voraussetzung ist dafür, dass die Begriffe Medialität, Medium und Material für den Kontext der vorliegenden Arbeit genauer abgegrenzt werden, um anschließend das Beziehungsgeflecht in seinen Grundzügen skizzieren zu können, wobei es an dieser Stelle nicht darum geht, zwanghaft die verschiedenen technischen Verfahren und Träger-Optionen den Begriffen zu zuordnen. Anstelle einer deduktiven Typologisierung, ist ein induktives Vorgehen zweckmäßiger, weil dabei „die situationalen und medialen Aspekte“ fokussiert werden (vgl. Holly 2011, 147).
Holly stellt unter Verweis auf die Heterogenität des Verständnisses des Medienbegriffes fest:
Natürlich muss man aber bei allen kommunikativen medialen Phänomenen gerade die Sinngenese als ihren eigentlichen Zweck ansehen. Deshalb geht Medialität auch nicht in Materialität auf. Die Idee der Medialität von Kommunikation besagt allerdings, dass aufgrund der anthropologischen Verfasstheit, die Sinn an Sinne knüpft, Bedeutungen – also Sinn – nicht ohne die Bindung an Materiales entstehen können. Das gilt schon für die kleinsten Sinneinheiten, die Zeichen.(Holly 2011, 149)
Die Medialität der Sprache (bzw. allgemein der Zeichen) als Kommunikationsvehikel ist also untrennbar mit einer gewissen Materialität verbunden (vgl. Holly 2011, 149) oder anders formuliert: „Die Medialität von Zeichen meint eben, dass Materiales zu etwas Sinnhaftem geformt werden kann, und zwar im interaktiven Gebrauch“ (2011, 149-150), wobei, wie Holly bemerkt, besonders den technischen Strukturen und Möglichkeiten Beachtung geschenkt wurde, obwohl es auch „schon die Anordnung der interagierenden Personen im Raum [sein kann], ihre mehr oder weniger gemeinsame Fokussierung, dann auch die Hinzuziehung einfacher technischer Hilfsmittel, die solche strukturellen Arrangements ausmachen, die man dann Kommunikationsformen nennen kann“ (Herv. im Orig.; 2011, 150). Medialität ist also die Möglichkeit Material so zu formen, dass es innerhalb einer Kommunikationssituation Sinn ergibt bzw. Sinn generiert, wobei Material
nicht nur die physikalischen Substrate des Wahrgenommenen [sind], sondern auch die menschlichen Organe der Zeichenproduktion und Wahrnehmung und die technischen Medien, die der Herstellung, Verbreitung, Übermittlung und Rezeption von Zeichen dienen, ganz zu schweigen von deren institutionellen Ausprägungen.(Holly 2011, 144)
Ulrich Schmitz beschreibt in seinen bereits erwähnten zehn relevanten Termini (für eine multimodale Texttypologie; s. o.) die Begriffe Medium und Material in recht prägnanter Form. Demnach ist Material „der Werkstoff, der zu Zeichen geformt wird oder sie trägt (z. B. Tinte oder Pixel bzw. Papier und Glas)“, Medium dagegen „ein technisches Hilfsmittel der Kommunikation (z. B. ein Kugelschreiber oder ein Smartphone)“ (Schmitz 2016, 333). In Bezug auf die Scritte Murali könnten (technische) auftragende Erstellungsverfahren entweder als Material (bspw. die Farbsubstanzen der Spraydosen oder Filzstifte) oder Medium (ein Sticker oder ein Tazebao, auf welches anhand von Farben – die wiederum als Materialien gelten würden – Texte erstellt werden) gewertet werden. Eine genaue Ausdifferenzierung würde ein recht komplexes Bild ergeben. Das Material wäre z. B. beim Scratching gleichzeitig der Träger, da „der Werkstoff, der zu Zeichen geformt wird“ (s. o.) mit dem Träger (z. B. Plexiglasscheibe) identisch ist.
Auf der grundlegenden Annahme, dass es sich bei dem Medium Sprache um ein „originäres Aussagensystem mit spezifischen Funktionen“87 und nicht um nur „eine unter anderen Möglichkeiten der Verpackung von Aussagen“ handelt (Spitzmüller/Warnke 2011, 183), grenzen Spitzmüller und Warnke die Begriffe Medium und Medialität voneinander ab. Das Medium Sprache kann in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten und wird somit also „selbst wiederum medialisiert“ (2011, 183). Medialität grenzt sich dann laut Spitzmüller und Warnke von Medium insofern ab, als ein Medium „tatsächlich ganz eingeschränkt nicht mehr und nicht weniger als ein Hilfsmittel zur Herstellung, Übertragung, Versinnlichung oder Speicherung von Zeichen“ darstellt, während Medialität „auch Wahrnehmung von und Erwartungen an bestimmte Formen der Vermitteltheit (>Medialitätserwartungen<) umfasst“ (2011, 184). Die Autoren sprechen an dieser Stelle zwar nicht explizit von Material, aber das Konzept erscheint hier dennoch, da die Zeichen offensichtlich ‘aus etwas’ hergestellt oder ‘in etwas’ gespeichert (oder eben „geformt“, wie Holly und Schmitz es nennen; s. o.) werden müssen. Der maßgebende Bezug zum Kontext (bzw. Situation) mit gleichzeitiger Verbindung zum Materiellen, wie er bei Holly betont wird, ist auch für Spitzmüller u Warnke bei der Beschreibung des Terminus Medialität entscheidend. Der Begriff umfasst für die Autoren neben den Medien „auch“ Wahrnehmungsprozesse und Erwartungshaltungen (s. o.), welche – ausgehend von den angestellten Überlegungen zum Kontext im vorigen Kapitel und den Typisierungsleistungen im Bereich der Genres (siehe DEFAULT) – nicht nur in situationale Kontexte eingebettet sind, sondern durch sie dezisiv geprägt werden.
Die Basiskategorie Kontakt umfasst demnach medial-materielle Aspekte, in dem Sinne, dass Material anhand von Medien zu Zeichen geformt wird, um in einem situativen Kontext Sinn zu schaffen, was zusammenfassend als Medialität bezeichnet wird. Generell sind die Zeichen zwingend an Materielles gebunden und erfahren Bedeutung erst in Verbindung mit kontextuellen Faktoren. Konkret auf die Erscheinungsformen der Scritte Murali bezogen, kann Material, abhängig vom Erstellungsverfahren (den technischen Hilfsmitteln, also den Medien), in verschiedensten Formen88 auftreten und sich in bestimmten Fällen auch auf den Träger (bei abtragenden oder verdrängenden Verfahren) beziehen. Als Medium können, ebenfalls in Abhängigkeit der Verfahren, unterschiedliche Arten erscheinen, von Spraydosen und Filzstiften, über Tazebaos und Sticker (welche dann weiter auszudifferenzieren wären), bis hin zu Gegenständen zum Kratzen. Die in Kapitel beschriebene Festigkeit und Starrheit lässt sich zum einen nur auf das ‘Endprodukt’ – also den fertig erstellten Text – beziehen und gilt zum anderen nur unter der Voraussetzung, dass man die Verbindung von Zeichen und Träger als existenzbedingendes Moment beachtet (gibt es kein Zeichen mehr, so gibt es auch keinen Text mehr). Damit komme ich zur eigentlichen Besonderheit der medial-materiellen Aspekte von Scritte Murali, welche sich nur in Verbindung mit anderen Basiskategorien erklären lässt und von weitaus größerer analytischer Relevanz ist, als die Organisiertheit der Materialien und Medien zu untersuchen.
Karl Bühler beschreibt in seinem Klassiker Sprachtheorie von 1934 Verwendungsfälle von „kontextfreie[n] Namen“, die „dingfest angeheftet“ sind und schlägt den Begriff „symphysisch“ vor (1982, 159).89 Erst diese symphysische Verbindung von Zeichen und Träger ermöglicht die Existenz einer Scritta, v. a. aber hat sie eine der zentralsten Spezifitäten der SM zur Folge. In Kapitel wurde dargestellt, welche zentrale Bedeutung die Faktoren Zeit und v. a. Ort für die gesamte Kommunikationsform SM innehaben. Sind die Texte symphysisch mit ihrem Träger verbunden, befindet sich dieser Träger an einem ganz bestimmten Ort und lässt diesen zu einem Raum werden, so lässt sich daraus schließen, dass die Kategorie Kontakt (alles Medial-Materielle) untrennbar an die Kategorie Kontext (mit all ihren Konstituenten) gebunden ist, was wiederum die Ortsgebundenheit als spezifisches, distinktes Merkmal der Kommunikationsform unterstreicht. Die Verbundenheit der Kategorien betont die Bedeutung des (subjektiv) interpretierten Kontextes und – in Bezug auf die Kategorie Kontakt – stellt die Medialität (Sinngenese in der Kommunikationssituation, s. o.) ins Zentrum des Interesses.
Domke betont die Spezifität eines solchen Typus von Kommunikation, der durch Ortsgebundenheit und medial-materielle Aspekte geprägt ist (vgl. 2014b, 164), und beschreibt am Beispiel von „In- und Aufschriften an einzelnen Gebäuden“ (2014b, 218) die Wirkung der Verbindungen:
Durch symphysische Kommunikate wie diese werden bestimmte Gebäude einer Stadt kommunikativ zum Bestandteil eines Kulturraumes, der dadurch immer wieder als solcher und somit als Teil des kommunikativen Gedächtnisses […] wahrnehmbar und lesbar […] wird.(Domke 2014b, 218)
Was hier für „bestimmte Gebäude“ gilt, lässt sich für die Scritte Murali auf den Trägern allgemein übertragen. SM-Texte werden somit durch die symphysische Verbindung zum Träger Teil von Kulturräumen. Die Nähe von SM-Texten zu Inschriften im oben genannten Sinn wird hier deutlich. Laut Domke sind die Texte außerdem „immer in Relation zu setzen zu der Zeitgebundenheit der Kommunikation; je zeitungebundener etwas von vielen öffentlich wahrnehmbar sein soll, desto widerstandsfähiger oder robuster muss das Material (das Schild z. B.) sein, das als Kommunikationsmedium oder Trägermedium dient“ (2014b, 168). Die Beschaffenheit des Materials wird also in Beziehung zu zeitlichen Faktoren, wie sie in Kapitel beschrieben wurden, gesetzt. Für Scritte Murali gestaltet sich die Situation etwas anders als für die empraktischen Texte (wie Schilder, Anzeigetafeln usw.), die Domke untersucht (vgl. 2014b). Wie bereits erwähnt, sind Scritte transgressiv und können jederzeit entfernt werden – dies gilt für Schilder, deren Anbringung von offizieller Seite reguliert, genehmigt und/oder beauftragt wurde, nicht (bspw. Auskunftsschilder an Bahnhöfen oder Flughäfen). Die Erstellung möglichst robuster und witterungsbeständiger Materialien für SM-Texte verliert dadurch offensichtlich ihren Reiz und scheint weniger praktikabel. Außerdem müssen Produzenten von SM-Texten mit dem Material (im Sinne von Trägern) arbeiten, dass ihnen der öffentliche Raum bietet.
An dieser Stelle möchte ich kurz auf Reduplikationen von Scritte Murali eingehen. Die Scritte-Texte können bspw. mündlich oder per Fotografie weitergegeben werden. Dann jedoch handelt es sich streng genommen nicht mehr um Scritte Murali, sondern maximal um Ähnlichkeitsabbildungen derselben, wobei die Ähnlichkeit zum Original variabel ist. Entscheidend für den Ähnlichkeitsgrad ist dabei, wieviel vom ursprünglichen Kontext mitüberliefert wird. Ausgangspunkt ist dafür, dass dieser physikalische Kanal (also das konkrete Erstellen/Anbringen von Texten auf konkreten Oberflächen, die sich an konkreten Standorten befinden) eine der Grundvoraussetzung für diese Kommunikationsform ist, da kein Text existiert, wenn er nicht erstellt wurde. So trivial diese Feststellung ist, so muss man doch bedenken, dass Texte, die typischerweise in einer anderen Kommunikationsform daherkommen, auch in alternativen Formen realisiert werden können (also der physikalische Kanal geändert werden kann), ohne dass die zu übermittelnde Botschaft in ihrer Existenz geändert werden würde. So kann ein wissenschaftlicher Artikel sowohl in auf Papier gedruckter Version in Buchform als auch in digitalisierter Form (z. B. als PDF Datei) erscheinen, wobei die Botschaft an sich nicht geändert würde. Ganz anders schaut das bei Texten der Scritte Murali aus, da diese erst durch die Verbindung von Kontakt und Kontext zu ihrer Existenz gelangen und sollte diese Verbindung nur ikonisch (bspw. als Foto) abgebildet werde, würde für einen Großteil der Texte ein nicht unerheblicher Teil der Botschaft verloren gehen. Deswegen werden in solchen Fällen die kontextuellen Umstände rekonstruiert. Je nachdem wer, wem, wozu und auf welche Art und Weise von einer Scritta berichtet, müssen bestimmte Details des Kontextes (eventuell auch schon subjektiv interpretiert) rekonstruiert und mit geliefert werden.90
Neben der ‘Verweildauer’ und der damit zusammenhängenden potentiellen Rezeptionszeit, werden die SM-Texte ferner durch die Erstellungsdauer bedingt. Je komplexer und länger der Text ist, desto mehr Zeit wird für die Erstellung benötigt, was aufgrund der transgressiven Natur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen kann. Ebenso kann die Planungsphase die medial-materiellen Aspekte mitbestimmen: ein möglicher Pol wäre die Situation, dass der Produzent zufälligerweise ein Schreibwerkzeug oder Medium (z. B. Filzstift oder Sticker) zur Hand hat und einen Text erstellt. Demgegenüber stehen komplexe, mit großem Aufwand geplante und realisierte Texte (siehe z. B. die Paolo di Nella-Scritta in Abb. 29). Zwischen den beiden Polen sind verschiedenste Abstufungen möglich. Der Planungsgrad, die Erstellungsdauer und die dabei verwendeten Materialen und Medien bedingen die Verweildauer, die Rezeptionszeit und die potentiell zu erreichenden Rezipientengruppe in der Folge nachhaltig. Welche Rolle die Beschaffenheit des Trägermaterials spielt, wird in den folgenden Kapiteln gezeigt werden. Vorwegzunehmen sei, dass das Medium (Wahl der Farbsubstanzen, Größe der Scritte usw.) dabei sicherlich von größerer Bedeutung ist und zwar aus genau dem Grund, dass die Trägerressourcen begrenzt sind und die Produzenten stets damit rechnen müssen, dass die Texte (von Menschen) entfernt werden. Ob es tatsächlich Ziel ist, möglichst zeitungebundene Texte zu erstellen und welche alternativen Strategien genutzt werden, wäre eine der möglichen Interpretationsfragen.
Die medial-materiellen Aspekte bewirken neben der Ortsabhängigkeit eine weitere, ganz grundlegende Spezifität der Scritte Murali, wobei Material und Medium (besonders Träger und Erstellungsverfahren) von zentraler Bedeutung sind. Bateman (2017) nimmt in seiner umfangreichen Arbeit zur Multimodalität die Voraussetzungen für Kommunikationssituationen genauestens unter die Lupe und nennt dabei drei notwendige Bedingungen, damit „communicative situations“ entstehen können:
1. we must know (or assume) some particular range of material regularities that are to be considered to be carrying semiotic activity;
2. this knowledge must be shared (possibly unequally) among a community of users, and
3. a scheme for deriving interpretations from the material regularities identified must also be shared.(Bateman u.a. 2017, 86)
Übertragen auf die Kommunikationsform der Scritte Murali bedeutet dies, dass die Träger der Texte erst durch die Veränderung (also das Beschriften) auffällig werden. Die Träger (Wände, Handgeländer usw.) an sich ‘bedeuten’ noch nichts für die Kommunikationssituation, sondern tragen erst zur Gesamtbotschaft bei, sobald ihre „material regularities“ (s. o.) verändert werden bzw. erst dann, wenn es eine Nutzergemeinschaft gibt, die erstens Wissen über diese materiellen Regularitäten teilt und zweitens Modifikationen derselben als kommunikative Intention interpretiert. Oder anders ausgedrückt: die Wände eines Stadtviertels, ein Hauseingang, der Gehweg usw. werden erst dann ‘auffällig’ für eine Kommunikationssituation, wenn ihr ‘Normalzustand’ auf bestimmte Art und Weise präpariert wird und sowohl Normalzustand als auch Änderung von Gesellschaftsgruppen als solche erkannt werden. Die Gruppe von „possible bearers of meaningful regularities“ nennt Bateman canvas: “This is to be understood as anything where we can inscribe material regularities that may then be perceived and taken up in interpretation, regardless of whether actual, virtual (digital), simply produced, performed physically in time, or the result of a complex technological process“ (2017, 87). Das Spezifische an SM ist nun, dass der Canvas – also der Träger im weitesten Sinne – grundsätzlich nicht für die Texte vorgesehen ist, weshalb wir sie als transgressiv beschrieben haben. Zur „community of users“ (s. o.) zählen nun natürlich sowohl Rezipienten als auch Produzenten, woraus folgt, dass die Produzenten offensichtlich ganz bewusst das geteilte Wissen über Zustände der Canvas nutzen und folglich diese Kommunikationsform absichtlich wählen, um bereits durch die Praktik etwas zu kommunizieren und zwar dass sie sich über gesellschaftliche Normen und Gesetze hinwegsetzen. Wie ich bereits vorher bemerkt habe, ist dies meiner Meinung nach jedoch nicht die Hauptbotschaft, sondern gibt ihnen eher eine Art konnotative ‘Färbung’. Dies geschieht erst durch das Anbringen von Zeichen auf dem Träger:
To make a mark or trace a single line on a surface immediately transforms that surface, energizes its neutrality; the graphic imposition turns the actual flatness of the ground into virtual space, translates its material reality into the fiction of the imagination.(Rosand 2002, 1)
Die in Kapitel bereits angesprochene Spezifität von SM als indexikalische Zeichen i. S. von Peirces Zeichentypen ist folglich in der Basiskategorie Kontakt zu verorten. Jede Scritta kommuniziert als Index und stellt eine indexikalische Inbesitznahme des Trägers und damit von Teilen der Kulturräume dar. SM-Texte stellen in dieser Hinsicht eher In- als Anschriften dar, also eine Art von Epigrafie, wodurch sie neben der dokumentarischen, vermittelnden Seite (in Bezug auf die Inhalte) auch Monumente darstellen, welche „oft nicht sprachlicher Natur sind oder insgeheim etwas anderes sagen, als sie sagen“ (Foucault 1981, 15).91 Dieses monumentale Moment der Scritte entsteht durch die technisch-prozeduralen Abläufe durch den Produzenten und kann ebenso wie das Wissen über die Canvas nur unter Miteinbeziehung von geteiltem Wissen einer Gemeinschaft zu diesen Prozessen sowie der Einbettung in einen konkreten Situationskontext interpretiert werden, wobei letzterer auch gerade durch die indexikalische Handlung mitgeprägt wird. Die medial-materiellen Aspekte und ihre symphysische Anbindung an Orte schaffen unter Deutung der prozeduralen Abläufe und der kontextuellen Bedingungen also bestimmte Räume. Keines der Elemente aus den Kategorien Kontakt und Kontext kann dabei für sich Bedeutung schaffen, sondern erst im Verbund kommt es zur (grundsätzlichen) Sinnstiftung in dieser Kommunikationsform: Produzenten bringen Zeichen auf Flächen zu einem bestimmten Zeitpunkt, für eine bestimmte Dauer und an einem bestimmten Ort an, wobei sie sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft bewusst sind, dass die Flächen dafür nicht vorgesehen sind und dies auch von den Rezipienten so gedeutet wird, weshalb bereits ein Minimum an Kommunikationsintention abgeleitet werden kann. Weder Ort oder Zeit, noch Träger oder Medium kommunizieren für sich selber das, was durch eine erstellte Scritta kommuniziert wird.
3.1.4. Kode (Semiotische Ressourcen)
Die vierte Basiskategorie hinsichtlich welcher die Scritte Murali auf ihre kommunikative Funktionalität analysiert und interpretiert werden kann, ist der Kode. Dieser muss laut Jakobson ganz oder zumindest teilweise den Teilnehmern bekannt sein (s. o.), wovon sich direkt ableiten lässt, dass der Produzent (auch „Kodierer“ bei Jakobson; 1979, 88) durch die bewusste Verwendung von bestimmten Kodes oder Zeichen die (potentielle) Empfängergruppe einschränken kann. Mit Kode werden hier die verschiedenen semiotischen Ressourcen bezeichnet, die innerhalb der Texte verwendet werden (können). Ich möchte an dieser Stelle auf die texttypologischen Betrachtungen der SM in Kapitel verweisen. Für SM generell wurden sprachliche Zeichen als mindestens dominantes Zeichensystem beschrieben. Gleichzeitig müssen andere Zeichensysteme wie z. B. Farben, aber auch die Anordnung und Kombination der einzelnen Zeichensysteme beachtet werden. Welche semiotischen Zeichensets konkret Verwendung finden, wird in den nachfolgenden Kapiteln auf Basis der Korpusdaten ausgelesen und anschließend auf ihre kommunikative Teilhabe hin interpretiert.
Die Verbindung mit der Kategorie Kontext ist besonders in der Hinsicht interessant, dass bestimmte, nicht-sprachliche semiotische Systeme – genannt seien hier exemplarisch die Farben – aufgrund ihrer spezifischen semantischen und pragmatischen Potentiale auf ganz bestimmte Weise Funktionen übernehmen können, welche nicht oder nur schlecht durch sprachliche Zeichen übernommen werden können. In Kapitel habe ich darauf mit Verweis auf Ansätze aus der Multimodalitätsforschung bereits hingewiesen. So haben bspw. Farben im Vergleich zu sprachlichen Zeichen das Potential Konnotationen zu übermitteln. So kann sich die Botschaft einer Scritta, wie in Abb. 26 ändern, würde sie in roter anstatt (himmel-) blauer Farbe geschrieben werden, da Blau und Weiß die traditionellen Vereinsfarben des S.S. Lazio (und damit auch seiner Ultras) sind, Rot und Gelb dagegen von A.S. Rom (und seinen Ultras). SM-Texte sind Teile von Kulturräumen und ihren Bewohnern, da sie diese prägen und von ihnen geprägt werden (siehe DEFAULT und DEFAULT). Die Bedeutung der Übermittlung von konnotativen Inhalten in diesem Zusammenhang sollte ohne weitere Erklärung klar sein und wird durch die oben erläuterte Charakteristik der Transgressivität von SM-Texten und der bewussten Wahl dieser Kommunikationsform weiter verstärkt. Wenn man davon ausgeht, dass SM als transgressive Kommunikationsform gewählt werden, um die Rezipienten (zumindest minimal) auf emotionaler Ebene anzusprechen, dann bekommen semiotische Ressourcen mit hohem (oder höherem) konnotativem Potenzial eine zunehmend größere Rolle zugeschrieben. Auch zeitliche Faktoren stehen in wechselseitiger Verbindung mit kodalen Eigenschaften, immer unter Einbeziehung der Kommunikationspartner. So kann sich die Erstellungsdauer auf die Verwendung und Komplexität der Zeichensysteme auswirken, da die Zeit, die den Produzenten bei der Erstellung zur Verfügung steht, stark begrenzt ist, weil es sich um eine illegale Aktivität handelt. Es wäre also möglich, dass verkürzenden Verfahren und Zeichen, die Informationen auf welche Weise auch immer verdichtend darstellen, häufig verwendet werden bzw. ganz allgemein von Bedeutung sind. Dazu gehört natürlich auch die Wahl von Schlagwörtern, die rekurrent verwendet werden und bestimmte Inhalte zusammenfassend veräußern. In Bezug auf die zeitliche Dimension muss außerdem beachtet werden, dass die Verweildauer der Rezipienten und damit einhergehend die Aufmerksamkeit und Bereitschaft Texte zu lesen u. a. durch den Standort beeinflusst wird. Produzenten müssen das berücksichtigen und können dies neben der Wahl des Standortes und der Positionierung der Scritta im Sichtfeld der Rezipienten (siehe DEFAULT) auch durch die Wahl bestimmter semiotischer Ressourcen, wie z. B. besonders ‘auffällige’ Farben, steuern.
3.1.5. Mitteilung – paradigmatische und syntagmatische Merkmale
Die letzte Analysekategorie bezieht sich auf die Jakobsonsche Komponente ‘Mitteilung’. Von Jakobsons Beschreibung „Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG“ (Herv. im Orig.; 1979, 88) ausgehend, stellt sich die grundlegende, aber auch irreführende Frage ‘Was wird mitgeteilt?’. Steht bei dieser Arbeit die Analyse der Kommunikationsfunktionen der Scritte Murali im Vordergrund, so läge es nahe diese Kategorie als die zentrale zu sehen. Wie bereits angedeutet wurde, kann dieses ‘Was?’ nicht anhand einer Kategorie allein analysiert bzw. interpretiert werden, sondern nur auf Basis der multimodalen und polydimensionalen Faktoren. Bateman bemerkt in diesem Zusammenhang zu den vielen Kommunikationsmodellen folgendes:
There are many models in the literature from various disciplines that say things about ‘communication’ – but these have rarely been constructed with the demands of multimodality already taken into consideration.(2017, 76)
Und speziell zur Vorstellung ‘Jemand sendet jemand anderem eine Botschaft’ als theoretische Grundlage von Kommunikation:
This sender-message-receiver view, often called the ‘postal model’, is still quite commonplace in many theories of how communication works, despite equally common criticisms. The postal model can be quite misleading if it is used to describe situations that lie outside its scope. What, for example, is the ‘message’ of a Hollywood film, a website, a computer game or an entire face-to-face conversation? Talking of a ‘message’ in such circumstances often distorts the questions that one asks and, worse, the answers that one gets.(Herv. SL; 2017, 77)
Diese ‘postalische’ Vorstellung von Kommunikation würde eben auch zur Frage führen ‘Was ist die Botschaft, die der Sender anhand einer Scritta an einen Empfänger sendet?’, wobei die Antwort ebenso schwierig zu beantworten wäre, wie Batemans Beispiele zur Botschaft von Hollywood Filmen oder Webseiten.
Niklas Luhmann erscheint diese „Übertragungsmetapher“ (Sender-Mitteilung-Empfänger) als problematisch (vgl. 1984, 194), wobei der Soziologe für den Kommunikationsvorgang (im Sinne von gemeinschaftlichem Handeln) zwischen drei Selektionen – Mitteilung, Information und Verstehen – unterscheidet, die als triadische Einheit Kommunikation entstehen lässt (vgl. Luhmann 1984, 203). Ohne genauer auf die Ausführungen Luhmanns eingehen zu wollen, ist festzuhalten, dass diese Vorstellung von Kommunikation hilfreich für das Verständnis der Kommunikationsfunktionalität von Scritte Murali ist und auch den bisherigen Ausführungen entspricht. Generell wird von den Produzenten bewusst diese (Kommunikations-) Form (dieses „Verhalten“) selegiert, um bestimmte Informationen (das, was konkret verschriftlicht wird) zu kommunizieren. Das Verstehen wiederum bezieht sich sowohl auf das Verständnis der Mitteilungsform bzw. des Mitteilungsverhaltens als auch über die dargestellte Information (vgl. Luhmann 1984, 195-200). Dass dabei Typisierungsprozesse der Kommunikationsteilnehmer in Bezug auf die Sprache, aber auch auf das (transgressive) Verhalten im Verbund mit kontextuellen, v. a. ortsspezifischen, Faktoren eine grundlegende Rolle spielen, wurde bereits ausgeführt.
Um für eine Basiskategorie ‘Mitteilung’ zu analysierende Merkmale festzuhalten, muss also zwischen der ‘Mitteilung’ (oder ‘Nachricht’) und der ‘Information’ von Scritte Murali unterschieden werden. Die ‘Nachricht’ oder die Botschaft wäre dann die Funktion von Scritte, interpretiert anhand der verschiedenen Faktoren und Kategorien, wie siehe in den obigen Kapiteln beschrieben wurden. ‘Information’ dagegen muss auf Textebene, also das, was konkret geschrieben/gemalt wurde, verortet werden.
Jakobson bezeichnet die „Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ (1960: 92) als poetische Funktion und erklärt „das empirische linguistische Kriterium der poetischen Funktion“ mit der Projektion des „Prinzip[s] der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (1979, 94), also die Projektion der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse. Bekanntlich basieren Jakobsons Funktion auf Dominanzverhältnissen und für ihn ist die zentrale Funktion die poetische (vgl. Jakobson 1979 und Auer 2013, 39). Wie bereits bei den anderen Basiskategorien geschehen, ist es auch hier nötig diese Kategorie in Hinblick auf die Scritte Murali zu deuten und gegebenenfalls zu erweitern. Wir gehen dabei, wie gesagt, von Mitteilung im Sinne von verschriftlichter Information aus, d. h. Zeichen, die direkt ablesbar sind und bestimmte Informationen innerhalb der Gesamtnachricht übermitteln (sollen).
Adamzik verknüpft die Frage nach dem ‘Was?’ eines Textes mit dem Thema und Inhalt desselben und erklärt dies damit, „dass man sie [Thema und Inhalt] großenteils unmittelbar am Sprachmaterial ablesen kann; denn die Lexeme geben sozusagen schon die Kategorien vor“ (2016, 207). Im Kontext der SM ist die unmittelbare Sichtbarkeit des Sprachmaterials sicherlich nicht von geringer Bedeutung, da wir bereits erläutert haben, dass die Produzenten meist unbekannt sind und die Empfänger Informationen zur Kommunikationssituation anhand anderer Merkmale ableiten müssen. Informationen zum Produzenten in anderen Kommunikationssituationen, wie Gruppen-Chats, Podiumsdiskussionen oder auch Zeitungsartikeln, geben dem Empfänger meist schon einen bestimmten Rahmen vor, um was es sich bei den übermittelten Informationen und der Gesamtnachricht handeln könnte. Anders sieht das bei den SM aus, wodurch das direkt ablesbare Sprachmaterial von noch zentralerer Bedeutung ist. Nun ist die Frage nach dem Thema eines Textes keine einfache, was sich auch in der Fachliteratur wiederspiegelt, in der nicht nur Thementypologien wenig verbreitet sind, sondern auch, wie Adamzik treffend bemerkt, „die Frage nach der Definition des Analysebegriffs Thema […] meist im Hintergrund bleibt, man mehr oder weniger offen das ,Alltagsverständnis‘ des Ausdrucks zugrunde legt und dieses auch nicht weiter erläutert“ (2016, 208).
Als zentrales Merkmal von Texten nennt auch Barbara Sandig das ‘Thema’, das von den Rezipienten anhand von Kohärenzeigenschaften in Hinblick auf die Textfunktion erarbeitet wird (vgl. 2000, 98 und 108). Interessant bei Sandigs Ausführungen ist v. a. das prototypische Verständnis von Textthemen (vgl. 2000, 98-99). Die Autorin bezieht sich dabei zum Großteil auf die ausführliche Arbeit zu Text und Thema von Andreas Lötscher (1987), auf welche sich auch Adamzik (2016) an mehreren Stellen bezieht. Neben der eingehenden Gegenüberstellung verschiedener Ansätze innerhalb der Diskussion um eine Begriffsdefinition von Thema92, beschreibt Lötscher in seiner allgemeinen Definition das Thema eines Textes als „ein in irgendeiner Beziehung mangelhaftes Objekt, dessen Mangel in der Behandlung in diesem Text beseitigt werden soll“ (1987, 84). Wobei solche „mangelhafte Objekte“ völlig unterschiedlich konkretisiert werden können und die Begriffe Mangel und Objekt „möglichst weit gehalten werden sollten“ (Lötscher 1987, 99-100). Für Lötscher sind Kohärenz und Kohäsion für eine Konstruktion des Textthemas nicht zwingend notwendig (vgl. 1987, 13 und Sandig 2000, 98) und v. a. müssen Texte nicht unbedingt Themen haben, sondern „[d]as Thema kann in vielen Fällen als solches ‘unsichtbar’ sein, weil es nicht als solches verbalisiert ist“ (1987, 112). Der Text muss als Ganzes und besonders hinsichtlich seines Handlungscharakters, der „problemtheoretischen Voraussetzungen“ (Lötscher 1987, 111) und bei themenlosen Texten eben auch die Intentionen des Textes verstanden werden (vgl. Lötscher 1987, 111). Diese Lesart verknüpft das Textthema mit der oben skizzierten Unterscheidung Luhmanns zwischen Nachricht und Information. Das Textthema ist dann Teil der Information (eventuell die Kerninformation des Textes) und spielt eine größere oder kleinere Rolle bei der Sinnstiftung der Gesamtnachricht. Handelt es sich um einen themenlosen Text, so muss der Sinn der Nachricht anhand anderer Faktoren (bspw. kontextuelle Merkmale) rekonstruiert werden. Das Merkmal ‘Thema’ ist dabei graduell zu verstehen, d. h., prototypisch wäre für Texte (ganz allgemein) eine Fokussierung auf ein Thema, periphere Mitglieder eines solchen Prototypen sind schließlich als themenlose Texte zu verstehen (vgl. Sandig 2000, 98). Als Beispiele solcher themenloser Texte nennt Lötscher dominant emotive oder poetische Texte, wie sie von Jakobson beschrieben wurden (vgl. 1987, 114) – so z. B. Grußäußerungen oder Äußerungen wie pfui. Demgegenüber stehen dann die „themabezogenen Texte […], die ding- und sachverhaltsbezogen sind, die ‘auf die Außenwelt hin’ orientiert sind, die nicht zur Gestaltung von Beziehungen, einer kommunikativen Verbindung dienen“ (Lötscher 1987, 112).
Wie im Analyseteil zu sehen sein wird, wird ein nicht geringer Teil der Scritte von wenigen Token (zehn oder weniger) gebildet – wobei Token neben Wörtern auch bildgraphische Zeichen umfassen können – wie in Abb. 31 exemplarisch dargestellt.
Welchen Zweck hätte es ein Textthema für eine solche Scritta zu erfassen, wenn dies überhaupt möglich ist? Die kontextuellen Hintergründe und v. a. die Intentionen müssen bei einer solchen Scritta zwingendermaßen mit berücksichtigt werden, möchten wir die Funktion eines solchen Textes interpretieren. Aber eben auch hinsichtlich der Themafrage, wie Lötscher richtig bemerkt (s. o.). Dem Text bspw. ein Thema ‘Verfall des Stadtviertels’ zu geben, kann nur in Verbindung mit außersprachlichen Daten (wie Zeit und v. a. Ort) geschehen und selbst dann, wäre dies ein Schritt in Richtung der Interpretation der Gesamtnachricht (nicht Information), jedoch keine ausreichende Auseinandersetzung mit den sprachlichen (oder graphischen) Zeichen und ihrer (Teil-) Funktion. Nicht durch Zufall kombinieren die Produzenten der Scritte die Zeichen auf diese Art und Weise, wie ich später zeigen werde. So stellt sich nun die Frage, anhand welcher Theorie ich diese paradigmatischen und syntagmatischen Merkmale am besten beschreiben und ihre Teilhabe an der Gesamtfunktionalität erklären kann.
Als besonders nutzbringend scheinen mir die Ansätze aus der Frame-Semantik, die in den Arbeiten des amerikanischen Linguisten Charles Fillmore in den 1970er Jahren ihren Ursprung findet und seitdem in verschiedensten Bereichen der Sprachwissenschaft diskutiert und verbreitet wurde.93 Aus den vielen Erkenntnissen der Frame-Forschung sind an dieser Stelle besonders die folgenden von großem Interesse.94 Ausgangspunkt ist folgende Definition von Frames, wie sie Alexander Ziem beschreibt:
Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die sprachliche Ausdrücke beim Sprachverstehen evozieren, die also Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer aus ihrem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu erfassen.(Ziem 2008, 2)
Abhängig vom jeweiligen Kognitionsmodell95 lassen sich dann Frames für verschiedene Ansätze nutzen. Von zentraler Bedeutung ist, dass Frames – nach der Ansicht Fillmores – sowohl die oben beschriebenen Wissenstrukturen darstellen als auch geeignete Analyseinstrumente für linguistische Untersuchungen sind (vgl. Ziem 2008, 441). Der Vorteil der Frame-Theorie liegt v. a. in ihrer nicht-reduktionistischen Ausrichtung, sprich, dass die methodischen Prämissen idealerweise zu einer ausreichenden Erfassung „verstehensrelevanter Bedeutungsaspekte“ führt (Ziem 2008, 3; vgl. auch Busse 2012). Für die vorliegende Arbeit eignet sich besonders ein holistisches Grundmodell, da dieses bei den Verstehensprozessen von sprachlichen Ausdrücken das relevante Kontextwissen der Sprach(zeichen)benutzer miteinbezieht. Welt- und Sprachwissen kann also nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden (vgl. Ziem 2008) und um Sprachzeichen verstehen zu können, müssen die Benutzer
Situationen mit allen Sinnen wahrnehmen und sprachliche Ausdrücke mit allen möglichen Objekten [ihrer] sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen […] können. Genauso wichtig ist das Vermögen, sich affektiv auf sprachliche Äußerungen beziehen sowie Erfahrungen einbringen zu können, die unmittelbar mit unserer leiblichen Verfasstheit (in anatomischer, physiologischer, neurologischer und ontogenetischer Hinsicht) zusammenhängen.(Ziem 2008, 443)
Hilfreich sind hier auch Erkenntnisse aus der psycholinguistischen Inferenzforschung, da empirische Befunde zeigen, dass dieses (kontextuelle) Hintergrundwissen der Benutzer eine – wenn nicht die – entscheidende Bezugsgröße beim Interpretieren von sprachlichen Ausdrücken ist (vgl. Ziem 2008, 443). Inferenzen betreffen „die globale Textkohärenz (Intentionen des Autors, thematische Bezüge usw.) sowie situative Faktoren (wie Personen-, Zeit-, Ortsdeixis)“ (Ziem 2008, 444). Wie gut sich ein solcher Ansatz mit den bisherigen Ausführungen zur Kommunikationsform Scritte Murali in Verbindung bringen lässt, muss an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Um zu verstehen, wie Scritte Murali funktionieren, müssen Faktoren wie Ort und Zeit, aber auch prozedurales Wissen über die transgressive Kommunikationsform mit sprachlichem Wissen in Verbindung gebracht werden, um die Bedeutung der (teils speziellen) Form der sprachlichen Zeichen kontextuell deuten zu können.
In Verbindung mit Ansätzen aus der Konstruktionsgrammatik (wie z. B. von Langacker) lassen sich über die Inferenztheorie der Psycholinguistik auch die (Bedeutungs-) Konstitution von sprachlichen Zeichen erklären, wie dies Ziem (2008) ebenfalls aufgezeigt hat. Einerseits evozieren sprachlichen Zeichen Frames (d. h., rufen sie auf), andererseits werden über die Kombination von sprachlichen Zeichen (oder Frames) neue kognitive Prozesse angestoßen, da bestimmte Werte neu interpretiert werden (vgl. Ziem 2008, 445). Solche Ansätze sind nicht nur für einen Einzeltext einer Scritta, wie in Abb. 31 zu sehen, interessant, sondern auch für Scritte, die hochfrequent in bestimmten Gebieten angebracht werden, und wenige Frames abrufen, wie z. B. in Abb. 32.
Es geht in dieser Basiskategorie also weniger darum den Einzeltexten Themen zu extrahieren, sondern die Sprachzeichen, welche Frames evozieren und/oder abrufen, anhand der kontextuellen Hintergründe (DEFAULT) zu deuten und zwar – auf Jakobson zurückgreifend – mit Blick auf paradigmatische und syntagmatische Merkmale. Zu klären wäre bspw., welche Zeichen verwendet werden, in welcher Kombination und Frequenz sie auftreten und wie diese Zeichenverwendung in Abhängigkeit der anderen Basiskategorien zu interpretieren sind. Trotzdem treten natürlich auch ‘themenlose’ Scritte auf, d. h. Scritte bei denen die evozierten Frames zunächst nur schwerlich interpretiert werden können. Hier sind die Wissensbestände zu kontextuellem Hintergrundwissen von weitaus größerer Bedeutung (vgl. dazu die Aussagen von Lötscher, s. o.), als das sprachliche Wissen, möchte man solche Scritte interpretieren. Weiterhin muss klar zwischen Textthema (bzw. -inhalt) und der Nachricht i. S. v. Textfunktion unterschieden werden, wobei letzteres (Textfunktion) hier als zentrale Analysekategorie verstanden werden muss, auf welche alle anderen Kategorien hin betrachtet werden.
3.1.6. Zusammenfassung der Basiskategorien
Abschließend möchte ich die vorangegangenen Überlegungen zu den analytischen Basiskategorien zusammenfassen.
Die Rezipienten – aus deren ‘Sicht’ ich die Kommunikationsform zu analysieren versuche – finden folgende Grundsituation vor: augenscheinlich hat ‘jemand’ ‘etwas’ anhand bestimmter semiotischer Ressourcen, an einem bestimmten Ort, mithilfe bestimmter Mittel erstellt, um etwas zu übermitteln und der Rezipient gehört eventuell zu den intendierten Empfängern. Die einzelnen Parameter, die bei der Interpretation der Gesamtbotschaft nötig sind, mögen auf den ersten Blick völlig willkürlich und äußerst heterogen erscheinen (man vergleiche die bisher gezeigten Beispiele). Um diese scheinbar chaotische und willkürliche Kommunikationsform erfassen und letztendlich verstehen zu können, habe ich auf Basis von Jakobsons Kommunikationsmodell und seinen –funktionen, Basiskategorien beschrieben, die nicht nur als ordnende Analyseinstrumente dienen, sondern bereits distinkte (mit Blick auf andere Kommunikationsformen) Wesensmerkmale der Scritte Murali hervorgebracht haben. Mich an diesen Analysekategorien orientierend, werde ich in einem nächsten Schritt ein Modell entwickeln, welches erlaubt die Funktionalität von Scritte Murali-Texten zu interpretieren. Fünf Basiskategorien96 sind für die Rekonstruktion der Kommunikationssituation von SM relevant: KommunikationsteilnehmerJAK (Produzent/en und Rezipient/en), KontextJAK (zeitliche und ortsgebundene Faktoren), KontaktJAK (medial-materielle Aspekte), KodeJAK (semiotische Elemente) und MitteilungJAK (Information in paradigmatischer und syntagmatischer Anordnung sowie die Nachricht oder Gesamtbotschaft als Textfunktion).
KommunikationsteilnehmerJAK – Produzent/en
Von komplett anonymisiert bis hin zu explizit ausgewiesene Individuen oder Gruppierungen, sind graduell alle Konstellationen denkbar. Nichtsdestotrotz ist ein Minimum an Anonymität in Bezug auf den/die Produzenten für die SM wesentlich, wobei das illegale Moment der Scritte sicherlich eine Rolle spielt. Eine Unterscheidung nach Goffmans animator, author und principal mag für einen Teil der Scritte möglich sein, jedoch stellt sich die Frage, ob Rezipienten wirklich nach diesen Kriterien unterscheiden oder es letztendlich darum geht, wer hinter einer Scritta steht, sprich, welches Individuum oder welche Gruppierung vermutlich als Sender verstanden werden kann. Dies ist für die Kommunikationssituation nicht unerheblich, da die Entscheidung, ob diese oder jene Scritta oder Scritte ganz allgemein für den Rezipienten relevant oder interessant sind und somit gelesen werden, hängt auch von einer solchen Einschätzung (‘Wer steckt hinter diesem Text?’) ab. Rezipienten müssen (potentielle) Produzenten(gruppen) anhand verschiedener, textueller und kontextueller Hinweise identifizieren. Die Produzenten sind sich dieser Typisierungsprozess bewusst und somit können sie, in Abhängigkeit von ihrem Kommunikationsziel, gezielt den Grad der Anonymität steuern. Fest steht, dass sich aufgrund der medial-materiellen Verbindung zum Ort der Produzent immer in seinen Text einschreibt und die Scritte indexikalisch auf den oder die Produzenten verweisen.
KommunikationsteilnehmerJAK – Rezipient/en
Grundsätzlich ist zwischen potentiellen und intendierten Rezipienten(gruppen) zu unterscheiden. Befinden sich die Scritte auch in der visuell zugänglichen Öffentlichkeit, so ist noch lange nicht jede Scritte für die allgemeine Öffentlichkeit gedacht.97 Zwei Faktoren aus der Kategorie Kontext steuern und begrenzen dabei grundlegend sowohl was die mögliche Rezipientenanzahl als auch den/die intendierten Rezipienten/-gruppen angeht: die Zeit und der Ort. Scritte sind transgressiv und können jederzeit entfernt werden und selbst wenn dies nicht geschieht, sind sie der Witterung ausgesetzt und daher für die Rezipienten nur über bestimmte Zeiträume sichtbar. Wichtiger noch als die zeitgebundene Rezipierbarkeit ist jedoch die Ortsgebundenheit. Obwohl Scritte Murali potentiell den Massen (der Öffentlichkeit) zugänglich sind und die Rezipientenanzahl also theoretisch nicht eingeschränkt ist, handelt es sich nicht um Massenkommunikation. Laut Niklas Luhmann werden Massenmedien durch technische Hilfsmittel zur Vervielfältigung der Allgemeinheit zugänglich gemacht, z. B. Filme oder Disketten (vgl. 1996, 10-11). Durch die Ortsgebundenheit werden die Rezeptionsräume und damit einhergehend die Rezipientanzahl deutlich eingeschränkt und zwar sowohl zu einem bestimmten Zeitpunkt (Wie viele Personen können gleichzeitig den Scritta-Text rezipieren?) als auch über eine bestimmte Zeitspanne (Wie viele Personen können den Scritta-Text über eine bestimmte Dauer hinweg rezipieren?). Daraus wird schon deutlich, dass auch die kodalen Merkmale (also die Verwendung bestimmter semiotischer Ressourcen) und die medial-materielle Geprägtheit (Größe, Anbringungsort, Witterungsbeständigkeit) produzentenseitig mit berücksichtigt werden müssen, wenn die potentielle Rezipientenzahl erhöht bzw. eingeschränkt werden soll. Die Relation für Massenkommunikation 1:n wird folglich für Zeitpunkt und –dauer durch medial-materielle Aspekte und die Ortsgebundenheit eingeschränkt (vgl. Domke 2014b, 164).
KontextJAK
Grundlegend ist für die Basiskategorie KontextJAK festzuhalten, dass zwischen objektiven Daten und den darauf basierenden subjektiven Interpretationen durch die Kommunikationsteilnehmer zu unterscheiden ist. Dadurch entsteht das, was Adamzik als situativen Kontext bezeichnet (vgl. 2016, 114). Die zwei entscheidenden Faktoren für diese Kategorie sind die Zeit und der Ort.
KontextJAK – Ort
Die objektiven Daten wären in diesem Fall eine lokalisierbare Adresse, i. S. v. geographischen Daten, welche durch die Teilnehmer mithilfe ihres Hintergrundwissens in unterschiedlichen Bereichen subjektiv interpretiert werden und den objektiven Standort des Textes (und damit den Text an sich) in einem subjektiv wahrgenommenen kulturellen Raum verorten und darin interpretieren. Dies geschieht sowohl auf mikro- als auch auf makro-strukturellen Ebenen und ist ein höchst komplexer Vorgang, bei dem nicht nur kulturelle, sondern auch sozio-biographische Hintergründe der Teilnehmer von Bedeutung sind. Wie bereits bei den Rezipienten erwähnt, ist die Ortsgebundenheit eines der distinkten Parameter diese Kommunikationsform: Die Teilnehmer (sowohl Produzent als auch Rezipient) müssen sich unweigerlich an einem bestimmten Ort befinden, damit die Kommunikation vollzogen werden kann (Domke 2014b, 174).98 Diese Tatsache wird von den Teilnehmern bei der Erstellung und Rezeption mit berücksichtigt. Die Zentralität des Ortes wird außerdem erkennbar, wenn man bedenkt, dass er neben den Teilnehmern auch die medial-materiellen Aspekte und dadurch schließlich auch die Kategorien KodeJAK und MitteilungJAK an sich bindet.99 Für eine Analyse der Kommunikationsfunktionen nehmen die objektiven Ortsdaten daher eine zentrale Stellung ein, da sie für die Interpretation der Kommunikationsräume und folglich der –funktionen als Grundlage dienen. Anders formuliert bedeutet dies, dass eine Interpretation der Gesamtbotschaft nicht möglich ist, wenn man den Standort der Texte und seine Deutung innerhalb eines spezifischen Kulturraumes vernachlässigt oder sogar völlig ignoriert.
KontextJAK – Zeit
Bezüglich der zeitlichen Aspekte von SM ist vor allem die Zeitdauer von Interesse und zwar hinsichtlich dreierlei Dimensionen: der Erstellung, der Materialität und der Rezipienten. Durch den transgressiven Charakter der Scritte wäre anzunehmen, dass die Produzenten nur wenig Zeit haben, die Texte zu erstellen, wollen sie nicht von Gesetzeshütern dabei erwischt werden. Dies wurde in verschiedenen Schriften auch als Gesetz der Kürze bezeichnet und könnte eine Erklärung für die hohe Frequenz an kurzen Texten sein. Ob dem wirklich so ist, oder ob es andere Erklärungen dafür geben kann, wäre anschließend zu klären. Die zeitliche Überdauerung der Scritte Murali ist neben der Möglichkeit entfernt zu werden (sowohl durch Reinigung, um den Ursprungszustand des Trägers wieder herzustellen als auch durch das Modifizieren von anderen Produzenten), auch davon abhängig, wie witterungsbeständig die Scritte sind.100 Gleichwohl bedeutend ist eine Interpretation des Zeitfaktor bezogen auf die Rezipienten und zwar in der Hinsicht, als die (potentielle) Verweildauer der (potentiellen) Rezipienten an bestimmten Orten höher sein wird, als an anderen Orten, wodurch möglicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass Scritte gelesen werden, erhöht wird. Aber auch semiotische Aspekte (Farbwahl, informationsverdichtende Zeichen usw.), die Größe der Scritte und die lokale Quantität von Scritte auf einem Träger haben zeitliche Konsequenzen, da z. B. bei zu vielen, zu langen oder schlecht lesbaren Texten, die benötigte Rezeptionszeit steigt.
KontaktJAK – Materialität und Medialität
Die Basiskategorie ist zunächst im Sinne eines physischen Kanals zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikation zu verstehen und bezieht sich demnach auf die verwendeten Materialien und Medien. Das bedeutet, dass Material mithilfe verschiedener Medien (technische Hilfsmittel) zu Zeichen geformt wird, um in situativen Kontexten Bedeutung zu generieren (hier als Medialität bezeichnet). Die Träger – nach Bateman als canvas benannt, s. o. – werden dabei ‘zweckentfremdet’ und durch das Anbringen der Scritte kommt es zu einer symphysischen Verbindung von Träger und Scritta, wodurch die Scritte nicht nur untrennbar an spezifische Orte gebunden sind und das distinkte Parameter der Ortsgebundenheit hervorgehoben wird, sondern den Scritte Murali einen monumentalen Charakter zukommen lässt. Interpretiert auf dem Hintergrund bestimmter Kontexte durch die Teilnehmer, lässt die medial-materielle Spezifität dieser Kommunikationsform die SM Teil von Kulturräumen werden, welche wiederum rückwirkend die Interpretation der Texte selber beeinflussen kann.
Generell sind die Kategorien KontextJAK und KontaktJAK untrennbar im Verbund zu sehen und zwar zunächst auf ganz existenzielle, wesentliche Weise. Nur die Verbindung von Material mit ortsgebundenen Trägern anhand von Medien, lässt eine unikale Scritta existieren und nur an diesem spezifischen Ort. Diese Verbindung muss auch bei der Interpretation und Analyse als Grundvoraussetzung betrachtet werden.
KodeJAK – semiotische Ressourcen
Unter die Kategorie des KodeJAK fallen die semiotischen Ressourcen, die vom Produzenten mithilfe der eben beschriebenen Medien und Materialien verwendet werden können. Dazu gehören neben dem dominanten Zeichensystem der Schriftsprache auch Zeichensets wie Farben oder bildgraphische Zeichen, z. B. Piktogramme oder politische Symbole. Die Zeichensets können dabei verschiedene Teilfunktionen übernehmen: schriftliche Sprachzeichen z. B. eignen sich aufgrund ihrer kombinatorischen Flexibilität, wie an anderer Stelle bereits beschrieben (siehe DEFAULT), besonders für die Darstellung von Narrationen, Explikationen und Argumentationen, Farben dagegen offerieren die Möglichkeit konnotative Teilbotschaften zu übermitteln oder die Salienz der Scritta zu erhöhen101 und informationsverdichtende Zeichen bieten mit Hinblick auf die zeitlichen Faktoren (Rezeptionszeit usw.) entscheidende Vorteile. Entscheidend ist auch für diese Kategorie das Wissen der Teilnehmer über die einzelnen Zeichensysteme und ebenso das Bewusstsein über dieses Wissen. So kann der Produzent bspw. mit dem Bewusstsein über die Erwartungshaltung und das Hintergrundwissen der potentiellen Rezipienten gezielt die semiotischen Ressourcen wählen und kombinieren, um Hinweise auf sich selber und damit letztlich auf die Gesamtbotschaft zu liefern oder auch nicht, wobei die situativ-kontextuellen Parameter (v. a. der Ort bzw. Raum) als Interpretationsgrundlage nicht vergessen werden dürfen.
MitteilungJAK – Information und Nachricht
Die Kategorie wird hier verstanden als übermittelte ‘Information’ und den paradigmatischen und syntagmatischen Merkmalen der Scritte. Damit sind auf Selektionsebene weniger die dokumentarisch vermittelten Inhalte und Themen der einzelnen Texte gemeint, sondern die durch (Sprach-) Zeichen evozierten und abgerufenen Frames, die den Rezipienten bei den Kategorisierungs- und Verstehensprozessen der Gesamtbotschaft helfen und Hinweise auf den Produzenten liefern können. Damit in Verbund müssen die kombinatorischen Merkmale untersucht werden, wie z. B. die Wortanzahl der Scritte, die darin verwendeten Wortarten oder das Vorkommen von Kollokationen oder Mehrworteinheiten. Die Verwendung von Ansätzen aus der Frame-Forschung empfiehlt sich für den hier im Zentrum stehenden Untersuchungsgegenstand besonders, aufgrund der nicht-reduktionistischen und holistischen Ausrichtung, die Sprach- mit Weltwissen gleichermaßen in Verbindung bringt und von empirischen Studien der psycholinguistischen Inferenzforschung profitiert. So können sowohl Merkmale der globalen Textkohärenz als auch situativ-kontextuelle Hinweise aus dieser Perspektive zusammengeführt werden, wodurch auch ‘themenlose’ oder ‘themenarme’ Scritte auf ihre Funktionalität hin gedeutet werden können. Führt man Ansätze der Frame-Semantik mit Erkenntnissen der Inferenztheorie und der Konstruktionsgrammatik zusammen, so lassen sich bspw. syntaktische Auffälligkeiten erklären, die in anderen Ansätze nur dürftig erklärbar wären.
Ebenso zählt neben der Information zu dieser Kategorie die Nachricht i. S. v. Textfunktion, also die Gesamtbotschaft der Scritta, welche in dieser Arbeit als zentrale Fragestellung für die SM interpretiert werden soll.
4. Multimodales Analyse-Modell
Die Auslegung der Kategorien von Jakobsons Modell hinsichtlich der Scritte Murali als Kommunikationsform, war ein vorbereitender Schritt, um anhand der Empirie die Kommunikationsfunktionen und –strategien analysieren zu können. Es stellt sich nun die Frage nach einem analytischen Zugang zu den SM-Texten. Ausgangssituation ist dabei, dass das vorliegende Sprachmaterial aus Fotografien von Scritte in bestimmten Gebieten besteht.102 Der Zugang zur Kommunikationsform geschieht also aus heuristischer und schließlich interpretierender Perspektive – ähnlich wie dies auch in der kommunikativen Wirklichkeit der Fall ist, d. h., anonyme Produzenten erstellen Texte, die von anonymen Betrachtern rezipiert werden (können). Aus Sicht der Rezipienten werde ich dann die Funktionalitäten rekonstruieren, ich werde also genau das (versuchen zu) tun, was allgemein die Betrachter der Scritte Murali versuchen zu tun – ich möchte verstehen, wer hinter der Botschaft steht, was die Botschaft ist, wozu diese Scritte erstellt wurden usw. Dies kann in Bezug auf bspw. die Produzenten oder das Hintergrundwissen der Rezipienten offensichtlich nur hypothesenhaft geschehen. Für ein Analyse-Instrument sind demnach Ansätze sinnvoll, die sowohl mit den bisherigen formalen Aspekten kompatibel sind als auch auf dem Hintergrund der analytischen Basiskategorien Sinn ergeben. Idealerweise muss ein solches Analyse-Modell all jene Hinweisquellen erfassen, anhand deren die Rezipienten die eben genannten Fragen – und somit letztendlich die Funktionalität der SM – beantworten können.
Ich habe Scritte Murali als multimodale Texte beschrieben (s. o.) und dies führt zur weiteren Annahme, dass ihre „musterhafte Inhalts- und Handlungsstruktur sowie Verwendungsweisen der Modalitäten typisierten Gebrauchssituationen entspringen und bestimmte kommunikative Funktionen erlauben“ (Stöckl 2016, 20). Scritte werden also in Hinblick auf bestimmte Typen erstellt und verstanden. Sie sind dabei abhängig von ihrer medial-materiellen Beschaffenheit, wobei die Kommunikationsfunktionen nicht festgelegt sind (vgl. Brinker u.a. 2018, 142). Zentral für einen analytischen Zugang zu den Texten ist, „dass Produzenten wie Rezipienten ein klares Bewusstsein davon benötigen, welchen Typ oder welche Sorte Text sie gestalten bzw. verstehen“ (Stöckl 2016, 20). Das bedeutet, wie Stöckl festhält, dass Textproduzenten und –empfänger „sicher gehen [müssen], dass ein multimodaler Text so beschaffen ist, dass er als Exemplar eines Typs oder einer Sorte erkannt und gedeutet wird“ (2016, 20).
Typisiertheit und Musterhaftigkeit in Abhängigkeit von situationell-kontextuellen, inhaltlichen, medialen oder funktionalen Aspekten, werden in Ansätzen behandelt, die sich mit ‘Texttypen’ oder ‘Textsorten’ sowie ‘Genres’ beschäftigen (vgl. Stöckl 2016, 20). Textsorten oder Genres werden in diesem Kontext als komplexe Kommunikations-Phänomene verstanden, die „aufgrund kommunikativer Bedürfnisse entstanden sind“ (Brinker u.a. 2018, 133), wobei dann die Einzeltexte/einzelnen Scritte Exemplare einer Textsorte darstellen (vgl. Brinker u.a. 2018, 133). Eine für diese Arbeit zweckmäßige Lesart des Begriffs Genre findet man im Bereich der Rhetorical Genre Studies, welche Genres als sozio-kognitive Kategorien fassen (vgl. Bawarshi/Reiff 2010, 78). Carolyn Miller beschreibt diese Kategorie folgendermaßen:
Genre refers to a conventional category of discourse based in large-scale typification of rhetorical action; as action, it acquires meaning from situation and from the social context in which that situation arose.(Miller 1984, 163)
Konventionalität, Typisierungsaspekte sowie situationelle und soziale Kontexte sind demnach wesentliche Faktoren für Genres. Bawarshi und Reiff, die Genres zusammenfassend „as typified ways of acting within recurrent situations, and as cultural artifacts that can tell us things about how a particular culture configures situations and ways of acting“ (2010, 78) beschreiben, vertiefen diese Annahmen, indem sie an die Ideen von Miller anknüpfen und sich auf Aussagen von Berkenkotter und Huckin (1993) beziehen (vgl. 2010, 78-80): Genres sind Rhetorik-Formen, die Handlungen und Praktiken normalisieren, indem sie Gemeinschaftsmitglieder befähigen an diesen Handlungen und Praktiken teilzunehmen und zwar „in fairly predictable, familiar ways in order to get things done“ (Bawarshi/Reiff 2010, 79).103 Trotz ihrer Konventionalität und Vorhersehbarkeit („fairly predictable“) sind es gleichzeitig dynamische Formen, weil sie an Nutzungsbedingungen gebunden sind, die sich ständig verändern können. Genres müssen sich an diese Veränderungen der Nutzungsbedingungen anpassen, wenn sie nicht obsolet werden wollen. Weiter müssen Genres fähig sein, sich an Variation anzupassen, nicht nur wegen möglicher Veränderungen im Bereich der Nutzungskonditionen, sondern auch, weil sie auf die „individually formed inclinations and dispositions“ (Bawarshi/Reiff 2010, 79) der Nutzer reagieren müssen, d. h. auf das, was Pierre Bourdieu als Habitus bezeichnet. Um zweckgerecht zu funktionieren, oszillieren Genres also zwischen Stabilität und Veränderung, dynamisiert durch sozial geschaffenem und geteiltem Weltwissen und individuell geformtem Wissen der Aktanten. Bawarshi und Reiff deuten Genres schließlich im Sinne der Situated Cognition, wonach das Genre-Wissen in enger Verbindung mit prozeduralem Wissen steht, da „how we think and how we know are related to one another“ (2010, 79). Auf Basis von prozeduralem sowie Hintergrundwissen (sowohl „content knowledge“ (2010, 80) als auch geteiltem Wissen) können die Akteure nicht nur an der Kommunikation teilnehmen, sondern auch an den Normen, Ideologien, sozialen Ontologien usw. einer Gemeinschaft/sozialen Gruppe (vgl. 2010, 80).104
Die Idee der sozio-kognitiven Sinnstiftung verfolgt auch Stine Lomborg, die Genres als „socio-cognitive devices for sense-making in everyday life“ begreift (2014, 45). Für Lomborg funktionieren Genres auf drei Ebenen (vgl. 2014 und Stöckl 2016, 21): aus pragmatischer Perspektive, da sie musterhafte Sequenzen kommunikativer Handlungen repräsentieren, auf kognitiver Ebene, weil sie musterhaft konfigurierte Wissensbestände darstellen und schließlich erscheinen sie in sozialer Hinsicht als semiotische Einheiten, die situationell und kontextuell variabel realisiert werden können. Dabei wird ein, für diese Arbeit essentieller, Punkt akzentuiert und zwar die Musterhaftigkeit, wobei sich die Aktanten an „normative orientations within a social situation“ (Lomborg 2014, 46) halten, die Realisierungen der Einzeltexte aber trotzdem variabel und individuell gestaltet werden können. Musterhaftigkeit oder Prototypikalität scheint also ein entscheidendes Moment zu sein.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei Genres um strukturierte Komplexe handelt, in dem Sinne, dass die Einzeltexte als Typ-Exemplare eines Genres auftreten, wie ich dies bereits mit Brinker (s. o.) angedeutet habe (vgl. Schulze 2018, 168). Dabei haben Genres an sich keine Bedeutung, sondern generieren diese bspw. aus der Textoberfläche der (Einzel-) Texte, den Handlungen und ihrer Teilnehmer sowie der Situation und den kontextuellen Umständen (vgl. Schulze 2018, 170).
Aufgrund ihrer Komplexität, können Textsorten oder Genres nach verschiedenen Dimensionen gruppiert werden, abhängig vom Forschungsziel, aber auch rein intuitiv, wie Stöckl bemerkt – man denke etwa an die verschiedenen Bezeichnungen für (multimodale) Texte: „z. B. Live-Ticker (Situation), Expertenrunde (Kontext), Kochshow (Inhalt), Radio-Interview (Medium), Infografik (Funktion/Modalitat)“ (2016, 20). Genres werden also mit unterschiedlichen globalen Konzepten verbunden (vgl. Schulze 2018, 170). Welche Dimensionen müssen nun berücksichtigt werden? Stöckl nennt folgende (flexibel spezifizierbaren) Grunddimensionen (2016, 22): Situation und Kontext, (funktionale) Handlung und Form (in Bezug auf Struktur, Gestaltung, Formulierung usw.). Auch Schmitz bemerkt, dass die Wahl der Dimensionen abhängig ist von „Zweck und Erkenntnissinteresse“ und außer Textfunktion und Themenspezifik auch Verwendungsdomäne, Medium, Material oder weiteres umfassen kann (2016, 338-339). Laut Muntigl werden „Genres nicht nur von der Phonologie und Graphematik, der Grammatik und Semantik konstruiert […], sondern auch von einer Reihe multi-modaler (visueller) Ressourcen“ (2011, 333). Es ist also plausibel, die Dimensionen so zu wählen, dass deutlich wird, „wie Genres als multi-modaler Prozess entstehen“ (Muntigl 2011, 333). Nach welcher Dimension die Genres der Scritte Murali gruppiert werden und welche Rolle das Konzept der Prototypikalität einnimmt, möchte ich in den nachfolgenden Kapiteln diskutieren.
4.1. Theoretische Grundlagen der Genre-Prototypen
Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen die Konzepte ‘Prototypikalität’ und ‘Genre’, wie sie im Kontext dieser Arbeit verstanden und verwendet werden, klar definiert werden, da sie den Rahmen für das Analyse-Tool geben.105
Wie oben erwähnt, definiere ich Scritte Murali als transgressive, visuell wahrnehmbare und medial bedingte Kommunikationsform im öffentlichen Raum, die in Form von klar abgegrenzten, multimodalen Texten erscheint, wobei Schriftsprache typischerweise als dominantes Zeichensystem auftritt. Die Einzeltexte oder Einzel-Scritte verbinden sich unter verschiedenen Gesichtspunkten zu Genres. Basierend auf den Ausführungen zu Beginn des Kapitels , verstehe ich Genres hier als komplexe, semiotische Textphänomene, die auf Basis von Wissensbeständen über typisierte Aktionen verstanden und produziert werden. Genres sind strukturierte, sozio-kognitive Komplexe, die in direkter Abhängigkeit von Situation und ihrer sozial-kontextuellen Einbettung stehen. Dabei sind sie konventionalisiert und basieren auf individuell geformtem und sozial geteiltem Wissen von Gemeinschaftsmitgliedern. Dieses Wissen betrifft mehrere Ebenen, da neben Sprach- und Weltwissen auch prozedurales Wissen bei Typisierungsprozessen, wie auch bei Erwartungs- und/oder Produktionsprozessen, eine Rolle spielt. Die Typisierung der Kommunikationsteilnehmer beruht v. a. auf drei, miteinander korrelierenden Quellen von Musterhinweisen (vgl. Kesselheim 2011, 339-340 und Stöckl 2016, 20): erstens Hinweise bezüglich der Strukturen und Verwendungsweisen von Zeichenmodalitäten und dabei besonders der Sprache, zweitens in Bezug auf die Wahrnehmung von weiteren textuellen, kontextuellen und situationellen Aspekten sowie drittens Erfahrungswissen zu textuellen Mustern und ihrer Verwendung. Die Polydimensionalität von Genres erlaubt nicht nur eine Betrachtung des Textphänomens aus verschiedenen Perspektiven, sondern lässt eine variable Gewichtung der Merkmale innerhalb der Dimensionen zu. SM-Genres haben musterhaften, prototypischen Charakter, der als Orientierungsrahmen für die Textnutzer dient, sowohl was Rezeptions-Erwartung, Produktion und allgemein das Verstehen betrifft (vgl. Sandig 2000 und Stöckl 2016, 21). Sie wirken innerhalb von sozialen Strukturen stabilisierend und sind gleichzeitig responsiv in Bezug auf (verschiedenste) Veränderungen und individuelle Varianten von Einzelnutzern. Die Einzeltexte sind also Exemplare eines Genres und können – abhängig von der für die Analyse gewählten Dimension – als eher peripherer oder eher zentraler Vertreter dieses Genres gelten.
Die Genres, die innerhalb der SM-Texte identifiziert werden können, weisen eine interne, ‘typische’ Struktur auf, welche in den Typisierungsprozessen als Orientierungsrahmen dient. Diese wurde bisher wiederholt als prototypisch oder musterhaft bezeichnet. Das Konzept der Prototypikalität baut in erster Linie auf die kognitionspsychologischen Arbeiten von Eleanor Rosch seit den frühen 1970er Jahren auf und wurde seitdem in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen behandelt. Dabei wird oft übersehen, dass sich die Arbeiten von Rosch selber von den ersten, v. a. anthropologisch und psychologisch geprägten Ansätzen im Laufe der Jahre teils signifikant geändert haben und in den unterschiedlichen Ausführungen disparate Feinheiten aufweisen. Mangasser-Wahl identifiziert drei Entwicklungsphasen der Prototypentheorie bei Eleanor Rosch zwischen 1971 und 1988 (vgl. Mangasser-Wahl 2000b) und Georges Kleiber unterscheidet in seiner ausführlichen Diskussion zwischen einer „Standardversion“ und einer „erweiterten Version“ der Prototypensematik (vgl. Kleiber 1998). Er zeigt,
daß mehrere Konzeptionen der Prototypensemantik existieren, die sich erheblich unterscheiden: Einerseits gibt es Definitionsschwankungen innerhalb der Standardversion, andererseits wird mittels des Begriffs der Familienähnlichkeit der Übergang zur erweiterten Version vollzogen, die letzten Endes zu einer vielschichtigen Betrachtungsweise der Prototypen führt, in der sowohl der Prototypen- als auch der Kategorienbegriff nicht mehr genau denselben Bereich abdecken wie in der Standardversion.(Herv. im Orig.; Kleiber 1998, 8-9)
Hans-Jörg Schmid fasst zusammen, dass ‘eine’ Prototypentheorie eigentlich gar nicht existiert, sondern dass es sich hierbei um „ein Konglomerat von Ideen einer Vielzahl von Psychologen und Linguisten“ handelt (2000, 33). Wie Geeraerts treffend zusammenfasst, ist Prototypikalität also an sich schon ein prototypisches Konzept (vgl. 1989, 592), das unterschiedlich definiert werden und verschiedene Grundlagen haben kann, abhängig von Untersuchungsgegenstand und –ziel, den zugrunde liegenden theoretischen Modellen und Ansätzen sowie den zu untersuchenden Kategorien (vgl. Taylor 2015, 562-563). Es gilt also die spezifische Lesart von Prototypikalität bzw. Typikalität für die vorliegende Arbeit zu beschreiben und sie mit dem Untersuchungsgegenstand in Verbindung zu bringen. Ich orientiere mich dabei grundlegend an den Kernthesen, wie sie v. a. in den Ausführungen zur „Standardversion“ bei Kleiber (1998)106 vorkommen. Prototypikalität wird hier von folgenden Bedingungen107 bestimmt, welche ich im Anschluss speziell auf die Scritte Murali beziehen möchte:
- Kategorien können über unscharfe Grenzen verfügen und die Zugehörigkeit eines Mitgliedes zu einer Kategorie ist nicht binär (entweder-oder), sondern eher graduell (mehr-oder-weniger).
- Kategorien müssen nicht über die „Konjunktion notwendiger und hinreichender Bedingungen“ definiert werden (Kleiber 1998, 35), können aber anhand ihrer Merkmale beschrieben werden, wobei diese nicht alle zwingend vorliegen müssen. Eine Verbindung der Vertreter innerhalb einer Kategorie ohne gemeinsame Merkmale erfolgt über die Familienähnlichkeit.
- Den Merkmalen liegt eine Hierarchie zugrunde, d. h., sie sind zueinander unterschiedlich gewichtet, und sie treffen graduell (mehr-oder-weniger) auf Kategoriemitglieder zu.
- Prototypen sind die typischsten Vertreter einer Kategorie. Kategoriemitglieder werden aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu diesem Prototypen zu zentraleren – den Prototypen ähnlicheren – oder peripheren Vertretern der Kategorie. Die Mitglieder ordnen sich also in einer Art Rangfolge (von weniger guten bis bestes Exemplar) um den Prototypen an.
- Es besteht eine interkategorielle Hierarchie, wobei die Kategorien der sog. Basisebene innerhalb der Kategorisierung priorisiert werden, da sie am merkmals- und informationsreichsten ist.
Wie bereits erwähnt, nehme ich an, dass sich Produzenten bei der Erstellung und Rezipienten beim Verstehen der Texte an Prototypen bestimmter Genres orientieren. Genres sind dann innerhalb der Kommunikationsform Scritte Murali als Kategorien zu verstehen, die über Prototypen verfügen, und die nach verschiedenen Dimensionen (s. o.) gruppiert werden können. Eine (logische) Möglichkeit wäre sie z. B. nach inhaltlichen Thematiken (dazu im nächsten Kapitel mehr) zu ordnen, also Scritte mit Inhalten zu Liebe, Politik, Emotionalem usw. Die Einzeltexte sind als Vertreter oder Mitglieder dieser Genres oder Kategorien (Liebes-Scritte, Politik-Scritte usw.) zu sehen, wobei die Struktur der Genres nach dem Konzept der Typikalität108 erfolgt. Wie sich auf Basis dieser Annahme, die oben genannten Thesen in Bezug auf die Scritte Murali-Genres konkretisieren, möchte ich nachfolgend kurz konkretisieren.
4.1.1. Unscharfe Grenzen und graduelle Zugehörigkeit
Rosch postuliert in ihren Arbeiten der zweiten Schaffensphase, dass
categories are not […] logical, bounded entities, membership in which is defined by an item’s possession of a simple set of criterial features, in which all instances possessing the criterial attributes have a full and equal degree of membership.(Rosch 1975b, 544)
Kategorie-Grenzen sind also nicht klar definierbar, woraus folgt, dass eine exakte Bestimmung der Zugehörigkeit eines (peripheren) Vertreters zu einer Kategorie nicht immer möglich ist und nicht immer klar ist, wo eine Kategorie aufhört und die nächste beginnt (vgl. Kleiber 1998, 35).109 Kleiber begründet diese Konzeption der unscharfen Kategoriegrenzen damit, dass die Zugehörigkeit eines Exemplars zu einer Kategorie mit dessen Repräsentativität gleichgesetzt wird: „Der Repräsentativitätsgrad wird also als Zugehörigkeitsgrad interpretiert, und der Prototyp erscheint aufgrund seines Status als bester Vertreter auch als das Exemplar mit dem höchsten Zugehörigkeitsgrad (was sich bereits aus der Anordnung des Prototyps im Zentrum der Kategorie erkennen ließ)“ (1998, 34). Periphere Vertreter sind also weniger repräsentativ und auch weniger genau bestimmt, im Vergleich zu zentraler(en) Vertretern.
George Lakoff vertrat in diesem Zusammenhang die These, dass Kategoriezugehörigkeit nicht binär (wahr oder falsch), sondern graduell sei, da die Frage, ob ein Element zu einer Kategorie gehört, nicht einfach mit ja oder nein beantwortet werden kann, sondern es bestehen Abstufungen (vgl. 1973). Dies verdeutlichte er anhand von Satz-Beispielen (der Art: Typ X ist ein Vogel), die er gradiert mit wahr bis absolut falsch beantwortet110:
- A robin is a bird. (true)
- A chicken is a bird. (less true than a)
- A penguin is a bird. (less true than b)
- A bat is a bird. (false, or at least very far from true)
- A cow is a bird. (absolutely false) (Lakoff 1973, 460)
Dieses Beispiel soll die Annahme verdeutlichen, dass es keine klar definierten Kategorie-Grenzen gibt, weshalb man auf sog. fuzzy sets, also „unscharfe Mengen“, wie es bei Kleiber heißt, zurückgreift, „um die Vagheit der Kategorien und Begriffe zu erfassen“ (Kleiber 1998, 35).111
Wie Mangasser-Wahl zusammenfasst, ist nach Rosch diese kategorielle Unschärfe möglich, aber nicht zwingend vorhanden (vgl. 1996, 88), und liegt möglicherweise daran, dass periphere Mitglieder „mehr Eigenschaften mit Mitgliedern angrenzender Kategorien teilen, als dies für prototypische Mitglieder zutrifft“ (1996, 88). Zentralere, prototypische Vertreter dagegen verfügen über eine große (oder die größte) Anzahl von „kategoriespezifische[n] Eigenschaften“ (Mangasser-Wahl 1996, 88).
Speziell auf die Scritte Murali bezogen, bedeutet dies, dass die Genres – die sich um bestimmte Prototypen herum positionieren – über keine klar definierten Grenzen verfügen, weshalb Einzeltexte möglicherweise mehr als einer Kategorie zugeordnet werden können oder es nicht ganz klar ist, zu welchem Genre die Scritta zugehörig ist. Die Zugehörigkeit ist dabei eben graduell, was dazu führt, dass ein Einzeltext bspw. über verschiedene Grade an Zugehörigkeit (vgl. die Wahrheitsabstufungen bei Lakoff oben) in mehr als einer Kategorie verfügen kann. Abhängig von der Anzahl (und Qualität, s. u.) der kategoriespezifischen Attribute die vorliegen, liegt die Scritta näher am zentralen Prototypen oder ist weiter von ihm entfernt, also peripher. Teilen die Einzeltexte überdies Attribute anderer Genres, so können sie eventuell auch mehr als einer Kategorie zugeordnet werden.
Diese Thesen sollen anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden.
Zwei mögliche Genres, die für die Scritta in Abb. 33 gelten, wären Politik und Ultras112. Auf eine Scritta aus dem Ultras-Bereich sind wir schon in Abb. 26 gestoßen, wobei dort die Hinweise oder Eigenschaften – blaue Schrift, Typographie, Lexeme, Standort – auf Produzenten aus dem Bereich der Ultras-Gruppierungen des S.S. Lazio verweisen. In Abbildung 33 sind bestimmte Eigenschaften erkennbar, die ebenfalls auf Produzenten aus dem Ultras Bereich (diesmal zugehörig zur A.S. Rom) hindeuten. Hinsichtlich der Frage nach der Typikalität dieser Scritta für ein (oder eben mehrere) Genre(s) und damit einhergehend in Bezug auf die unscharfen Grenzen und der graduellen Zugehörigkeit, ist nun entscheidend, dass erstens neben den Attributen, die auf die Zugehörigkeit zu einem Ultras-Genre hinweisen, auch Merkmale erkennbar sind, die spezifisch für das Politik-Genre sind, und zweitens, dass die Attribute im Vergleich zu einem Prototypen graduell einzuordnen sind.113 Für ein Genre Ultras sprechen neben den subsidiären Merkmalen der roten Farbe, in Anlehnung an die Vereinsfarben des A.S. Rom, und der speziellen Typographie, v. a. die verwendeten Token Laziale und ASR (A.S. Roma), wobei letzteres quasi als Unterschrift der Scritta zu deuten ist, um anzugeben, wer diese Scritta angefertigt hat114 und wer diese Aussage (Laziale albanese) zu verantworten hat. Für die Zugehörigkeit zu einem Genre Politik spricht die Verwendung des Token Albanese bzw. die syntaktische Verbindung Laziale + Albanese115. Diese Konstruktion kann intuitiv dahingehend interpretiert werden, dass jemand – in diesem Fall recht explizit markiert, nämlich die Ultras des A.S. Rom – jemand anderen – nämlich die Laziali, also Anhänger des S.S. Lazio – als Albaner bezeichnet. Im Kontext der Ultras-Rivalitäten kann dies nur negativ gedeutet werden (im Sinne einer Beleidigung), woraus sich schließen lässt, dass es sich um Fremdenfeindlichkeit handeln muss. Betrachtet man Scritte des rechtsextremen Politik-Genres (siehe DEFAULT und DEFAULT), so tritt Fremdenfeindlichkeit relativ frequent auf und kann durch eine Konstruktion, wie sie hier vorliegt, ausgedrückt werden. Wir nehmen also zunächst an, dass diese Art von Konstruktion und ihre Funktion ein typisches Merkmal für das Politik-Genre ist.
Das Konzept der graduellen Zugehörigkeit, bezogen auf die vorliegende Scritta (Abb. 33), ergibt sich nun aus dem Vergleich mit einem Genre-Prototypen anhand der gegebenen Attribute. Es wird also gefragt, über wie viele der genrespezifischen Attribute die Scritta verfügt und zwar sowohl in Bezug auf das Genre Politik als auch auf jenes Ultras? An dieser Stelle haben wir noch keine Genre-Prototypen erfasst, um die Scritta vergleichen zu können, aber allein die Tatsache, dass die Scritta Merkmale zweier Genres teilt, lässt vermuten, dass sie nicht ganz nah am Prototypen (weder Politik, noch Ultras) liegen kann, der Zugehörigkeitsgrad also geringer ist, im Vergleich zum Prototypen. Eine binäre Zuordnung ist also nicht möglich – die Scritta ist weder ausschließlich ein Exemplar des Genres Politik, noch des Genres Ultras. Diese Grundauffassung hat, wie oben bereits erwähnt, zur Folge, dass auch die Genres der Scritte Murali nicht mehr scharf voneinander getrennt sind, man also nicht genau bestimmen kann, wo ein Genre aufhört und ein anderes beginnt.
Würde man bspw. die obige Scritta (Abb. 33) mit Scritte wie in Abb. 26 und Abb. 27 vergleichen, so würde die Zugehörigkeit zum Genre Ultras bei Abb. 26 als ‘wahr’, für die Scritta in Abb. 33 mit ‘weniger wahr als für Abb. 26’ und schließlich ‘absolut falsch’ für die Scritta in Abb. 33 zutreffen. Bei den Produktions- und Rezeptionsprozessen der Teilnehmer in Bezug der Scritte Murali, sind es weniger die Kategorien oder Genres und ihre Grenzen, die als Orientierungspunkt dienen, sondern es sind die zentralen, ‘besten’ Vertreter der Genres (die Prototypen), mit denen die Teilnehmer die Einzeltexte vergleichen, um letztere dann zu kategorisieren.
Die Scritta aus Abb. 34 lässt sich aufgrund verschiedener, kategoriespezifischer Hinweise zu einem Genre Religion (hier konkret Satanismus) zuordnen: die verwendeten Symbole (auf dem Kopf stehende Kreuze links und rechts von der Schrift sowie oben rechts in Kombination mit einem Kreis), die Verwendung der Zahl 666 (gemeinhin bekannt als ‘Zahl des Tieres’ oder ‘Zahl des Antichristen’ und ein klarer Verweis auf Satanismus; vgl. 666-Wikipedia) und der Name Andrea Volpe116. Jedoch gibt es zwei Hinweisquellen, die auch eine Verbindung zu rechtsextremen Gedankengut – und damit zum Genre Politik – vermuten lässt. Zunächst verweist die Verwendung des Lexems duce, also ‘Führer’, und zwar in syntaktischer Verbindung mit dem Namen Andrea Volpe117 (etwa im Sinne von ‘Andrea Volpe ist der/unser Führer’ oder ‘Andrea Volpe soll/sollte der/unser Führer sein’), auf das Politik-Genre, da dieses Lexem (wie man in den Korpus-Auswertungen sehen wird) in dieser Konstruktion typisch für diesen Bereich ist. Weniger eindeutig verweist das zweite Merkmal auf die Kategorie Politik: eines der auf dem Kopf stehenden Kreuze ist in Kombination mit einem Kreis dargestellt, wobei die Linien des Kreuzes über den Kreis hinaus reichen. Damit wird es einem sog. Keltischen Kreuz ähnlich, welches sich lediglich dadurch unterscheidet, dass der Punkt an dem sich die beiden Kreuzlinien treffen beim Keltischen Kreuz relativ genau in der Mitte des Kreises liegt (in recht ausgearbeiteter Form in der Paolo di Nella–Scritta in Abb. 29 zu sehen). Eine eindeutige bzw. sich gegenseitig ausschließende Kategorie-Zugehörigkeit ist also nicht möglich, sondern kann nur graduell geschehen.
Die kurze Scritta LAZIALE EBREO in Abb. 35 verdeutlicht besonders gut das Konzept der kategoriellen Unschärfe. Die einzigen zwei Token verweisen jeweils auf eine Zugehörigkeit zu einem Genre (Laziale zu Ultras, Ebreo zu Politik), die syntaktische Konstruktion dagegen wäre in ihrer Grundstruktur (Eigenname + Substantiv) sogar für beide Genres ein typisches Merkmal. Die Scritta ist daher nicht eindeutig zu einem der beiden Genres zu zuordnen.118 Entscheidend ist hier, dass der Text nicht nur (typische) Merkmale aus zwei Genres enthält, sondern gleichzeitig nur wenige Merkmale mit den Prototypen der beiden Genres teilt, nämlich lediglich die spezifische Lexik und teilweise die typische Konstruktion (also beides Merkmale aus der Basiskategorie MitteilungJAK, auf paradigmatischer und syntagmatischer Ebene).
4.1.2. Merkmale nicht zwingend und Familienähnlichkeit
Texte der Scritte Murali verfügen über bestimmte Attribute – z. B. die Verwendung bestimmter semiotischer Ressourcen, syntagmatische und paradigmatische Merkmale oder Ortsdaten – welche vom Produzenten (bewusst) gewählt wurden und den Rezipienten dazu dienen (können), die Texte zu kategorisieren und auf ihre Funktion(en) hin zu interpretieren. Diese Merkmale müssen jedoch nicht zwingend vorliegen, damit der Text einem Genre zugeordnet werden kann. Dass Kategorien nicht über die Verbindung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen definiert werden müssen, lässt sich, wie Kleiber bemerkt, logisch von den eben getroffenen Aussagen zur ersten Bedingung (siehe DEFAULT) hinsichtlich der unscharfen Grenzen ableiten:
Wenn der Repräsentativitätsgrad dem Zugehörigkeitsgrad entspricht, wenn also die Kategorien unscharf sind, so können die in einer Kategorie zusammengefassten Exemplare nicht aufgrund der Konjunktion notwendiger und hinreichender Bedingungen zu dieser Kategorie gehören.(Kleiber 1998, 35)
Das bedeutet, dass z. B. bei den Scritte aus dem Bereich Liebe ein Merkmal die Verwendung von Herzen (♥) sein kann, dies aber nicht bei allen Liebes-Scritte der Fall sein muss. Anders als beim Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, wie Kleiber es nennt (vgl. 1998), ist die Zugehörigkeit eines Exemplars (in diesem Fall einer Scritta) zu einer Kategorie nicht mehr davon abhängig, ob ein bestimmtes Merkmal zutrifft oder nicht. Rosch und Mervis sprechen von einem „all-or-none phenomenon“ innerhalb der digitalen Merkmalsmodelle der Kategorisierung, welche Kategorien als „logical bounded entities“ (1975, 573) verstehen und die Kategoriezugehörigkeit eines Vertreters an dessen „possession of a simple set of criterial features, in which all instances possessing the criterial attributes have a full and equal degree of membership“ (1975, 573-574). Die bisher ausgeführten Annahmen lassen sich offensichtlich nicht mit dieser von Charles Fillmore als „checklist theory of meaning“ (vgl. 1975) bezeichnete Auffassung in Einklang bringen. Es gibt kein minimales Set von zwingend vorhandenen, distinkten Merkmalen, anhand welchem die Teilnehmer einzelne Scritte den Kategorien zuordnen. Dass Exemplare zur selben Kategorie gehören können, obwohl sie nicht alle über die gleichen Merkmale verfügen, erklären Rosch und Mervis (vgl. 1975) mit dem Prinzip der Familienähnlichkeiten von Ludwig Wittgenstein, das ursprünglich als Erklärung von Wortbedeutungen entworfen wurde (vgl. 1977) und auf das ich weiter oben (Kapitel und Kapitel ) bereits kurz eingegangen bin:119
Wittgenstein (1953) argued that the referents of a word need not have common elements in order for the word to be understood and used in the normal functioning of language. He suggested that, rather, a family resemblance might be what linked the various referents of a word. A family resemblance relationship consists of a set of items of the form AB, BC, CD, DE. That is, each item has at least one, and probably several, elements in common with one or more other items, but no, or few, elements are common to all items.(Rosch/Mervis 1975, 574-575)
Dieses Erklärungsprinzip lässt sich problemlos mit der grundlegenden These von Rosch, dass Kategorien in einen zentralen, prototypischen und periphere, nicht-prototypische Vertreter strukturiert sind, verbinden (vgl. Kleiber 1998, 37) und Rosch und Mervis konnten empirisch belegen, dass „Prototypen die innerhalb von Kategorien vorhandene Familienähnlichkeit maximieren“ (Mangasser-Wahl 1996, 91). Innerhalb der Standardversion der Prototypentheorie erklärt Wittgensteins Prinzip vor allem, warum Kategoriemitglieder weder arbiträr noch über das Vorhandensein distinkter Merkmale bei allen Mitgliedern gruppiert werden. Der Zusammenhalt entsteht durch Ähnlichkeiten zwischen den Vertretern deren Attribute sich überschneiden und zwei oder mehreren Mitgliedern gemein sind, sprich, jedes Mitglied hat mindestens eine, wahrscheinlich aber mehrere, Eigenschaft(en) mit einem oder mehreren anderen Vertretern der gleichen Kategorie gemeinsam (vgl. Rosch/Mervis 1975, 575; Kleiber 1998, 36-37). Die Verbindung über Familienähnlichkeiten erklärt dann speziell für solche Fälle, bei denen große Unterschiede zwischen zwei oder mehreren Exemplaren besteht, warum diese trotzdem zur gleichen Kategorie gehören können. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass „solche Vertreter Attribute mit anderen Vertretern teilen, die zwar keine hohe Gewichtung haben, aber trotzdem den Zusammenhalt der Kategorie fördern“ (Schmid 2000, 41) – womit wir beim nächsten, zentralen Punkt angelangt wären: die Gewichtung und Gradierung der Merkmale.
4.1.3. Gewichtung und Gradiertheit der Merkmale
Das Charakteristikum der unscharfen Grenzen und auch der graduellen Zugehörigkeit der Exemplare zu einer Kategorie (siehe DEFAULT) hängt direkt mit quantitativen und qualitativen Maßstäben der Attribute zusammen und spiegelt die gestufte Strukturiertheit der Kategorien120 wieder (vgl. dazu Rosch 1975b und Rosch/Mervis 1975 sowie Mangasser-Wahl 1996, 88). Die Zugehörigkeit zu Kategorien bzw. die zentrale bis periphere Anordnung eines Exemplars innerhalb eines Genres hängt nicht nur von der Quantität der geteilten Attribute zusammen, sondern kann auch durch die Qualität der Merkmale beeinflusst werden (vgl. Mangasser-Wahl 2000b, 96). Neben vielen Merkmalen, können also auch besonders gute oder wichtige Merkmale über den Status eines Exemplars entscheiden. Dies wird bspw. anhand der Symbole bzw. bildgraphischen Zeichen121 deutlich: Die Verwendung von Symbolen allgemein – entscheidend ist dann die Quantität – kann typisch sein, in dem Sinne, dass Prototypen eines Genres die Verwendung von Symbolen als Merkmal in sich tragen und Einzelexemplare u. U. näher am Prototypen liegen, wenn sie auch Symbole darstellen. Entscheidender ist jedoch die Qualität der Symbole und zwar sowohl der semantische Inhalt des Symbols (Wofür steht das Symbol?) als auch die Qualität in Bezug auf die ‘Lesbarkeit’. Je besser das Symbol (wie auch allgemein die verwendeten Zeichen) sichtbar ist und eindeutig als solches erkannt werden kann, desto mehr beeinflussen die Zeichen die Zugehörigkeit und umgekehrt. Angedeutet wurde dies bereits in der Beschreibung zur Scritta in Abb. 34, worin das Symbol rechts oben im Bild sowohl als umgekehrtes Kreuz als auch, in Kombination mit dem Kreis, als abgewandelte Form eines Keltischen Kreuzes gelesen werden kann, wodurch eben auf Satanismus und Rechtsextremismus gedeutet wird. Die Qualität der Zeichen ist dabei durch verschiedene Faktoren bedingt, die vom Produzenten nur zum Teil mit beeinflusst werden können. So liegt es zunächst offensichtlich an den Fähigkeiten des Produzenten, ob die Symbole später erkannt werden oder nicht. Danach spielt die Witterung eine nicht unerhebliche Rolle, da die Zeichen auf diese Weise möglicherweise recht schnell schlechter oder gar nicht mehr erkennbar sind (vgl. dazu auch DEFAULT). Ebenso können die Zeichen teilweise oder komplett entfernt werden und schließlich ist die Lesbarkeit (und damit auch die Qualität) abhängig vom Symbol- bzw. Zeichenwissen der Rezipienten – kennen diese den Inhalt des Symbols nicht, so wird es auch nicht verstanden.
All dies muss der Produzent bedenken, kann diesen Sachverhalt aber auch zu seinem Vorteil nutzen, etwa um Botschaften so zu ‘verschlüsseln’, dass sie nur von einem bestimmten Rezipientenkreis verstanden wird, oder um durch Kombination (wie im Andrea Volpe-Beispiel mit dem Satanisten-Kreuz in Verbindung mit dem Kreis) mehrere Inhalte anzudeuten.
Es muss für den Untersuchungsgegenstand der Scritte Murali weiter zwischen der Qualität der visuellen Sichtbarkeit und der Qualität der semantischen Inhalte unterschieden werden. Wie Mangasser-Wahl (1996, 2000b) zeigt, gilt für Rosch in Bezug auf die semantischen Merkmale das Prinzip der Gradiertheit, parallel zur Struktur der Kategorien allgemein (vgl. Rosch 1973b, Rosch 1975b; sowie die Bemerkungen zu Punkt 4 in Kapitel ). Dabei lässt sich bei Rosch eine dichotome Stufung der attributes erkennen, die zwar nicht explizit ausformuliert ist, von Mangasser-Wahl jedoch herausgestellt wurde (vgl. 1996, 91-92, 2000b, 94-97). So bedeutet die Gradiertheit auf Ebene der Merkmale zum einen, dass diese untereinander „gewichtet“ sind, und zum andern, dass sie intern „gradiert“ sind. Das Gewichten von Attributen untereinander, legt der Merkmalsstruktur von Kategorien demnach eine hierarchische Struktur zugrunde, da es dann wichtigere und weniger wichtige (also qualitativ höher oder niedriger zu wertende) Merkmale gibt. Das Phänomen des ‘Gradierens’ dagegen bezieht sich auf die interne Merkmalsebene, d. h., Merkmale können graduell (mehr oder weniger) auf Exemplare zutreffen.122
Betrachten wir erneut die Scritta Laziale albanese ASR aus Abb. 33, so werden die verschiedenen Rollen der quantitativen und qualitativen für eine Zuordnung evident.
Die Scritta gestaltet sich für den geübten Blick – also für jene Rezipienten, die über das nötige Hintergrundwissen verfügen – in den Bereichen der Typographie und der Farbwahl auffällig. Die rote Schriftfarbe kann auf Ultras des A.S. Rom hinweisen (im Gegensatz zu blauer Farbe für Anhänger des S.S. Lazio), wobei die Qualität (‘Rot’) nur im Verbund mit anderen Attributen, die auf das Genre Ultras verweisen, ihre Bedeutung erhält.123 Eindeutiger, d. h. kategoriespezifischer, ist das Attribut der Typographie, die sich an dem sog. Ultras-liberi-Font (oder fascio-Font)124 orientieren (vgl. UltrasLiberiFont-VICE und Abb. 36).
In Bezug auf die Qualität lässt sich nun festhalten, dass von den insg. 18 Graphen der Scritta lediglich zwei der acht möglichen (<L>, <A>, <Z>, <I>, <E>, <B>, <N>, <S> und <R>) Schriftzeichen an dem verbreiteten Font orientieren und zwar relativ eindeutig <N> und weniger eindeutig <R>.125 Typischer und damit eindeutiger wäre, wenn auch die Graphen <L>, <A>, <E> und <B> in der Ultras-typischen Typographie vorliegen würden. Die Qualität des Typographie-Attributen ist also relativ niedrig zu werten in Bezug auf ihre Gewichtung beim Zuordnen. Im Vergleich dazu ist die Qualität126 der Typographie der Scritta Un ultras non muore mai Maurizio vive! (Abb. 26) höher, da mehr Graphen (<N>, <R>, <S>, <M>, <!>) in typischer Form abgebildet sind. Von hoher Qualität, weil besonders gut ausgearbeitet, wäre der Striscione in Abb. 37.
Als besonders wichtiges Attribut, also qualitativ hoch anzusetzen, sind die Sprachzeichen, wie bereits mehrmals erläutert wurde, und dabei eben v. a. die Lexik.127 Im Konnex mit der Quantität wird die Entscheidung über die Zuordnung stark beeinflusst und so werden Scritte wie Laziale albanese ASR v. a. über die semantischen Inhalte bzw. deren Informationswert der Lexeme und deren Quantität zugeordnet. Zwei von drei Token verweisen eindeutig auf das Genre Ultras, nur eines (und auch nur auf syntaktischer Ebene innerhalb der Konstruktion n + albanese) auf Politik. Diese Asymmetrie zugunsten des Genres Ultras wird dabei nur relativ gering durch andere Attribute verstärkt, da sowohl Qualität als auch Quantität dieser Attribute nicht ausreichend groß sind.
4.1.4. Prototypen als typische Vertreter
Diese Auffassung betrifft neben der generellen Struktur der (Genre-)Prototypen, den Kategorisierungsprozess der Exemplare, wobei in den Punkten 1-3 schon auf einige wichtige Faktoren, die dabei von Belang sind, eingegangen wurde.
Der heutzutage inflationäre Gebrauch des Begriffs Prototyp in verschiedensten Wissenschaftsbereichen, verlangt zunächst eine Definition desselben, wobei bereits klar geworden sein sollte, dass es sich offensichtlich nicht um den alltagssprachlichen Gebrauch des Terminus mit der Bedeutung „[vor der Serienproduktion] zur Erprobung und Weiterentwicklung bestimmte erste Ausführung (von Fahrzeugen, Maschinen o.Ä.)“ (Prototyp-Duden) handelt. Basierend auf ihren ersten Arbeiten (1971, 1972) – damals unter dem Namen Eleanor Rosch Heider – zur kognitiven Bedeutung und Kategorisierung von Fokalfarben und ihren davon abgeleiteten Hypothesen, erwähnt Eleanor Rosch im Jahr 1973 für den Bereich von perzeptuellen Kategorien erstmals die „natural prototypes“ (1973b), deren Konzeption sie anschließend auch auf semantische Kategorien überträgt (vgl. Mangasser-Wahl 1996, 86-87). Ein Prototyp gilt demnach als „bestes Exemplar bzw. Beispiel, bester Vertreter oder zentrales Element einer Kategorie“ (Kleiber 1998, 31), wobei die Exemplare innerhalb einer Kategorie nicht den gleichen Stellenwert haben, sondern als bessere oder schlechtere Vertreter gelten (vgl. Kleiber 1998, 31):
[M]any natural categories are internally structured into a prototype (clearest cases, best examples) of the category with nonprototype members tending towards an order from better to poorer examples.(Rosch 1975b, 544)
Die graduelle Repräsentativität der Vertreter deckt sich also mit der internen Struktur der Kategorien selbst und der Prototyp wird zum Zentrum der Kategorie, um welches sich die einzelnen Vertreter hin anordnen. Dies geschieht in Abhängigkeit von ihrem Repräsentativitätsgrades (siehe Punkt 1 in DEFAULT) und führt dazu, dass wenig repräsentative Exemplare am Rande der Kategorie (also peripher) verortet sind und sich die Vertreter mit steigender Repräsentativität dem zentralen Prototypen annähern (vgl. Kleiber 1998, 34).128
Man muss sich hier bewusst sein, dass Prototypen – also die besten Exemplare – „keine individuelle[n] Exemplar[e]“ sind (Kleiber 1998, 32). Dies liegt auch daran, dass, wenn einzelne Entitäten als Prototypen fungieren würden, keine interindividuelle Stabilität garantiert wäre, d. h. am Beispiel von Kleiber dargestellt, dass eventuell jeder Katzenbesitzer seine eigene Katze als bestes Exemplar für die Kategorie Katze angeben würde (vgl. 1998, 32).129 Kleiber fasst zusammen:
Eine Kategorie ist eine offene, nicht-kontingente Klasse, was zur Herausbildung von besten Exemplaren führt, die ebenfalls nicht-kontingent sind, d. h. zu Unterkategorien bzw. -klassen oder allgemeinen Begriffen. Wenn der Prototyp einen Wert besitzen soll, der auf Kategorieniveau liegt, so muß er den beschränkten und kontingenten Einzelfall übersteigen, den ein Individuum darstellt. Aus diesem Grund zielen auch die Schemata der „besten Exemplare“ nicht darauf ab, ein individuelles Beispiel wiederzugeben, sondern wiederum eine Kategorie, einen „Typ“ zu erfassen.(Kleiber 1998, 33)
Konkret auf die Scritte Murali bezogen, bedeutet dies, dass eine individuelle, tatsächlich vorliegende Scritta nicht als kategorialer Prototyp dienen kann. Der Prozess der Kategorisierung, sprich die Zuordnung der Exemplare zu einer Genre-Kategorie, basiert dabei auf dem Grad der Ähnlichkeit der individuellen Scritta zum nicht-kontingenten Prototyp:
A prototype is a typical instance of a category, and other elements are assimilated to the category on the basis of their perceived resemblence to the prototype; there are degrees of membership based on degrees of similarity.(Herv. SL; Langacker 1987, 371)
Wie bereits erwähnt, steht dieses Konzept im Kontrast zum Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen (s. o.) und so werden einzelne Scritte nicht kategorisiert, indem einzelne Attribute abgefragt werden, sondern mit einem (imaginären) Prototypen verglichen werden. Die prototypischen Exemplare fungieren dabei als „cognitive reference points“, sprich als kognitive Orientierungspunkte, um die Zugehörigkeit der anderen Vertreter beurteilen zu können (vgl. Rosch 1975b, 544-545). Diese Perspektive impliziert, dass der Kategorisierungsprozess nicht mehr analytisch abläuft, wie bei NHB-Modellen, sondern global (vgl. Kleiber 1998, 38).130
Die Feststellung, dass ein individueller Scritta-Text nicht als Prototyp fungieren kann, führt zur Frage, was denn nun eigentlich ein Prototyp ist und was diese Auffassung für die Scritte Murali bedeutet.131 Ausgangspunkt ist zunächst die Unterscheidung, wie sie Kleiber anstellt, „zwischen dem Objekt bzw. Vertreter der Kategorie (also der Unterkategorie, die das beste Exemplar darstellt) einerseits und der psychischen Repräsentation bzw. der kognitiven Vorstellung dieses Objekts andererseits“ (1998, 40), wodurch der Prototyp als „Bewusstseinsinhalt“ oder kognitive „Repräsentation des besten Exemplars bzw. Objekts“ (Kleiber 1998, 40 und 41) verstanden wird.132 Für die Kommunikationsteilnehmer heißt das, dass der Prototyp eines Scritte Murali-Genres, woran sie sich bei der Kategorisierung orientieren – um letztlich die Funktion der Scritte ‘richtig’ interpretieren zu können –, ein kognitives Bild, eine abstrakte Vorstellung ist, dem keine konkrete Scritta entsprechen muss.
Das Verständnis von Prototypen als kognitive Bewusstseinsinhalte, wirft eine weitere entscheidende Frage auf und zwar nach dem Ursprung des Prototyps, d. h., warum erscheint den Teilnehmern gerade diese oder jene Entität als typischer oder bester Vertreter einer Kategorie und nicht eine andere? Die Antwort auf diese Frage verleiht dem definitorischem Rahmen eine andere Grundlage und ist von zentraler Bedeutung für die Anwendung der Prototypen-Theorie auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand.133
Ein Erklärungsansatz für die Wahl bestimmter Exemplare, basiert auf der wesentlichen Bedeutung der Merkmale innerhalb der Kategorien, wie dies bspw. bei Langackers Zitat (s. o.) der Fall ist. Geht man von diesem Ansatz aus, so müssen logischerweise die typischen Eigenschaften und die Vergleichsprozesse in der Analyse in entsprechendem Umfang berücksichtigt werden, was wiederum die Entscheidung erfordert, was typische Eigenschaften sind (vgl. Kleiber 1998, 42). Ein weiterer – und letztlich der entscheidende – Faktor134, der Prototypen als ‘besten Vertreter’ erfasst, ist die Typizität. Prototypen sind deswegen die besten Exemplare, weil sie die ‘besten’ (im Sinne von ‘typischsten’) Eigenschaften bündeln135 (vgl. Kleiber 1998, 42), wobei wir wieder bei der Frage nach den kategoriespezifischen Merkmalen landen.
Prototypen sind demnach weniger als die besten Vertreter zu sehen, sondern definieren sich „als aus typischen Attributen zusammengesetzte [abstrakte] Entität[en]“ (Kleiber 1998, 43), im Sinne von kognitiven Bewusstseinsinhalten, die auf psychischen Prozessen, wie z. B. Vergleichen, basieren. Anzumerken ist hierbei, dass es nicht falsch ist, Prototypen als ‘beste Exemplare’ zu bezeichnen, da die kategoriespezifischen Merkmale (welche die Grundlage der Prototypen sind) tatsächlich die Kategorie am besten repräsentieren (vgl. Kleiber 1998, 43). Grundlegend ist, dass man sich der Verfahrensrichtung dieser Lesart bewusst ist, wenn man von besten oder typischen Exemplaren und Prototypen spricht, da sie von der weitverbreiteten – und keineswegs falschen, sondern lediglich in umgekehrter Richtung ablaufenden – Prototypen-Auffassung abweicht: Geht man von Exemplaren als Prototyp aus, wie das bei dem gemeinhin bekannten Standard-Beispiel „Spatz als Prototyp für Vogel“ der Fall ist, leiten sich die typischen Kategorie-Attribute von der kognitiven Repräsentation dieses prototypischen Exemplars ab. Bei Prototypen verstanden als abstrakte Einheiten dagegen, bilden die kategoriespezifischen Merkmale die Basis für die Prototypen, wovon dann z. B. über Vergleichsoperationen festgestellt werden kann, dass ein Spatz ein prototypischer Vogel ist (vgl. Kleiber 1998, 43).
Diese Definition – Prototyp als abstrakte Einheit, welche auf der Bündelung kategoriespezifischer Attribute basiert – lässt sich problemlos mit der Bedingung, dass Prototypen nicht durch individuellen Exemplare verifiziert werden müssen, vereinen. Real vorhandene Scritta-Texte, die besonders nah am abstrakten Prototyp liegen, sind dann selbst nicht die Prototypen, sondern stellen materialisierte „Erscheinungsformen“ des Prototyps dar, über dessen Merkmalskombination sie verfügen (vgl. Kleiber 1998, 44). Diese definitorische Lesart deckt sich aber auch mit oben genannten Bemerkungen zur Gewichtung und Gradierung der Merkmale, da die tatsächlich vorliegenden Scritte nicht zwingend alle Merkmale aufweisen müssen, um zu einer Kategorie zu gehören, sondern die Quantität in Kombination mit der Qualität der Merkmale ist entscheidend, was letztlich auch dazu führen kann, dass Scritte mehreren Kategorien angehören können, wenn ihnen Attribute anderer Kategorien inhärent sind (siehe das Prinzip der unscharfen Grenzen, Punkt 1).136 Schließlich aber ist diese Definition mit dem Erklärungsprinzip der Familienähnlichkeiten (DEFAULT) äußerst kompatibel: die miteinander verwandten, sich überschneidenden Merkmale, welche das Familiennetz bilden, tauchen hier als eben jene typische Merkmale auf, welche den Prototypen ausmachen:
Der Prototyp erscheint nun dort, wo die Überlappung am ausgeprägtesten ist. Die Randphänomene sind diejenigen, die die wenigsten typischen Attribute mit dem Prototyp gemein haben. Der Vergleichsprozeß erscheint dann als ein globaler Vergleich mit dem Prototyp, d. h. mit der Schnittmenge der für die Kategorie typischen Eigenschaften.(Kleiber 1998, 45)
Besonders deutlich wird dies unter Zuhilfenahme des Schemas in Abb. 38, eine Adaption der Zeichnung von Givón (1986, 79).
Der Prototyp wird durch die Schnittmenge (4) aller vier typischen Attribute (A-D) im Zentrum der Zeichnung repräsentiert. Danach nehmen die Merkmals-Kombinationen stufenweise von drei – also drei typische Attribute gemeinsam – bis null ab (Schnittmengen 2 und 3; Attribute A-D). Die real existierenden Scritte Murali-Texte werden nun mit dem Prototypen verglichen und je nachdem, wie viele der Merkmale sie mit diesem teilen, d. h. welcher Schnittmengen-Gruppe sie angehören (2 oder 3 bzw. gar keiner, wenn sie nur über ein Attribut verfügen), stellen sie prototypischere oder peripherere Exemplare dar. Selbst wenn keine Scritta existiert, die 1:1 dem abstrakten Prototypen entspricht, so ordnen sich die real vorhandenen Texte in einer radialen Struktur, um diesen Prototypen an, wodurch eine Rangfolge unter den Scritte entsteht. Es gibt also ‘bessere’ (typische, zentrale) und ‘schlechtere’ (weniger typische, periphere) Exemplare innerhalb der Genrekategorien oder, anders ausgedrückt, die Scritte repräsentieren besser oder schlechter ‘ihr’ Genre. Wie bereits aus dem Schaubild erkennbar ist, gibt es jeweils mehrere Kombinationsmöglichkeiten für die Schnittmengen 2 und 3: AB, BC, CD, DA und ABD, ABC, BCD, CDA. Dies erklärt die Zugehörigkeit von Scritte zum gleichen Genre, obwohl sie nicht alle über die gleichen Attribute verfügen und verdeutlicht die fundamentale Grundlage der Familienähnlichkeiten für die Struktur. Bezüglich der Rangfolge ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass Vertreter, die über Attributskombinationen der ‘Klassen’ 2 und 3 verfügen, nach diesem Schema theoretisch über den gleichen Status innerhalb der Prototypikalitätsskala verfügen. Dabei muss man in der Praxis jedoch bedenken, dass – wie in Punkt 3 erläutert (s. o., DEFAULT) – die Merkmale untereinander gewichtet sind und sie auch graduell auf die Mitglieder zutreffen können. Dadurch verschiebt sich logischerweise die Repräsentativität, wenn bspw. Attribut A charakteristischer ist als Attribut B und Attribut D charakteristischer als B, aber weniger gewichtet als A. Selbst wenn man in solch einem Beispiel ignorieren würde, wie sehr die einzelnen Attribute qualitativ und quantitativ auf die Scritte zutreffen, so wären, allein aufgrund der höheren Gewichtung der Attribute A und D (im Vergleich zu B), Exemplare, die der Schnittmenge AD entsprechen, typischere Vertreter als Exemplare mit der Attributskombination AB.
4.1.5. Interkategorielle Hierarchie und Basisebene
Die fünfte Bedingung, unter welcher hier die Prototypentheorie mit Hinblick auf die spätere Analyse verstanden wird, steht zwar direkt mit den anderen vier Punkten in Verbindung, hebt sich von ihnen jedoch insofern ab, als sie sich auf eine andere Dimension der Kategorisierung bezieht. Punkte 1 bis 4 beziehen sich, wie man sehen konnte, auf die interne Struktur der Kategorien, welche Kleiber als „horizontale Dimension“ bezeichnet – Punkt 5 dagegen betrifft die „vertikale Dimension“ (1998, 30), welche interkategoriale Aspekte zusammenfasst. Beide Dimensionen bzw. die in ihnen angesiedelten Thesen bilden die zwei großen Stützpfeiler der Prototypentheorie nach Rosch und spielen auch für ein Analyse-Modell der Scritte Murali eine zentrale Rolle.
Ausgangspunkt der Bedingung, wie sie für Punkt 5 (s. o.) formuliert wurde, ist, dass Kategorien137 untereinander augenscheinlich hierarchisch organisiert sind. Roger Brown – einer der ersten, der sich mit dieser Fragestellung auseinandersetzten – schrieb in seinem Artikel How shall a thing be called?: „The dog out on the lawn is not only a dog but is also a boxer, a quadruped, an animate being“ (1958, 14). Schnell wird klar, dass die Ausdrücke (dog, boxer, quadruped, animate being) allesamt auf den Hund zutreffen, dabei aber keineswegs synonym verwendbar sind, weil sie sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden. Rosch und Kollegen (Rosch/Mervis 1975; Rosch u.a. 1976) konnten in ihren Studien belegen, dass Kategorien tatsächlich in einer Hierarchie angeordnet sind und dabei eine Ebene – die Basisebene – von besonderer Bedeutung (auch für die Prototypentheorie) ist.
Bei Rosch u.a. wird eine Hierarchie auf drei Ebenen138 vorgeschlagen und zwar nach superordinate level (übergeordnete Ebene), basic level (Basisebene) und subordinate level (untergeordnete Ebene). Die Gültigkeit dieser Klassifikation konnte in mehreren Experimenten nachgewiesen werden (vgl. Rosch/Mervis 1975, Rosch u.a. 1976, Rosch 1978). Innerhalb dieser vertikalen Klassifikation, wäre
- Tier auf der übergeordneten Ebene
- Hund auf der Basisebene und
- Boxer auf der untergeordneten Ebene.139
Dies erklärt auch, warum Sprecher in Standardsituationen eher sagen würden „Im Garten ist ein Hund“ und nicht „Im Garten ist ein Lebewesen“ oder „Im Garten ist ein Boxer“ (vgl. Kleiber 1998, 59).
Für den Bereich der Scritte Murali, gehe ich von einer Klassifikation aus, welche Scritte Murali als übergeordnete Kategorie, die einzelnen Genres (bisher exemplarisch nach Thematiken, wie Politik, Liebe, Ultras usw. gruppiert) als Basiskategorien und feinkörnigere Abstufungen wie Rechtsextreme Politik als untergeordnete Kategorie ansetzt.140
Dass Basiskategorien (Objekte der Basisebene) die inklusivsten Kategorien sind und einen privilegierten Status innerhalb der Hierarchie einnehmen, begründen Rosch u.a. mit vier zentralen Eigenschaften, welche gleichzeitig den Charakter der Basisebene wiedergeben (vgl. 1976, 382):
- Basisobjekte teilen eine signifikante Zahl an Attributen mit anderen Mitgliedern der selben Kategorie.
- Sie verfügen über ähnliche motorische Programme (motor programs),
- haben ähnliche Formen und
- können anhand der Durchschnitts-Formen der Klassenmitglieder identifiziert werden.
Die Kombination dieser vier grundlegenden Eigenschaften wird als „information-rich bundles of perceptual and functional attributes” (Rosch u.a. 1976, 382; vgl. Rosch/Mervis 1975) – kookkurrierende, informationsreiche Attributsbündel – zusammengefasst und zieht einige Konsequenzen für die Basisebene nach sich. Die für eine Erfassung der Scritte Murali relevanten Auswirkungen, werde ich nachfolgend knapp zusammenfassen, wobei ich den Ausführungen bei Kleiber (1998, 59-62) folge, welche nach drei Perspektiven gruppiert sind.
In „perzeptorischer Hinsicht“ wird die Basisebene priorisiert, „aufgrund der Wahrnehmung einer ähnlichen, globalen Form, der Vorstellung durch ein einfaches gedankliches Bild, das für die gesamte Kategorie gilt, und aufgrund der schnellen Identifizierung“ (Kleiber 1998, 62). Am Beispiel der kategorialen Ebenen Tier und Hund, wird deutlich, dass es keine allgemeine Form für Tier gibt, sehr wohl aber für Hund. So einfach lässt sich diese These nicht auf Scritte Murali–Genres übertragen, sondern es erfordert einen genaueren Blick auf die Gegebenheiten.141 Rosch und Kollegen bemerken in den Beschreibungen zu ihrem Experiment 3 (vgl. 1976), dass „[a]ppearance is, perhaps, the most difficult of all characteristics of objects to define. Shape is a very general and important aspect of objects“ (1976, 386). Voranzumerken ist, dass sich Rosch u.a. auf „the most common taxonomies of man-made and biological objects” beziehen (1976, 386). Scritte Murali bzw. ihre Genres sind offensichtlich nicht biologischer Natur, sondern „man-made“, wobei jedoch berücksichtigt werden muss, dass Scritte Murali-Genres im Vergleich zu den in Roschs Experimenten verwendeten Objekten (Möbel, Stühle, Fahrzeuge usw.) weitaus unüblicher und schwerer zu fassen, zu verstehen sind. Trotzdem liefert die vorangestellte Ausführung bei Rosch bereits den Schlüssel, wie die Form für den Bereich der Scritte Murali-Genres nutzbar gemacht werden könnte. Für die Wissenschaftler gehören zu „shape“ auch die „structural relationships of the parts of an object to each other”, also bspw. neben der visuellen Darstellung von Stuhlbeinen und Sitzfläche, auch die Art und Weise, wie diese Stuhl-Teile in Verbindung gebracht werden (1976, 386-387). Bei Scritte Murali-Genres sind es v. a. diese strukturellen Beziehungen, die eine globale Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern desselben Genres/derselben Kategorie zeigen und die Genres daher als Basiskategorie erscheinen lassen. Die Verbindungen beziehen sich dabei auf die Attribute der Objekte. Form – als Bedeutungsaspekt für Objektkategorien – ist untrennbar mit den Attributen (wie auch den motorischen Programmen, s. u.) verbunden (vgl. Rosch u.a. 1976, 386). Konkreter ausgedrückt, wären dann solche strukturellen Attributs-Relationen, die bei den Mitgliedern eines SM-Genres als ähnlich wahrgenommen werden, z. B. die Kombinationen aus bestimmten bildgraphischen Zeichen, syntaktischen Konstruktionen und spezifischen Lexemen oder Lexem-Gruppen. Betrachtet man die exemplarischen Beschreibungen aus den Punkten 1-3 zur horizontalen Dimension (s. o.), so könnte das für eine Basiskategorie Liebe(sscritta) z. B. bedeuten, dass die global perzipierte Form Herzen und Lexeme wie amare in der Konstruktion ti + amo verbinden muss. Schwieriger wäre es dies an Umrissen der Texte festzumachen, wie dies in den Experimenten bei Rosch u.a. (1976) überprüft wurde. Entscheidend sind daher die Verbindungen zwischen den kategoriespezifischen Merkmalen.
Mit der Form im direkten Zusammenhang steht auch die bildliche Vorstellung der Basiskategorien, welche für übergeordnete Kategorien nicht möglich ist. Wieder ist es einleuchtend, dass man sich problemlos einen Stuhl vorstellen (abstrakt) oder zeichnen (konkret) kann, was bei Möbel nicht der Fall ist – man wird sich immer einen oder mehrere konkrete Vertreter dieser Kategorie (dann also wieder aus Basisebene) bildlich vor Augen halten (vgl. Kleiber 1998, 59-60). Dies funktioniert für Scritte Murali-Basiskategorien erneut nur, wenn man als „average shape“ (Rosch u.a. 1976, 387, Experiment 4) die eben genannten strukturellen Attributs-Beziehungen zulässt. Hierbei sind die wieder die Beschreibungen zu den Versuchsanordnungen hilfreich (vgl. Rosch u.a. 1976). Experiment 4 sollte überprüfen, „whether these same basic level objects would be the most inclusive categories in which shapes are sufficiently similar to render the shape of an average of more than one member of the category identifiable as a category member“ (Rosch u.a. 1976, 399). Dass dies – also die Vorstellung einer einfachen bildlichen Form, die für eine gesamte Kategorie gilt (s. o., vgl. Kleiber 1998, 62) – auch bei Scritte Murali-Kategorien der Fall ist, wird sich im Analyseteil und der Auswertung der Ergebnisse zeigen, wobei es besonders interessant sein wird, die Heatmap-Ergebnisse, die sich so gesehen auf diese formalen, umrisshaften Aspekte beziehen, auszuwerten.
Ein weiterer Aspekt aus perzeptorischer Perspektive, der für die Priorität der Basisebene spricht, ist jener der schnelleren Identifizierung (im Vergleich zu Objekten aus den anderen beiden Ebenen). Schmids Fazit zu Benennungsaufgaben spricht schließlich dafür, Scritte Murali-Genres als Basiskategorie zu verstehen, selbst wenn dieser Untersuchungsgegenstand teils weit von den bei Rosch verwendeten Testobjekten abweicht, da man zwischen zwei Arten von Kategorisierungsprozessen innerhalb der Basiskategorien ausgehen muss:
Die erste Stufe beruht wesentlich auf der schnellen und ganzheitlichen Wahrnehmung des gestalthaften Gesamteindrucks des zu kategorisierenden Objekts. Stimmt das Ergebnis dieses holistischen Wahrnehmungsprozesses mit dem im Gedächtnis gespeicherten mentalen Bild von prototypischen Vertretern überein, so wird außerordentlich schnell kategorisiert und entsprechend benannt.(Schmid 2000, 46)
Bei den Scritte Murali kann dies aus oben genannten Gründen eventuell problematisch sein. Wichtig ist daher der zweite Kategorisierungstyp, den Schmid erwähnt: Sollte die erste Stufe nicht erfolgreich abgeschlossen werden, so wird das Objekt in visuelle und funktionale Attribute aufgedröselt, auf deren Basis dann die Zuordnung geschieht, wobei dafür nicht zwingend ein „kumulatives Checklistenverfahren die Entscheidung steuern muss“, sondern eventuell einzelne, besonders saliente Merkmale ausschlaggebend sind (vgl. Schmid 2000, 42). Es mag also lediglich ein Symbol in Herzform ausreichen, um eine Scritta zuordnen zu können.
Die Schwierigkeit, Scritte Murali-Genres anhand ihrer Formaspekte als Basiskategorien zu verstehen, liegt sicherlich auch daran, dass eines der wesentlichen Charakteristika, die in der Definition festgehalten wurden (Kapitel ), ist, dass Scritte Murali nicht reguliert sind und ihre Form (theoretisch) frei wählbar ist. Eine konventionelle Form, wie dies für andere Textformen gilt, ist hier also generell nicht zu vermuten.142
Die nächste Auswirkung auf die Basisebene basiert auf Punkt b) der konstitutiven Eigenschaften der Basisebene (s. o.) und betrifft die sog. „motorischen Programme“. Dieser Punkt steht in direkter Verbindung zu Aspekten, welche die Form (also perzeptorisch) und die Attribute betreffen, und geschieht aus funktionaler Perspektive (vgl. Rosch u.a. 1976, 386 sowie Kleiber 1998, 60 und 62).
Der etwas seltsam anmutende Ausdruck „motorische Programme“ (im Original bei Rosch et al motor patterns/programs oder motoric uses; vgl. 1976) gestaltet sich auf den ersten Blick ebenso problematisch für die Scritte Murali-Genres, wie schon die eben diskutierten perzeptorischen Aspekte. Laut Rosch und ihren Kollegen, zählen zu den Objektattributen die Art und Weise, wie Menschen üblicherweise („habitually“) mit den Objekten interagieren oder diese nutzen (1976, 386), oder wie Kleiber es ausdrückt, das Exemplare von Kategorien „einen ähnlichen Typ der Interaktion steuern“ (1998, 60). Die exemplarischen Objekte, die genannt werden (und auch Teil der Experimente sind), veranschaulichen diese These auf logische Manier: Objekte der Basiskategorie (und auch untergeordneten Kategorie) wie Stühle (oder Klappstühle) stimmen in den Handlungen, welche die Objekte ansteuern, – nämlich sich darauf zu setzen – überein. Für übergeordnete Kategorien (Möbel) ist das nicht der Fall (vgl. Rosch u.a. 1976, 386; Kleiber 1998, 60). Entscheidend ist dabei möglicherweise, dass die Experimente mithilfe von neun Stimuli (sechs nicht-biologische und drei biologische) durchgeführt wurden: Musikinstrument, Werkzeug, Kleidung, Baum, Fisch, Vogel usw. Trauben wurden bspw. gegessen, um die muskulär-motorischen Bewegungen als Attribut der Objekte zu erfassen (vgl. Rosch u.a. 1976, 394 und 388). Übertragen auf Scritte Murali, stellt sich nun die Frage, welche Art von Interaktionstyp angesteuert wird, bzw. in alltagstauglicher Version: Was mache ich, wenn ich mit einer Scritta konfrontiert werde?
Ein möglicher Zugriff auf die Scritte Murali aus dieser Perspektive eröffnet sich durch Ansätze die sich generell mit Embodiment beschäftigen. Bereits mit Rosch und Lloyd (1978), spätestens aber seit den 1980er Jahren, beschäftigen sich Forscher mit dieser Thematik, welche seitdem auch zu einem der zentralen Bereiche der kognitiven Linguistik geworden ist. Wie so oft, gibt es auch für diesen Begriff unzählige Beschreibungen und abhängig von Forscher und Forschungsziel, variieren die Konzepte, die mit Embodiment gemeint sind. Die oben genannten angesteuerten Interaktionen müssen für unsere Zwecke in einem Sinn gedeutet werden, welcher über reine sensori-motorische Aspekte hinausreicht, – wie dies in Ansätzen der letzten Jahre auch geschehen ist. Grundlegend ist dabei, dass mit body nicht nur neuro-physiologische Aspekte gemeint sind, sondern den Begriff so weit zu fassen, dass er den Körper in „its full phenomenological complexity, as the place where affect and emotions are articulated” versteht (Violi 2008, 59). Eine Eröffnung des Verständnisses in diese Richtung erlaubt es uns die Frage, wie die Teilnehmer mit Scritte Murali interagieren, anhand der emotions- und affekt-gesteuerten Handlungen zu beantworten.
Bodily states are always, and at the same time, pathemic states, endowed and infused with feelings and emotions. Body is where emotions have their primary space, and if we do not take this aspect of embodiment into account in our analysis, we miss a crucial dimension of meaning making, and risk ending up with a totally inadequate and reduced conception of the body itself.(Violi 2008, 70)
Rezipienten reagieren auf Liebes-Scritte anders, als sie dies bspw. bei politischen Botschaften tun, wobei die Reaktionen für den Großteil der Rezipienten nicht motorisch auffällig sind, sondern eben auf emotional-affektiver Ebene.143 Die Art und Weise, wie Teilnehmer auf die verschiedenen Scritte-Kategorien reagieren, ist dabei stark sowohl von sozio-kulturellen Faktoren, wie auch von individueller Erfahrung bzw. Weltwissen abhängig – dazu an späterer Stelle noch genauer. Das bedeutet, dass je nachdem über welches Hintergrundwissen die Teilnehmer verfügen und welche persönlichen Erfahrungen sie gemacht haben, fällt die Reaktion auf die Scritte aus, vorausgesetzt natürlich, dass sie die Scritta überhaupt rezipieren und nicht (un-/bewusst) ausblenden. Wie genau die Teilnehmer interagieren bzw. reagieren, kann an dieser Stelle nicht bestimmt werden, da diese Fragestellung zu weit vom Thema wegführen würde, und daher möchte ich auch keine Vermutungen dazu anstellen. Ich gehe jedoch davon aus, dass es vordergründig darum geht, ob sich die Teilnehmer angesprochen fühlen oder nicht. Wenn dies nicht der Fall ist, dann würde eventuell für die Kategorien allgemein gelten, dass gleichgültig auf sie reagiert wird. Dies würde natürlich gegen die These sprechen, dass es sich bei Scritte-Genres um Basiskategorien handelt. Jedoch hängt das meiner Meinung nach damit zusammen, dass es sich hier um ganz anders gestaltete Objekte handelt – und zwar abstrakte Konstrukte, die emotional-affektive Aspekte der Teilnehmer ansteuern, und die v. a. erst innerhalb einer Kommunikationssituation Sinn ergeben – als dies bei Objekten wie Tisch oder Kleidung der Fall ist. Intuitiv lässt sich sicherlich annehmen, dass Scritte Murali-Genres, wie Politik, Ultras und Liebe, zueinander unterschiedliche Interaktionen erfordern, wobei diese Interaktionen dann für Mitglieder der jeweiligen Kategorien ähnlich ausfallen.144 Nichtsdestotrotz ist diese Auswirkung der motor programs bzw., wie hier geschehen, weiter gedeutet als emotional-affektive Handlungssequenzen, insgesamt als problematisch anzusehen, wenn es darum geht, die Genres als Basiskategorien zu fassen.
Die letzte Perspektive, die Kleiber bezüglich der Auswirkungen nennt, ist die kommunikative Ebene (vgl. 1998, 60-62). Hier stehen besonders die Benennung und die Kontextneutralität im Vordergrund.
Ein Objekt wird in dem meisten Fällen mit einem Ausdruck der Basisebene bezeichnet. Dieses wesentliche sprachliche Merkmal der Basisebene zeigt sich deutlich bei verschiedenen Versuchen. Sprecher, die man fragt, was eine bestimmte Zeichnung eines Objektes darstellt, greifen vorzugsweise auf Ausdrücke der Basisebene zurück.(Kleiber 1998, 60)
Rein intuitiv ist dies bereits mehrmals in diesem Kapitel geschehen und zwar jedes Mal, wenn von Liebes-Scritte (oder allgemeiner Liebes-Graffiti) usw. die Rede ist.145 Die Tatsache, dass man Scritte wie in Abb. 27 und 29 jeweils als Liebes-Graffiti bzw. –Scritta und Politik-Graffiti und nicht einfach als Graffiti bezeichnet – zumindest an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit146 – spiegelt die Annahme wieder, dass Basiseben die Bezeichnungen für die Objekte liefern.
Bedeutender als die bisher zu Punkt 5 ausgeführten Effekte bezüglich der Basisebene, ist eigentlich die Erklärung für diese Auswirkungen, welche letztlich auch in der fünften Bedingung (s. o.) als Beschreibung der Basiskategorien aufgenommen wurde:
[T]he basic level of abstraction in a taxonomy is the level at which categories carry the most information, possess the highest cue validity, and are, thus, the most differentiated from one another.(Herv. SL; Rosch u.a. 1976, 383)
Mitglieder von Basiskategorien teilen eine signifikante Menge an Attributen (vgl. Eigenschaft a) der Basisebene; s. o.), den sog. information-rich bundles of attributes, was zu einem besonderen Informationsreichtum führt. Belegt wurde diese These, ebenfalls durch Experimente von Rosch und zwar indem die Teilnehmer gebeten wurden, die ihrer Meinung nach charakteristischen Eigenschaften von (vorgegebenen) Alltagsgegenständen aufzulisten (vgl. Rosch u.a. 1976, Experiment 1; Rosch/Mervis 1975). Diese Experimente der Attributenauflistung dienten nicht nur dazu, um die Thesen über die Basisebenen zu bestätigen, sondern schlugen eine weitere Brücke zwischen der Proto-/Typikalität und den Basiskategorien (vgl. Schmid 2000, 41).
Im Vergleich zur Basisebene, weisen die übergeordneten Ebenen kaum Merkmale auf, die all ihren Mitgliedern gemeinsam sind. Die untergeordnete Ebene dagegen, tendiert dazu über etwas mehr Attribute zu verfügen, als dies bei den Vertretern der Basiskategorien der Fall ist. So können kaum globale Attribute für eine übergeordnete Kategorie Möbel gefunden werden, für Basiskategorien wie Stuhl oder Schrank dagegen schon. Mitglieder, welche der Basiskategorie Stuhl untergeordnet sind – bspw. Schreibtischstuhl – , weisen dann einige zusätzliche, nämlich spezifischere Merkmale auf, als dies bei der Basisebene der Fall ist. Es nimmt der Informationsgehalt also nicht mit jeder Ebene zu, sondern der entscheidende Sprung geschieht zwischen der übergeordneten und Basisebene (vgl. Kleiber 1998, 62-63). Der Übergang zur untergeordneten Ebene erfordert innerhalb der Kategorisierungsprozesse eine erhöhte kognitive Leistung bei vergleichsweise geringem Nutzen dieses Mehraufwands, weshalb die Basisebene auch am ökonomischsten ist. Untergeordnete Kategorien weisen zwar mehr Attribute auf, jedoch ist die kognitive Ökonomie der Ebene nicht ausbalanciert, da diese zusätzlichen Informationen bei der Kategorisierung nicht wirklich von Vorteil sind. Übergeordnete Kategorien bieten auf der anderen Seite einfach nicht genügend Informationen, um die Kategorien voneinander abzugrenzen (vgl. Schmid 2000, 41; Rosch u.a. 1976, 384). So fasst Rosch zusammen, dass „the basic categorization is the most general and inclusive level at which categories can delineate real-world correlational structures” (1976, 384).
Auf den Gegenstandsbereich der Scritte Murali bezogen, ergibt sich aus dem Faktor der kookkurierenden information-rich bundles of attributes zunächst eine grundlegende Struktur, wie sie in Abb. 39 schematisch zusammengefasst ist.147
Die übergeordnete Ebene sind die Scritte Murali allgemein, welche über bestimmte Attribute (d) verfügen und zwar jene, die in der Definition (DEFAULT) zusammengefasst wurden. Diese Attributen gelten auch für die Kategorien der Basisebene, also den Scritte Murali-Genres, wobei diese jedoch über weitaus mehr Merkmale (hier exemplarisch a) und b), jeweils für die Genres Politik und Ultras) und damit Informationen verfügen, wobei diese Kategorien einige Attribute (c) teilen. Auf der untergeordneten Ebene erscheinen dann Kategorien, welche jeweils mit den Basiskategorien bestimmte Attribute (e) gemein haben, jedoch über einige, spezifische Merkmale zusätzlich verfügen (f und g).
Von den vier Eigenschaften, die Rosch u.a. den Basiskategorien zugeschrieben haben (vgl. 1976; s. o.), sind es v. a. die Attribute (siehe Eigenschaft a), welche zur gezeigten Kategorisierungsstruktur in Abb. 39 führen. Eigenschaften b-d (die gemeinsamen motorischen Programme und Formen sowie die Durchschnittsform der Klassenmitglieder; s. o.) dagegen müssen für den Untersuchungsgegenstand Scritte Murali zumindest anders gedeutet werden, um bei der Kategorisierung die gleiche Bedeutung einzunehmen.
4.1.6. Der (kulturelle) Kontext und weitere Anmerkungen
Beschäftigt man sich mit Prototypikalität, so besteht die Gefahr, dass man zur irrtümlichen Annahme gelangt, es handle sich bei Prototypen und prototypisch organisierten Kategorien um allgemein gültige Strukturen, d. h. Strukturen, die unabhängig vom Kontext gültig sind. Diese Annahme entspricht bereits bei kognitiven Kategorien von so alltäglichen Objekten wie Stuhl oder Kleidung nicht der Realität. Weder die Prototypen, noch ihre Kategoriegrenzen sind starr, sondern können sich ändern, abhängig vom konkreten Kontext in den sie eingebunden sind bzw. in welchem die Teilnehmer die Kategorien prozessieren (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 45).148 Wie in Kapitel dargestellt wurde, handelt es sich bei den Scritte Murali um eine Kommunikationsform, die zu einem hohen Maße vom Kontext – und dabei besonders vom Ort – mitbestimmt wird. Diese Voraussetzung legt nahe, dass kontextuelle Faktoren auch innerhalb der kognitiven Kategorisierungsprozesse der SM von grundlegender Bedeutung sind. Erkennbar war dies auch in den angeführten Beispielen der Unterkapitel von und erklärt sich daran, dass Rezipienten die Scritte zwar mit einem abstrakten Prototypen vergleichen, dies in Hinblick auf die Funktion der Scritte – also um die Scritta zu ‘verstehen’ – jedoch immer anhand des konkret vorliegenden Kontextes vollziehen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Ausführung zu kontextuellen Faktoren aus DEFAULT zu wiederholen, sondern die Konsequenzen des Kontextes speziell für die Kategorisierungsprozesse von Scritte Murali festzuhalten. Selbstverständlich gibt es Überschneidungen für die Konzepte und Prinzipien, die hinter dem Begriff Kontext stehen und doch muss man sich bewusst sein, dass wir uns hier aus einer anderen Perspektive mit den SM beschäftigen: die in DEFAULT angeführten Beschreibungen zum Kontext fanden im Rahmen der gesamten Kommunikationskonstellation statt, mit dem Zweck analytische Basisdimensionen zu fixieren, wobei Kontext bezüglich der objektiven Ortsdaten (in Form von Koordinaten) und des interpretierten Raumes zu deuten ist. Die Kategorisierungsprozesse beim Verarbeiten der SM unterliegen natürlich den kontextuellen Basisbedingungen, da sie ein bzw. der zentrale Schritt für das Verständnis der Scritte seitens der Teilnehmer sind. Innerhalb dieser kognitiven Dimension der Prototypenbildung muss der Faktor Kontext jedoch als mentales Phänomen verstanden werden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 47). Dazu sollen nachfolgend einige grundlegende Eckpunkte zusammengefasst werden.
Mit Ungerer und Schmid (2006) ist zunächst terminologisch zwischen ‘Kontext’ und ‘Situation’ zu differenzieren: ersteres umfasst den Bereich der mentalen Phänomene, letzteres bezieht sich auf „some state of affairs in the ‚real world’” (2006, 48). Der Begriff Situation beschreibt demnach die Interaktion von Objekten in der Welt, wobei diese Situationen dann bei den Teilnehmern die kognitiven Konzepte dieser Objekte aufrufen. Die kognitive Repräsentation der Interaktion(en) zwischen diesen kategorialen Konzepten wird als Kontext bezeichnet (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 48-49). Obwohl hier klar von ‘Kontext’, wie er in Kapitel beschrieben wurde, unterschieden werden muss, weil es strenggenommen nicht um die kommunikative Situation geht, ist diese Lesart von ‘Kontext’ als kognitive Repräsentation nicht als isoliertes Phänomen zu verstehen. Die Interaktionen zwischen den kognitiven Konzepten sind mit abgespeichertem Wissen verknüpft, das unmittelbar abgerufen und in Beziehung gesetzt wird. So wird nicht nur kontext-spezifisches Hintergrundwissen zu den aktuell relevanten Kategorien aktiviert, sondern auch Wissen über weitere Kategorien und Kontexte, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem aktivierten Kontext stehen. Zu den unterschiedlichsten Phänomenen, mit denen der Mensch tagtäglich interagiert, sind unzählige und miteinander verknüpfte Konzepte und Kontexte mental abgespeichert. Begrifflich können diese Wissensstrukturen als cognitive models zusammengefasst werden, wobei diese im engen Zusammenhang mit ähnlichen Konzepten, wie z. B. den oben erwähnten Frames, stehen (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 49). Die kognitiven Modelle sind grundlegend dadurch charakterisiert, dass ihr Umfang nicht begrenzt ist, da immer weitere Kategorien und Kontexte aktiviert werden können, wodurch Beschreibungen dieser Modelle auch nie vollständig sein können, sondern immer nur einen Ausschnitt des Modells darstellen. Ebenso tendieren kognitive Modelle dazu, Netzwerke zu bilden, wie dies auch für die Kontexte (im Sinne von mentalen Repräsentationen) gilt, und schließlich sind diese Modelle überall zu finden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 50). D. h.,
[in] every act of categorization we are more or less consciously referring to one or several cognitive models that we have stored. Only in the very rare case when we encounter a totally unfamiliar object or situation will no appropriate cognitive model be available, but even then we will presumably try to call up similar experiences and immediately form a cognitive model.(Ungerer/Schmid 2006, 51)
Die Kontexte und kognitiven Modelle, die bei der Interaktion mit Objekten abgerufen werden, können die kategorialen Strukturen und Prototypen grundlegend beeinflussen und die Anordnung von Exemplaren als zentrale oder periphere Vertreter von Grund auf ändern. Ungerer und Schmid zeigen dies anhand von einfachen Beispielen zur Kategorie Hund (vgl. 2006, 45-46): In einem kontext-neutralen Experiment wäre es wahrscheinlich, dass der deutsche Schäferhund als prototypischer Vertreter der Kategorie Hund ermittelt würde.
- Sie brachte ihren Hund zum Friseur, um seine Locken neu machen zu lassen.
- Vom Beginn des Rennens an, jagten die Hunde den Hasen.
Durch einfache Satzkonstruktionen wie in 1. und 2. kommt es nicht nur zu einer Verschiebung der kategorialen Prototypen – für 1) wäre eine Art Schoßhund, für 2) ein Rennhund typisch – sondern alle anderen Hundearten würden peripher eingeordnet werden müssen. Der kontext-neutrale Prototyp am Beispiel des Schäferhunds, wäre im Kontext von Beispielsatz 1 nicht mehr ansatzweise in Zentrumsnähe zu finden (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 46). Eine mögliche Erklärung dafür, dass sich die Kategorie-Prototypen sowie die gesamte kategoriale Struktur in der Anordnung ihrer Mitglieder verändert, findet sich im Bereich der kategoriespezifischen Attribute und zwar in zweifacher Weise: zum einen kann die Gewichtung bestimmter Attribute durch den Kontext abgeändert werden, d. h. Attribute, die in kontext-neutralen Kategorien typisch und damit von hohem Gewicht sind, können in bestimmten Kontexten an Bedeutung verlieren. Zum anderen können Attribute durch Kontexte nicht nur prominenter, sondern sogar neu eingeführt werden.149 So fassen Ungerer und Schmid zusammen:
With the introduction of new attributes and the re-evaluation of the weights of existing ones the attribute list for a member of a category changes completely. The result is that previously peripheral examples are equipped with large bundles of heavily weighted attributes and turned into good examples or even prototypes, while well-established good examples are reduced to the status of marginal members.(Ungerer/Schmid 2006, 47)
Die unterschiedliche Gewichtung der Attribute begründet Lakoff damit, dass es sich bei den Attributen bzw. Eigenschaften (properties) nicht um etwas objektiv in der Welt existierendes handelt, das für alle Lebewesen gleich ist, sondern diese Eigenschaften sind als interactional properties zu verstehen, sprich, sie sind Ergebnis unserer Interaktion „as part of our physical and cultural enviroments“ (1987, 51). Diese interaktionalen Eigenschaften bilden Erfahrungsbündel und können sich in Prototypen und Basiskategorien widerspiegeln (vgl. Lakoff 1987, 51).
Kognitive Modelle als “cognitive, basically psychological, view of the stored knowledge about a certain field” (Ungerer/Schmid 2006, 51) können zu einem hohen Grad nur idealisiert beschrieben werden, da das Hintergrundwissen von Person zu Person verschiedenartig ausgeprägt ist und auf individuellen Erfahrungen beruht. Somit geht man bei der Beschreibung der Modelle von der Annahme aus, dass größere Personengemeinschaften über das gleiche Grundwissen verfügen, so z. B. über Hunderennen. Eng mit den cognitive models der Kognitiven und Psycholinguistik verbunden, sind die sog. cultural models aus der Sozio- und Anthropologischen Linguistik. Letztgenannte Modelle können als kognitive Modelle verstanden werden, die von Personen geteilt werden, welche zur gleichen sozialen (Unter-) Gruppe gehören. Andersherum bedingen kulturelle Modelle die kognitiven Modelle besonders in bestimmten Bereichen, die spezifisch für bestimmte kulturelle Gesellschaftsgruppen sind. Kognitive Modelle erlauben demnach größere individuelle Varianz, kulturelle Modelle dagegen sind durch einen vereinenden Aspekt charakterisiert – beide Modelle sind also als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen. Kulturelle Hintergründe beeinflussen nachhaltig die konzeptuellen Strukturen und letztlich auch die Wahl von Prototypen für Kategorien (vgl. Ungerer/Schmid 2006, 51-52).
Bei der Kategorisierung von Scritte Murali als Teil des Verstehensprozesses der Gesamtbotschaft, sind diese kontextuellen Aspekte von großer Bedeutung. Die ‘Situation’, im Sinne von Interaktionen von Objekten in der Welt (s. o.), bezieht sich dabei nicht nur auf die Textebene der Scritte, sondern beginnt bereits beim ‘Objekt’ der Scritta an sich, wodurch beim Rezipienten mentale Konzepte zu dieser Kommunikationsform aufgerufen werden, mit Merkmalen, wie sie in der Definition der Scritte Murali (siehe DEFAULT) zusammengefasst wurden, also ‘transgressiv’, ‘nicht-reguliert’, ‘öffentlich sichtbar’, ‘informell-privat’ usw.. Der Standort muss dabei ebenfalls als Objekt gedeutet werden, mit dem weitere Objekte – namentlich die Rezipienten und die Scritta an sich, die eine symphysische Verbindung mit dem Träger an diesem konkreten Standort eingeht – interagieren. Auch auf Texteebene interagieren Objekte und rufen mentale Konzepte oder Kategorien auf. Die Interaktion zwischen den Objekten auf Textebene und auf Ebene der materiell-medialen, ortsgebundenen Scritta als Gesamteinheit bilden komplexe ‘Kontexte’ (hier im Sinne von mentalen Phänomenen; s. o.), die in kognitive und kulturelle Modelle eingebettet sind und mit deren Hilfe die Scritta interpretiert werden kann – abhängig vom individuellen und kulturell bedingten Wissen der Teilnehmer.
In einem Beispiel wie die Scritta rechts im Bild aus Abb. 40, rufen sowohl die Objekte auf Textebene (Tufello, quartiere und das politische Symbol) als auch die Gesamtscritta in Verbindung mit ihrem Standort, entsprechende Konzepte und mit ihnen verbundene Kontexte (also die mentale Repräsentation der inter-konzeptuellen Interaktionen) auf, welche wiederum in ein weitverzweigtes Netz von Wissensstrukturen integriert sind. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass eben diese Kontexte und kognitiven wie kulturellen Modelle die wahrgenommene Typikalität der Scritta und den mental repräsentierten Prototyp ändern können und zwar auf Basis der Attribute. Für die Scritta, wie sie hier vorliegt wäre ein mögliches Szenario bei der Kategorisierung folgendes: Im Vergleich zu einem Prototyp der allgemein für Scritte Murali gilt (also themen- und ortsunabhängig) wäre an dieser Scritta bspw. die Anonymität der Produzenten und die materiell-mediale Realisierung. Ebenso typisch wäre für ein Genre Politik die Verwendung von politischen Symbolen150 und bestimmter lexikalischer Elemente (libero und ribelle). Für eine vom prototypischen Zentrum entferntere Anordnung der Scritta würde die relative Länge und ‘Ausführlichkeit’ der Scritta sprechen, ebenso wie die Grußformel(n) Benvenuti/e und der präparierte Untergrund der Scritta.151 Die Scritta wäre daher eventuell auf einer mittleren Stufe innerhalb des Prototypenfeldes anzusetzen, da den typischen Attributen ebenso viele untypische gegenüberstehen. Berücksichtigt man bestimmte Kontexte und geht man von bestimmtem Hintergrundwissen und zwar v. a. auf kultureller Ebene (also hinsichtlich der cultural models) aus, so verschiebt sich der Prototyp und die gesamte kategoriale Struktur. Mit dem Wissen, dass sich die Scritta an einer der zentralen Straßenkreuzungen des Stadtviertels Tufello in Rom befindet und Tufello seit mehreren Jahrzehnten für seine strikt linkspolitische Orientierung bekannt ist, werden die Attribute neu evaluiert und untypische Attribute werden zu typischen. Dabei ist es dienlich, dass der Rezipient nicht nur über ortsspezifisches Wissen verfügt, sondern außerdem Wissen über lokal überaus aktive politische Gruppierungen besitzt, welches er mit der Scritta in Verbindung bringen kann (und zwar als potentielle oder vielmehr höchstwahrscheinliche Produzenten). Weiß der Rezipient, dass diesen Gruppierungen mehr oder weniger inoffiziell das Recht zugesprochen wird Scritte in ‘ihrem’ Gebiet zu erstellen, so ändert sich das Gewicht von Attributen wie Länge des Textes und präparierter Untergrund.
Ähnliches gilt für die Scritta in Abb. 41. Wie wir bereits bei einem anderen Beispiel (Maurizio vive; Abb. 26) sehen konnten, ist die syntaktische Konstruktion (Eigenname + vive) typisch für Scritte. Aufgrund der Kürze und Abwesenheit von politischen Symbolen, ist spezifisches, kulturelles Hintergrundwissen nötig, um die Scritta als typisch oder untypisch kategorisieren zu können. Der Fall von Stefano Cucchi, der in Rom 2009 zu Tode kam, während er sich in Polizeigewahrsam befand, beschäftigte nicht nur landesweit die italienischen Medien (vgl. MorteDiStefanoCucchi-Wikipedia), sondern hat seitdem auch die Aufmerksamkeit politischer Linksgruppierungen auf sich gezogen, die die teils ungeklärten Todesumstände Cucchis der Polizeigewalt und Staatsmacht zuschreiben. Wiederholt taucht der Name in diesem Diskurs seitens linker, teils extremer, Gruppierungen auf. Die Scritta befindet sich, wie die vorige Scritta (Abb. 41), in Tufello, dem von linkspolitischen Gruppen dominierten Stadtviertel in Rom, wodurch die Scritta trotz den nicht vorhandenen, expliziten Hinweisen auf das Genre Politik eine typische (politische) Scritta auf Basis der kognitiven und kulturellen Modelle zu den Objekt-Konzepten zu Tufello und Stefano Cucchi. Stärker gewichtet wird möglicherweise auch die rote Schriftfarbe, die eine emotional-konnotative Nähe zur linkspolitischen Szene wiedergeben kann. Würde eine solche Scritta in Blau geschrieben und v. a. in einem Territorium zu finden, welches gemeinhin für seine rechts-politische Gesinnung bekannt ist – man denke bspw. an das Quartiere Africano und die dort befindliche Paolo di Nella-Schrift in Abb. 29 – so würde die Schrift aufgrund der Einbettung in diese abweichende kognitiven und kulturellen Wissensstrukturen sicherlich als untypisch eingeordnet werden.
Besonders deutlich wird die Bedeutung des kulturellen Wissens im nächsten und letzten Beispiel (Abb. 42). Für eine Zuordnung zu einem Genre Politik stehen lediglich zwei Token (der in kyrillischer Schriftsprache dargestellte Eigenname Asow (ukr. Азов) und das Symbol darunter) und eventuell der Standort zur Verfügung. Zunächst lässt die Zeichenanordnung (Eigenname oben und Symbol darunter) auf eine politische Scritta schließen. Dieses Attribut wird für viele der Rezipienten, die nicht über das nötige Hintergrundwissen zu den Konzepten von ASOW und dem durch das Symbol dargestellten Inhalt verfügen, mit einem höheren Gewicht bemessen, allein aufgrund der Tatsache, dass nicht genügend weitere Attribute vorliegen. Besitzt der Rezipient Wissen zu den beiden Token, so kann er oder sie problemlos die Scritta zum Genre Politik zuordnen, mit dem entsprechenden Prototypen vergleichen und dahingehend in der Struktur verorten. Dann wird erkennbar, dass Азов (Asow) gekürzt für das Regiment Asow steht, eine für ihre rechtsextreme Gesinnung bekannte, paramilitärische Kampfeinheit, die im Ukraine-Konflikt gegen prorussische Separatisten gekämpft haben, und die in ihrem Abzeichen das Symbol der Wolfsangel verwenden (vgl. RegimentAsow-Wikipedia). Die Wolfsangel wird aufgrund ihrer Verwendung von SS-Divisionen während der Nazi-Zeit als rechtsextremes Erkennungszeichen eingestuft (vgl. WolfsangelSymbol-Wikipedia). Dieses Wissen lässt die Verwendung von kyrillischem (im Vergleich zum italienischen) Zeichensystem von einem eigentlich besonders untypischen zu einem typischeren Attribut werden. Das gleiche gilt für das (im Vergleich zu anderen rechtsextremen Symbolen, wie das keltische Kreuz oder dem Hakenkreuz) eher selten auftretende Symbol der Wolfsangel, da es besonders typisch ist, den Namen der Organisation und dem Erkennungssymbol zu kombinieren.
Die Beispiele aus den Abb. 40-42 stammen aus dem Bereich des Genres Politik. Die Auswirkungen von kognitiven und kulturellen Modellen gelten jedoch auch für die anderen Bereiche, wie z. B. die Liebesscritte aus oben genannten Beispielen. Das Prinzip ist dabei das gleiche, jedoch sind die Prozesse offensichtlich anders gestaltet, da Kontexte wie ‘jemandem seine Gefühle mitteilen’, ‘Liebesbotschaften übermitteln’ usw. sicherlich zu einem weitaus geringerem Maße an lokale oder spezifische Wissensnetzwerke, wie z. B. Rechts- oder Linksextremismus, gebunden sind, sondern für den Großteil der europäischen Bevölkerung ab einem gewissen Alter anzunehmen ist.
Nachdem der theoretische Rahmen für die Genre-Prototypen festgelegt wurde und die Lesart der Bedingungen exemplarisch an Scritte-Beispielen vertieft wurde, stellt sich nun die Frage nach welchen Kriterien oder nach welcher Dimension die Genre-Prototypen gruppiert werden. Dies möchte ich im folgenden Kapitel ausführen und begründen.
4.2. Abgrenzung der Genres nach Domänen
Besonders die Ausführungen zur Basisebene – und dabei v. a. die beispielhaften Bezüge auf die Scritte Murali – (siehe DEFAULT) implizieren, dass die Genres und ihre Prototypen nach bestimmten Gruppen geordnet sind. Rein intuitiv wurden die exemplarischen Scritte demnach innerhalb möglichen Genres wie etwa ‘Liebe’ oder ‘Politik’ verortet. Wie oben beschrieben (siehe DEFAULT), verstehe ich Genres als strukturierte, sozio-kognitive Komplexe, die bei der Typisierung (sowohl für das Erstellen als auch das Verstehen) einen zentralen Orientierungspunkt darstellen und nach verschiedenen Kriterien voneinander abgegrenzt werden können. Hinsichtlich des Analyse-Modells muss an dieser Stelle Wahl für eine bestimmte Dimension erklärt werden und gleichzeitig auf Vor- und Nachteile und etwaige weitere (sinnvolle) Möglichkeiten hingewiesen werden.
Ausgangspunkt ist dabei, dass Scritte Murali als Kommunikationsform verstanden werden, die in Form von multimodalen, ortsgebundenen Texten erscheinen. Beim „Umgang mit [diesen] Kommunikationsangeboten“ (Stöckl 2016, 20)“ sind Typisierungsleistungen grundlegend und machen es dem Teilnehmer erst möglich, die Scritte in Bezug auf ihren Botschaftsgehalt (oder, etwas abstrakter, die Funktion) zu interpretieren. Schmitz fasst verschiedene Möglichkeiten bei der Einteilung von Textsorten zusammen, wobei sich die gewählten Dimensionen abhängig vom „Zweck und Erkenntnisinteresse“ der Forscher zeigen (2016, 338). So können neben den ‘klassischen’ Einteilungen nach mündlich – schriftlich, monologisch – dialogisch usw. (vgl. Schmitz 2016, 338) auch nach Textfunktion (z. B. Information, Appell, Obligation usw.), Themenspezifik, Kommunikationsbereichen oder den Relationen zwischen den Modi gruppiert werden (vgl. Schmitz 2016, 339). Solche Gruppierungen spiegeln sich auch in den in Kapitel wiederholt erwähnten Bezeichnungen für Graffitiformen wieder, wie sie in der oben zitierten Literatur auftaucht (vgl. Northoff 2005, Lohmann 2017, Skrotzki 1999 usw.): Toilettengraffiti (Ort), Kindergraffiti (Produzenten), Protestgraffiti (Funktion und/oder Inhalt), Wortgraffiti (Zeichensystem) usw. Solche Gruppierungen sind aufgrund der fehlenden Systematik für wissenschaftliche Zwecke nur bedingt nutzbar – bspw. sind Wort- und Protestgraffiti sicherlich auch innerhalb der Toilettengraffiti zu finden –, was sicherlich auch an der unzureichenden Definition von Graffiti und den Unterformen liegt. Nichtsdestotrotz sind solche Gruppierungen auf eine bestimmte Art sinnvoll, auch wenn sie aus wissenschaftstheoretischer Sicht etwas willkürlich erscheinen mögen. Adamzik bemerkt ganz richtig, dass empirische, mit Korpora arbeitende Studien die Auswahl der Abgrenzungsmerkmale nicht willkürlich treffen, sondern diese induktiv, d. h. „durch das Beschreibungsobjekt geleitet“, wählen (2008, 167). Genau dies ist auch in der vorliegenden Arbeit der Fall, da die Wahl die Genres nach Domänen zu gruppieren, ganz intuitiv während der intensiven Arbeit mit dem Sprachmaterial hervorgegangen ist. Dies zeigt sich auch bis zu einem gewissen Grad, wenn man die Beispiele der vorherigen Kapitel betrachtet, da die Zuordnung einer Scritta wie Giulia ti amo ♥ zu einem Genre ‘Liebe’ logisch erscheint, ohne dies wissenschaftlich begründen zu müssen.152
Auf den ersten Blick scheint es, dass die Genre-Einteilung nach Politik, Ultras usw. nach der Abgrenzung nach Themenspezifik erfolgt, dass es sich also z. B. um ein Genre mit der Thematik Liebe handelt. Dies ist allerdings nur zum Teil richtig. In Kapitel wurde bereits darauf verwiesen, dass das Textthema (i. S. v. Information) für den „normalen Sprachbenutzer“ von vorrangigem Interesse ist, da er/sie davon die Gesamtbotschaft ableiten kann und dies „intuitiv am leichtesten“ geschieht, da man Themen direkt am Sprachmaterial ablesen kann (Adamzik 2016, 207). Entscheidend ist hier nun, dass sich das Textthema eben auf die Textebene bezieht und eine Erfassung des Textthemas nur unter Miteinbeziehung der Funktion und Kontext des Textes erfolgen kann (vgl. Adamzik 2016, 218). Eine „Vororientierung über den Inhalt“ (Adamzik 2016, 223) geschieht generell nicht ausschließlich über die konkret dargestellten Zeichen, sondern zu einem großen Teil über die evozierten kognitiven Konstrukte: „Bereits ein inhaltlich spezifisches Stichwort reicht aus, um kognitive Schemata zu aktivieren, die miteinander zusammenhängende Konzepte und Verbindungen zwischen ihnen aufrufen“ (Adamzik 2016, 223). Was bei Adamzik hier als „Schemata“ und „zusammenhängende Konzepte“ bezeichnet wird, habe ich bereits in Kapitel mit dem Konzept der Frames angesprochen und auch die Ausführungen zu cognitive und cultural models in Kapitel und Kapitel beziehen sich auf solche Prozesse.
Eben jene mentalen Konzepte sind es, unter welchen sich die Genres gruppieren und nicht die Textthemen. Anders ausgedrückt: Eine Scritta wie in Abb. 43, die im Vergleich zu einem mental repräsentierten Prototypen mehr oder weniger typisch ist, wird nicht zu einem Genre Politik zugeordnet, weil das Textthema Politik ist, sondern weil bestimmte Merkmale kognitive Wissensbestände aufrufen, die sich unter dem Begriff Politik bündeln lassen.
Die Bedeutung des individuellen und kulturellen Wissens wird hier besonders deutlich und erklärt gleichzeitig, weshalb man diese Scritta (als normaler Zeichenbenutzer) intuitiv einem Politik-Genre zuordnen würde: Das einzige Merkmal, von dem man annehmen kann, dass das Wissen darüber von einer relativ großen Personengemeinschaft geteilt wird (siehe DEFAULT), ist das semantisch spezifische Symbol des Hammer und Sichels. Das Wissen, dass es sich dabei um ein linkspolitisches Symbol handelt, wird durch dieses Zeichen aktiviert und reicht aus, um beim Betrachter eine Kategorisierung des Textes zu einem Genre Politik (mit der spezifischen Unterkategorie Linkspolitisch) zumindest vermuten zu lassen. Liegt entsprechendes Wissen zur Lokalität des Standortes (die Scritta befindet sich im oben beschriebenen Stadtviertel Tufello) vor, so erfolgt die Zuordnung schneller und sicherer – einfach weil der Standort beim Rezipienten die Erwartungshaltung für (links-) politische Scritte enorm steigert. Verfügt der Betrachter über spezifisches Wissen zu historisch-kulturellen Hintergründen des (links-) politischen Spektrums153 und über ausreichende sprachliche Kompetenzen154, besteht mit großer Wahrscheinlichkeit kein Zweifel für den Betrachter, dass es sich um eine politische Scritta handelt, d. h., dass die Zuordnung zum Politik-Genre zweifelsfrei logisch ist. Subsidiäre Merkmale, wie die rote Schriftfarbe, verstärkt die Zuordnung insofern, als die Farbe Rot aus historisch-kulturellen Gründen konnotativ mit Kommunisten verbunden wird.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, warum ausgerechnet nach solchen Kategorien (Politik, Liebe usw.) gruppiert werden sollte und nicht nach bspw. der Funktion.155 Meiner Ansicht nach ist eine mögliche Begründung dafür, dass eine Differenzierung zwischen Experten- und Laienwissen bzw. Experten- und Laienkategorisierung je unterschiedliche Arten des Umgangs mit Scritte Murali-Texten ergibt. Taylor unterscheidet zwischen expert categories, die sich über „the imposition of a set of criteria for category membership“ definieren, und folk categories (bzw. natural categories) des alltäglichen Lebens, „[which] are structured around prototypical instances and are grounded in the way people normally perceive and interact with the things in their environment“ (2003, 75). Experten tendieren dazu Abgrenzungskriterien zu erstellen, um klare Grenzen ziehen zu können und befriedigende Definitionen liefern zu können – wobei auch Sprachwissenschaftler keine Ausnahme bilden (vgl. Taylor 2003, 75). Ausgangspunkt ist also, wie Laien (i. S. v. ‘normalen Sprachbenutzern’) den Kommunikationsangeboten zu begegnen.
Um der chaotischen und überwältigenden Menge an Stimuli, der man im öffentlichen Raum ausgesetzt ist, Herr zu werden, muss selektiert und bestimmte Stimuli ausblendet oder ignoriert werden. Zu den Stimuli im öffentlichen Raum gehören dann auch Scritte Murali bzw. auf einer höheren Ebene Graffiti mit ihren vielen Unterformen. Kategorisierung spielt dabei eine entscheidende Rolle, da wir so Objekte, Aktionen und Events ordnen und uns entscheiden können, wie wir mit diesen Angeboten umgehen. Kommt der Betrachter nun zum Punkt, dass er eine Scritta aus welchen Gründen auch immer liest, so erfordert das Wesen der Scritte Murali, dass sich der Rezipient einen ersten Überblick über den Gegenstand verschafft – zunächst also die Frage nach dem ‘Was liegt hier überhaupt vor’. Wie gesagt, nicht nach den vertexteten Inhalten, sondern i. S. v. ‘Wie kann ich das Ganze benennen bzw. kategorisieren?’. Anders als bei anderen Kommunikationsangeboten im öffentlichen Raum, wie Straßenschildern, Werbetafeln, Zeitungskästen usw., ist bei den Scritte Murali die Kategorie eben nicht vorgegeben (da sie nicht reguliert sind) und eine Vororientierung ist daher nötig.156 Kategorisierung ist eine Frage des Sortierens innerhalb eines bestimmten Kontextes und dessen Anforderungen (vgl. Harnad 2005, 28). Die Anforderungen des Kontextes bei den Scritte Murali lässt zumindest vermuten, dass die Rezipienten bei einem Großteil der Scritte begrenzt Zeit haben, um das Objekt zu benennen, da sie sich in Bewegung befinden oder sich nur für eine begrenzte Zeit in Scritta-Nähe aufhalten.
Meiner Meinung nach ist für den Betrachter die Funktion der Scritta erst nach diesem Schritt der Gruppierung von Belang, da die Interpretation der Funktion (‘WOZU wurde diese Scritte erstellt?’) stark von der jeweils zugeordneten Domäne abhängt. Anders ausgedrückt: Der ‘normale Sprachbenutzer’ begegnet einer Liebes-Scritta anders als einer politischen Scritta, da die Domänen auf unterschiedliche Art und Weise mit seinem Leben zu tun haben. Eine solche Gruppierung gibt die Grundlage, die Scritta dementsprechend zu interpretieren, wie wir mit Objekten und Aktionen innerhalb der Domänen normalerweise interagieren.
Wie bei der Kategorisierung allgemein (vgl. Harnad 2005, 32), orientieren sich die Teilnehmer für eine erste Vorgruppierung der Scritta an den Merkmalen des vorliegenden Sprachmaterials und dabei v. a. an jenen, die semantisch besonders ‘aufgeladen’, sprich relativ deutlich abgegrenzt sind, und somit weniger Interpretationsspielraum bieten. Die Semantik sprachlicher Zeichen gibt die Kategorien sozusagen vor (s. o.; vgl. Adamzik 2016, 207 und 223). Funktionen, etwa im Sinne von ‘Soll mich überzeugen’ bzw. abstrakter ausgedrückt als ‘Appellieren’, ‘Informieren’ usw., sind dabei als Handlungen, die wiederum Teil von events sind, zu verstehen. Solche Handlungen oder events sind in einem Kategorisierungsprozess jedoch nicht so klar abzugrenzen wie Objekte (seien sie konkret oder abstrakt). D. h., die perzeptuellen und funktionalen Attribute von Objekten sind nicht nur unmittelbarer (direkter ablesbar), sondern im Vergleich zu den Attributen von Handlungen sind sie auch klarer definiert (vgl. Hanson/Hanson 2005, 12). Ganz abgesehen davon sind Kategorisierungsprozesse von Handlungen und events komplexer als die von Objekten, da sie „fusions of objects, organism and action categories“ darstellen (Ungerer/Schmid 2006, 109).157
Diese theoretischen Ausführungen werden recht schnell deutlich, wenn wir uns ein konkretes Beispiel vor Augen halten. Betrachtet man die oben gezeigte Scritta (Abb.33) Laziale albanese ASR, so ist es offensichtlich, dass eine Gruppierung dieser Scritta nach ihrer Funktion seitens eines ‘neutralen’ Betrachters weniger schnell erfolgen kann und auch bei weitem weniger klar ist, als für ein Mitglied einer Ultragruppierung. Für die Funktion müssen eben alle Merkmale miteinander abgeglichen und auf Basis der individuellen Wissenskonfigurationen interpretiert werden. Durchaus einfacher und schneller geschieht eine Gruppierung nach Domänen: Das sprachliche und semantische Wissen zu der Zeichenkombination ASR reicht aus, um den Text in einer Domäne des Fußballs zu verorten, da die inhaltliche Bedeutung von A.S. Rom keiner subjektiven Interpretation bedarf, um eine abstrakte Repräsentation abzurufen. Das Wissen zu laziale und albanese bedarf mehr Interpretationsarbeit, da ich zwar die Objekte den entsprechenden Kategorien zuordnen kann, die syntaktische Verbindung der beiden jedoch erst die richtige Kategorie (in etwa Fremdenfeindlichkeit) verrät. Die interpretierten Funktionen der Scritta sind dagegen höchst subjektiv, d. h., die Interpretation kann von Person zu Person völlig unterschiedlich ausfallen.158 Das Grundwissen, das für größere Personengruppen angenommen wird (siehe dazu Kapitel ), kann aus Sicht der Produzenten in erster Linie für die semantischen Inhalte der sprachlichen Zeichen vorausgesetzt werden. Dies ist für die Kategorisierung und letztlich für den gesamten Produktions- und Rezeptionsvorgang von großer Bedeutung, da die Teilnehmer davon ausgehen, dass bestimmte Merkmale ‘objektiv’ sind und nicht auf einer rein individuell-subjektiven Interpretation basieren. Dabei ist mit ‘objektiven’ Merkmalen weder gemeint, dass diese Merkmale nicht subjektiv gedeutet werden, noch, dass sie den Objekte per definitionem inhärent sind. Die Merkmale erscheinen lediglich als objektiv, weil die Teilnehmer annehmen (können), dass sie von größeren Personengruppen ähnlich wahrgenommen bzw. verstanden werden (vgl. Kleiber 1998, 66-68). Eines der aus dieser Sicht ‘objektivsten’ Merkmale sind die sprachlichen Zeichen mit ihren semantischen Inhalten.159
Zuletzt möchte ich kurz auf die Bezeichnung der Gruppen, nach welchen auf eben beschriebene Art und Weise geordnet wird, eingehen. Terminologische Abgrenzungen sind an dieser Stelle besonders wichtig, da die Bezeichnungen mit der Analyseebene zusammenhängen und die oftmals voneinander abweichenden Bezeichnungen in der Fachliteratur der entsprechenden Wissenschaftsbereiche erschweren das Verständnis, auf welche perspektivische Ebene man sich bezieht (vgl. Busse 2012, 698). Möglich wäre es diese als thematische Gruppen zu bezeichnen, ich meine jedoch, dass dabei zu sehr der Eindruck erweckt wird, es handle sich um die Textthematiken. Einen aus meiner Sicht geeigneten Begriff findet man bei Langacker (1987) und den von ihm beschriebenen domains und zwar in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs der sog. abstrakten Domänen. Langacker bemerkt dazu in einer Fußnote, dass „[an] abstract domain is essentially equivalent to what Lakoff […] terms an ICM (for idealized cognitive model) and what others have variously called a frame, scene, schema or even script” (Herv. im Orig; 1987, 150).160 Nach Taylor kann prinzipiell jede Konzeptualisierung oder Wissenskonfiguration, ganz gleich wie schlicht oder komplex sie sein mag, als semantische Domäne fungieren, auf deren Hintergrund Bedeutung beschrieben und verstanden wird (2003, 88). Langacker definiert Domänen als „coherent area[s] of conceptualization relative to which semantic units may be characterized“, wobei „[three-dimensional] space, smell, color, touch sensation, etc.“ sog. basic domains darstellen und Konzepte oder konzeptuelle Komplexe mit jedweder Art von Komplexität als abstract domains fungieren können (1987, 488). Nun können manche Einheiten mit Bezug auf lediglich eine Domäne erklärt werden, wahrscheinlicher ist es jedoch, dass sprachliche Formen auf dem Hintergrund mehrerer Domänen gleichzeitig verstanden werden – dies wird als domain matrix bezeichnet (vgl. Taylor 2003, 89; Cienki 2010, 183). In der Fachliteratur finden sich zahlreiche Beispiele, um diesen Ansatz zu verdeutlichen. Langacker stellt es am Beispiel der Knöchel dar: KNÖCHEL kann nur auf dem Hintergrund der Domäne FINGER verstanden werden, FINGER nur anhand der Domäne HAND, HAND anhand von ARM und ARM anhand von KÖRPER (vgl. 1987, 147-148).
Für den Bereich der Scritte Murali heißt das, dass die Domänen (-Matritzen), auf deren Hintergrund die Einheiten oder Token verstanden werden, als Abgrenzungsinstrument fungieren. Vereinfacht gesagt, ist eine Domäne für das Token ASR FUSSBALL, wobei andere Domänen wie SPIELER, VEREINSFARBEN oder FANGRUPPIERUNGEN damit verbunden werden. Mit dem Bewusstsein, dass es sich um eine transgressive und inoffizielle Kommunikationsform handelt und daher nicht zum offiziellen Kommunikationskanal des A.S. Rom als Fußballverein zählt, scheint eine Zuordnung der Scritta zu einer Domäne ULTRAS sinnvoll. Ähnliches gilt für Symbole wie keltische Kreuze oder Hammer und Sichel, die über die Domäne POLITIK verstanden werden. Innerhalb der Vororientierung sind solche weitgefassten Wissenskomplexe erstmal ausreichend, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Bei ‘Interesse’ können dann alle weiteren Attribute skrutiniert – wobei die evozierten Frames/Domänen/Schemata/kognitiven161 Modelle eine fundamentale Rolle spielen – und die Funktionen interpretiert werden.
Eine weitere Beobachtung, die besonders für den Ansatz der Basiskategorien von Bedeutung ist und, nachdem die Genre-Gruppen auf dieser Ebene zu vermuten sind (siehe DEFAULT), an dieser Stelle erwähnt werden sollte, bezieht sich auf die sog. ‘Teil-von’-Merkmale. Nach Rosch und ihren Kollegen (1976) handelt es sich bei den Kategorien der Basisebene um die informativste Ebene und dies liegt auch daran, dass die Basisebene im Gegensatz zu den anderen Ebenen von solchen Teil-von-Merkmalen dominiert ist, d. h., dass hier besonders viele, distinkte Merkmale zu finden sind, die auf Bestandteile von Objekten verweisen (vgl. Kleiber 1998, 69-70). Ungerer und Schmid bemerken im Zusammenhang mit type-of und part-whole Hierarchien, dass
Although they do not allow the quantification of instances of a certain category, uncountable terms like TRAFFIC, DEMOCRACY (or TELEVISION, SPORTS, RECREATION, etc.) are well suited to absorb everything that we connect with these categories. In this way, partonymic links contribute an important share to the construction of cognitive models and the networks in which they are assembled […].(Ungerer/Schmid 2006, 90)
Genau dies ist es, was im Rahmen der Vororientierung letztendlich geschieht: Termini wie LIEBE, ULTRAS, POLITIK usw. erlauben es dem Betrachter alle Scritte, die über besonders saliente und informationsreiche Merkmale mit den entsprechenden Kategorien in Verbindung stehen, diesen Domänen zu zuordnen.162
Betrachtet man den Sachverhalt aus Sicht der frame-semantischen Ansätze163, so muss grundlegend festgehalten werden, dass im Rahmen dieser Arbeit die Zuordnung zu den Frames (oder eben Domänen) nicht aus sprachhandlungstheoretischer Sicht geschieht – was durchaus möglich wäre -, sondern dass kognitive (oder epistemische)164 Organisationsabläufe im Vordergrund stehen. Dies bedeutet, dass bei der kategorialen Vorsortierung nicht der illokutionäre Gehalt des Text(teils) ausschlaggebend ist, sondern die Zuordnung von Attributen und Werten zu Kategorien. Die sprachlichen Einheiten (oder Token) evozieren somit Frames bzw. (implizit oder explizit) werden durch diese Token spezifische Bezugs- oder Referenzstellen beim Rezipienten aufgerufen, sog. slots oder Leerstellen (vgl. Ziem 2008, 299). Diese slots entsprechen den Attributen und können „vorausgesetzte und prototypisch erwartbare Füllwerte der Leerstellen“ (Ziem 2008b, 98) vorgeben (default values) oder explizit – d. h. auf der Textoberfläche – innehaben (sog. fillers). Fillers entsprechen also den konkret – d. h. in den Scritte-Texten – vorliegenden Informationseinheiten, default values liegen dagegen nicht konkret vor, sondern sind lediglich typischerweise erwartbare Füllwerte/Fillers (vgl. Ziem 2008b, 98).165 Tatsächlich evozieren nicht alle Token Frames, sondern bestimmte Kernelemente der Texte (i. S. v. Schlüsselausdrücken) aktivieren die entsprechen Wissensstrukturen (vgl. Fraas/Meier 2013, 139)166 – in der vorliegenden Arbeit werden diese Kernelemente als frame-identifier bezeichnet (siehe DEFAULT). Die Alltagserfahrungen spielen bei der Ermittlung dieser Leerstellen eine wichtige Rolle, wobei die Leerstellen, nach Ziem, als sinnvolle Fragen (in Bezug auf das Bezugsobjekt) zu begreifen sind (vgl. 2008, 304). Fillmore gibt schon in einer seiner frühen Arbeiten ein Beispiel dieser möglichen Fragen anhand des Verbes ‘schreiben’: Was wurde geschrieben? Worauf hast du geschrieben? usw. Handelt es sich dabei um einen Brief so werden wiederum eine Vielzahl an Leerstellen bzw. Fragen möglich: Wem schreibst du? Wann schickst du den Brief ab? usw. (vgl. Fillmore 1977, 64-65). Die Frames lassen sich demnach rekurrent in immer weitere Frames einbetten oder mit diesen verknüpfen, wobei mit steigendem Abstraktionsgrad der Frames auch die Fragen abstrakter werden und v. a. die Anzahl der möglichen Fragen sinkt (vgl. Ziem 2008, 306). Demnach ist es auch möglich, „die Menge möglicher Fragen so zu strukturieren und in Teilmengen zu gruppieren, dass sich letztlich eine überschaubare Menge an Fragen resp. Leerstellen ergibt“ (Ziem 2008, 306). Busse fasst dazu zusammen:
Sprachverstehen ist durchgängig Aktivierung von Frame-förmig organisierten Elementen und Strukturen des verstehensrelevanten Wissens. Einzelne Wörter evozieren Frames, und die Kombinationen von Wörtern schränken die Bereiche und den Umfang der evozierten Frames ein, indem sie durch Kontextualisierung einzelne der möglichen Attribute (Slots) der aktivierten Frames fokussieren (und latent andere ausblenden bzw. in den Hintergrund rücken) und / oder mögliche Filler / Werte für einzelne Attribute evozieren, oder auch zur Aktivierung völlig anderer Frames für das Nachbar-Wort veranlassen. Dabei interagieren i.e.S. sprachbezogene Frames (z. B. auf Wortarten und andere sprachliche / grammatische Phänomene bezogene Frames) mit anderen Weltwissens-Frames, indem die jeweils aktivierten Frames sich in ihrer Aktivierung gegenseitig beeinflussen. Dies geschieht als ein probabilistischer fortlaufender Abgleich-Prozess […], bei dem spontan evozierte Frames auch verworfen und durch passendere alternative Frames ersetzt werden können.(Busse 2012, 704)
Entscheidend für die Zuordnung der Scritte zu Domänen ist nun, dass die, durch die Token oder -kombinationen evozierten, Teil-Frames über interpretierende Prozesse in jeweils übergeordnete, abstraktere Frames zusammengefügt werden. (Solche taxonomischen Hierarchien i. S. v. Schema-Instanzbeziehugen, sind in der Linguistik allgemein bekannt als Hyperonymie- und Hyponymiebeziehungen.) Psycholinguistische Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Bildung solcher Frame-förmigen Wissenskomplexe durch „fortlaufendes Springen zwischen kompositionellen („bottom-up“) und deduktiv-ganzheitlichen oder gestalthaften („topdown“) kognitiven Aktivitäten“ vollziehen (???) – siehe hierzu die oben stehenden Ausführungen zur domain matrix und dem KNÖCHEL-HAND-Beispiel.
Offensichtlich sind solche verstehensrelevanten Zuordnungen immer stark subjektiv geleitet, da die Interpretation der Zeichen(folgen) durch die Rezipienten im konkreten Kontext interpretiert werden und dies auf Basis der sozio-biografischen Erfahrungen, der Interessen und Intentionen seitens der Rezipienten geschieht.167 Wissenschaftliche Analysen, die mit Instrumenten aus der Frame-Semantik arbeiten, können somit das Sprachverstehen nur anhand von Grundstrukturen rekonstruieren oder sich auf ausschnitthafte Einzelanalysen beschränken (vgl. Busse 2012, 705). Im Fall der vorliegenden Arbeit handelt es sich also um die wissenschaftliche Rekonstruktion solcher grundlegende Verstehensprozesse, die aus Sicht eines Rezipienten (nämlich des Verfassers dieser Arbeit) vorgenommen werden. Der komplexe Gesamtprozess des Sprachverstehens in Bezug auf Wissensstrukturen wird im Bereich der Frame-Theorie als Framing bezeichnet, wie Fraas und Meier zusammenfassen: „Framing betrifft den Prozess der Aktivierung kognitiver Strukturen in konkreten Kommunikationssituationen, also den Prozess der Kontextualisierung, Bedeutungskonstitution und Interpretation, der mit Komplexitätsreduktion, Kategorisierung, Perspektivierung, Selektion und Salienz verbunden ist“ (2013, 140). Für die Scritte Murali ist dabei das erweiterte Konzept des sog. visual framing von besonderer Bedeutung, da auf den drei Prozessebenen des Framing nicht nur sprachliche Zeichen von Bedeutung sind, sondern auch multimodale Merkmale der Texte miteinbezogen werden, der konkrete Kontext zentral ist – bei den Scritte, wie ich wiederholt erwähnt habe, betrifft dies v. a. den Standort – und schliesslich um die „Perspektivierung hinsichtlich der kommunikativen Auswahl“ (Fraas/Meier 2013, 141). Die erste Ebene bezieht sich auf die Prozesse der Bedeutungskonstitution innerhalb des Sprachverstehens, wobei im Rahmen des visual framing neben den lexikalischen Zeichen im Text auch bildgraphische Zeichen, Farben, Erstellungswerkzeug usw. (siehe dazu anschließend Kapitel ) der Bedeutungskonstitution der Texte beitragen. Framing ist auf einer zweiten Ebene aus soziologischer Sicht relevant, da es (das Framing) die interpretatorischen Prozesse von vorliegenden Situationen beschreibt (vgl. Goffman 1974), d. h., „[hier] werden Frames als kognitive Strukturen gesehen, die im Gedächtnis Organisationsprinzipien alltäglicher sozialer Situationen speichern und im Bedarfsfalle zur Verfügung stellen, wodurch alltägliches Handeln erst möglich wird“ (Fraas/Meier 2013, 141). Auch bei diesem Prozess spielen nicht nur sprachliche Aspekte eine Rolle, wenn sich der Rezipient frägt „what is it that’s going on here?“ (Goffman 1974, 8). Die dritte Prozessebene liegt im Bereich der Kommunikationswissenschaften und Wissenssoziologie sowie der Social Movement Theory, wobei hier von Belang ist, dass Sprachbenutzer in der Sprachgemeinschaft bewusst Kommunikationsstrategien erarbeiten und sich gewisse Modi-Kombinationen zu Nutze machen, um Gesellschaftszustände hervorzuheben und die Interpretation und Sichtweise auf die gleichen hervorzuheben (vgl. Fraas/Meier 2013, 141-142).168 Für die Abgrenzung der Genres ist es unerheblich, ob man die im Rahmen dieses komplexen Prozessverbundes (Framing) aktivierten Wissensstrukturen nun frames, idealized cognitive models (ICM) oder domains nennt – in der vorliegenden Arbeit handelt es sich dabei lediglich um eine terminologische Festlegung.
Entscheidend – und dies v. a. in Hinblick auf die Zuordnung bei der Erstellung des Korpus (siehe DEFAULT und DEFAULT) – sind zwei oben bereits erwähnte Aspekte: erstens die Abstraktionsprozesse bei der Verarbeitung des Sprachmaterials und zweitens die subjektive Basis der Interpretations- und Verstehensarbeit. Um eine Scritta vorsortieren zu können, d. h., sich einen Überblick schaffen zu können, müssen die Teil-Frames der Gesamtscritta in übergeordnete Zusammenhänge gebunden werden, um die Komplexität zu vermindern und das Sprachmaterial (vorläufig) „auf einer höheren Stufe kognitiv verarbeiten“ zu können (Ziem 2008b, 101). Es handelt sich also um eine vertikale, paradigmatische Dimension der Frame-Organisation, die hier der horizontalen Dimension vorsteht, wobei letztere „die Verschränkung von Frames entlang der syntagmatischen Organisation sprachlicher Einheiten thematisiert“ (Ziem 2008b, 101). Diese übergeordneten Frame-Komplexe (oder Matrix-Frames, Matrix-Domänen oder im Kontext dieser Arbeit eben vereinfacht bezeichnet als Domänen) sind insofern wichtig, da „vertikal verschränkte Frames danach fragen, inwiefern der Bedeutungsgehalt der anvisierten sprachlichen Einheiten durch übergeordnete – und mithin ‘abwesende’ Frames – mitbestimmt wird“ (Ziem 2008b, 102). Der zweite bedeutende Aspekt betrifft das Moment der Subjektivität bei den Verarbeitungsprozessen. Grundlegend werden Frames auch als „Alltagstheorien über Gegenstände und Verhältnisse in der Welt“ verstanden, d. h., Erfahrungen werden verarbeitet und gespeichert (vgl. Busse 2012, 547). Erfahrung kann dabei als kollektives oder individuell-persönliches Konzept gesehen werden, wobei
Frames (a) ordnen Erfahrungen einem Typ zu, (b) geben der Erfahrung eine Struktur, und (c) geben ihr Kohärenz. Das ‘Framing’ […] erzeugt ‘selektierte, gefilterte, und verallgemeinerte Erfahrungen’; die Wörter verweisen auf die so bearbeiteten Erfahrungen und strukturieren so das enzyklopädische und das semantische Gedächtnis zugleich. Diese Organisation der Erfahrungen verändert sich […] akkumulativ mit der Zunahme der Zahl von Situationen der ‘Einzelerfahrung’ und führt zu einer weiteren Ausdifferenzierung, möglicherweise auch zu zusätzlichen Abstraktionsstufen der Frame-Struktur. Gerade der für die Frame-Theorie so wichtige Aspekt der ‘Ausfüllung von Leerstellen’ ist nach dieser Auffassung eng an persönliche kommunikative und Lebenswelt-Erfahrungen der Individuen gebunden.(Herv. SL; Busse 2012, 548)
Dies bedeutet, dass die Scritte sowohl auf den persönlichen (lebensweltlichen, wie kommunikativen) Erfahrungen von Einzelpersonen als auch auf kollektiv (i. S. v. sozial geteiltem) vorhandenem Wissen (siehe auch DEFAULT) kategorisiert wird. Die Spracheinheiten – aber auch bildgraphische Zeichen – „sozialisieren“ diese Kategorisierungsleistungen169, „indem sie deren Ergebnisse ‘kommunizieren’, aber auch, indem sie dafür ‘Kristallisationspunkte’ abgeben“ (Busse 2012, 550) – konstruiert werden die Wissenskonstrukte aber immer individuell.170 Die Rekonstruktion dieser Kategorisierungsprozesse im Rahmen dieser Arbeit und somit auch der konkreten Zuordnung der Scritte zu Domänen (siehe DEFAULT) geschieht genau auf diesem Hintergrund, nämlich durch die Interpretation der kommunizierten Ergebnisse. Dies bedeutet in der konkreten Situation dann aber auch, dass die Zuordnung der Scritte zu Domänen (oder Frames) sowie die Verbindung der Frames unter einander – also sowohl in horizontaler als auch vertikaler Dimension – niemals allgemeingültig gelten kann, da sie stark von der Einzelperson abhängig ist.171 Dass Frame-Aktivierung grundlegend auf Erfahrungen gründet, bedeutet gleichzeitig, dass die Relevanz der Sprachzeichen – oder eben Scritte und deren Domänen – mitentscheidend ist, sprich, ob die Domänen der Scritte von höherer oder niedrigerer Bedeutung im (praktischen oder geistigen, also allgemein lebensweltlichen) Alltag der Sprachbenutzer ist (vgl. Busse 2012, 550).
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die oben beschriebenen Abläufe als idealisiert und stark vereinfacht verstanden werden müssen. Die Prozesse sind höchst komplex und geschehen in der kommunikativen Wirklichkeit nicht nur auf oft unbewusste Art und Weise, sondern werden nachhaltig durch die individuellen Wissensbestände und Lebensumstände der Rezipienten beeinflusst. Idealisiert ist demnach die Annahme, dass generell für größere Rezipientengruppen solche Prozesse angenommen werden können. Für die Realität bedeutet dies bspw., dass die Betrachter den Scritte nicht wort-wörtlich Domänen ‘zuschreiben’, sondern entscheidend ist, dass bei den kognitiven Kategorisierungsprozessen auf solche Domänen zurückgegriffen wird. In der kommunikativen Wirklichkeit kommt es außerdem nicht selten dazu, dass Scritte keiner solchen Domäne zugewiesen werden können oder eine Zuordnung nicht eindeutig oder nur äußerst vage erfolgen kann. Dies geschieht insbesondere dann, wenn keine distinkten Zeicheneinheiten mit deutlichem Zeicheninhalt vorliegen, wenn die Zeicheninhalte auf mehrere Domänen in gleichem Maße verweisen oder verschiedene Zeicheneinheiten auf völlig unterschiedliche Domänen deuten. In solchen Fällen können andere Attribute, die weniger salient und von geringerem semantischen Gehalt sind (wie bspw. der Ort, Farbe oder die Typographie), von großer Bedeutung sein, da über sie die entsprechenden Domänen und Wissensstrukturen inferiert werden können, um schließlich die Scritta deuten zu können. So mag Wissen über das Stadtviertel, in welchem sich die Scritta befindet, die vorliegende Farbwahl, typographische Aspekte oder die räumliche Nähe zu anderen (deutlicheren) Scritte Hinweise darauf liefern, dass die Scritta in den Domänen XY zu verorten ist. In der Scritta Gli amici ti salutano Ciao Edoardo (siehe Abb. 37) fehlen bspw. eindeutige Hinweise auf Ultras oder politische Symbole. Die saliente und recht spezifische Typographie (oben beschrieben als Fascio– oder Ultras-Font; siehe DEFAULT) lässt jedoch vermuten, dass es sich um eine Scritta aus einer der Domänen ULTRAS oder POLITIK172 (oder eventuell beiden) handelt.
4.3. Attributsklassen der Genre-Prototypen
Der letzte Schritt in der Erstellung eines Analyse-Modells für Scritte Murali bezieht sich auf die Fixierung der Attributsklassen, nach welchen die domänen-spezifischen Prototypen gebildet werden. In den Kapiteln über die theoretischen Grundlagen der Prototypen (siehe DEFAULT) und der Zuordnung zu Domänen (siehe DEFAULT), ist wiederholt die zentrale Bedeutung der Attribute allgemein, aber auch ihrer Distinktivität und Spezifik, herausgestellt worden. Aufbauend auf diesen Beobachtungen, möchte ich nachfolgend in knapper Form die Attribute für die Genre-Prototypen speziell für Scritte Murali zusammenfassen.173
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden keine Experimente durchgeführt, um die wesentlichen oder typischen Merkmale der SM-Prototypen zu ermitteln174, sondern die Attribute müssen aus den vorliegenden Korpusdaten zum Sprachmaterial ermittelt werden. Bei der Annotation (siehe dazu genauer DEFAULT) wurde versucht möglichst alle visuell direkt ablesbaren Merkmale zu erfassen und den Merkmalswert für jede Scritta bzw. jedes Token einzutragen. Basierend auf den bisher erfolgten Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen, können die Attribute an dieser Stelle gruppiert werden. Besonders die Bedingungen, dass Prototypen über informationsreiche Attributsbündel verfügen, die nicht zwingend vorliegen müssen, graduell auf die Scritte zutreffen können und untereinander verschiedenartig gewichtet werden, spielen dabei eine entscheidende Rolle.
An der Scritta in Abb. 44 exemplarisch dargestellt, lassen sich folgende Attributsklassen unmittelbar ablesen:
- Sprachliche Zeichen und diesen untergeordnet die Klassen
- Bildgraphische Zeichen179
- Tokenzahl180 (sowohl sprachliche als auch bildgraphische Zeichen)
- Farbe181
- Typographie182
- Träger183
- Erstellungswerkzeug184
Ein weiteres Merkmal, dem eine zentrale Bedeutung zugeschrieben werden muss (siehe DEFAULT), ist der Standort der Scritta. Jedoch ist dieser nicht wirklich ‘ablesbar’ (d. h., es sind keine Koordinaten an der Scritta unmittelbar ablesbar), sondern eher ‘erfahrbar’.185 Der Betrachter ist sich bewusst in welchem Stadtviertel und/oder an welchem Punkt genau er sich in diesem Gebiet befindet und in welches die Scritta eingebettet ist. Hier im Beispiel ist die Scritta auf einer Begrenzungsmauer des Liceo Augusto an der Grenze des Stadtviertels Appio Latino angebracht. Der Rezipient kann sich dessen bewusst sein – abhängig davon, zu welchem Grad er oder sie über Hintergrund Informationen zum Standort verfügt und v. a. wie viel Bedeutung er oder sie dem Standort beim Verstehensprozess der Scritta zuschreibt. Die genauen Ortsdaten sind zwar im Korpus mit erfasst, werden jedoch erst in einem nächsten Schritt berücksichtigt, d. h., dass die Genre-Prototypen in Hinblick auf die Ortsdaten interpretiert werden und dies in unterschiedlichen Konstellationen.
Wie aus den grundlegenden Bedingungen der Prototypikalität in Kapitel hervorgegangen ist, sind die Attribute bzw. Attributsklassen in Bezug auf die Typikalität der Exemplare nicht gleichwertig, sondern stehen in Abhängigkeit von quantitativen und qualitativen186 Maßstäben, was eine Gewichtung der Attribute zur Folge hat (siehe DEFAULT). Auf Basis dieser theoretischen Grundlage, können die oben genannten Attributsklassen nun unterschiedlich gewichtet werden, wobei zu beachten ist, dass sich diese Gewichtung zunächst ganz generell auf die Prototypikalität bezieht und daher die Qualität der Attributsklassen entscheidend ist. Die Frage lautet also, welche der oben genannten Attribustklassen für die Bildung eines Prototypen wichtiger und welche weniger wichtig sind und warum dies der Fall ist. Die Quantität wird an dieser Stelle noch ausgeklammert, da sie sich auf die konkreten, statistischen Werte der Korpus-Auswertung bezieht, d. h., die Frage welche Attributsklassen höher gewichtet werden müssen, da sie bspw. (auch im Vergleich zu anderen Genre-Prototypen) auffällig häufig auftreten, kann erst nach der Auswertung interpretiert werden. Qualitative Maßstäbe dagegen können bereits im theoretischen Rahmen des Analyse-Modells zur Gewichtung der Attributsklassen herangezogen werden.
Zwei Faktoren sind für die ‘Gewichtsgruppen’ der Attributsklassen ausschlaggebend: erstens die Annahme, dass der Informationsreichtum der Attribute ein zentraler Aspekt bei der Protoypenbildung ist (siehe DEFAULT und besonders DEFAULT), und (daran anschließend) zweitens, die semiotischen Parameter der Attributsklassen (siehe DEFAULT), anhand welcher sich der informative Gehalt – also die Semantik – der Attributsklassen erklären lässt.
Auf die Ausführungen zu den Zeichenmodalitäten von Hartmut Stöckl (2016) bin ich bereits zu sprechen gekommen, da sie für eine Abgrenzung von Scritte Murali besonders geeignet sind. Aus semiotisch-dimensionaler Perspektive betrachtet, lassen sich Informationen zum Ausdruckspotenzial und damit einhergehend zur Gewichtung der oben aufgeführten Attributsklassen ableiten. Besonders interessant sind dabei offensichtlich Ansätze, welche sich unter der Dimension der Semantik zusammenfassen lassen, aber auch die Dimensionen der Syntax und Pragmatik liefern wertvolle Hinweise auf den Informationsgehalt der Klassen. Im Bereich der form-bezogenen Aspekte (also aus der Dimension der Syntax) nehmen die sprachlichen Zeichensysteme eine herausragende Stellung ein, da sie über „eine große Menge distinkter Einzelzeichen“ (Lexik) verfügt, anhand welcher „vielfältige und systematische Sinnbezüge“ (Paradigmatik) hergestellt werden und zu „größeren Aussageeinheiten verknüpft“ werden können, woraus sich die wesentliche „semantisch-kommunikative Stärke von Sprache“ ergibt (Stöckl 2016, 11). Ganz grundlegend ist dabei das Ausdruckspotenzial der Zeichenmodalitäten, welches demnach bei Sprache enorm ist. Der (zumindest im Vergleich zu anderen Zeichenmodalitäten) klare Bezug zu Referenzobjekten und Konzepten (oder, weiter gefasst, Frames), die Effabilität und die Möglichkeit über Wortarten, Lexik und Kombinatorik, Narrationen, Explikationen und Argumentationen auszudrücken, deutet darauf hin, dass sprachliche Zeichen – und den darunter zusammengefassten Attributsklassen, die sich letztlich genau auf dieses Potenzial der sprachlichen Zeichen beziehen – als besonders informationsreiches Attributsklasse gelten müssen und somit von hohem Gewicht sind (vgl. Stöckl 2016, 17).
Ebenfalls als Token gelten die bildgraphischen Zeichen, worunter zunächst alle nicht-sprachlichen Zeichen (also auch Symbole, wie Hakenkreuze, oder Ikone/‘Abbilder’, wie z. B. in Stencil-Scritte) zusammengefasst sind. Ikone (i. S. v. Bildern) verfügen zwar nicht über die Möglichkeit distinkte Einzelzeichen mit klarer Referenz linear zu verketten, wie dies bei sprachlichen Zeichen der Fall ist, aber sie sind aus semantischer Sicht aufgrund „ihre[s] graphischen Darstellungsreichtum[s]“ äußerst ausdrucksstark, da sie „informatives Explodieren“ und außerdem „konnotative Bedeutungen und emotionale Anmutungen ermöglich[en]“ (Stöckl 2016, 14). In jedem Fall sind bildgraphische Zeichen ebenfalls von hoher semantischer Dichte und deshalb von zentraler Bedeutung. Die Attributsklasse Tokenzahl bezieht sich sowohl auf sprachliche als auch bildgraphische Zeichen und wird demnach als ebenfalls zentrale Attributsklasse gewertet.
Deutlich wird die unterschiedliche Gewichtung nun, wenn man die anderen Attributsklassen (Farbe und Typographie, Träger und Erstellungswerkzeug) mit den sprachlichen und bildgraphischen Zeichen in Bezug auf ihr semantisches Ausdruckspotenzial vergleicht. Zweifelsohne können Typographie und Farbwahl der Zeichen bei der Sinngenerierung bzw. beim Verständnisprozess der Botschaft von erheblicher Bedeutung sein, wie teilweise schon in den Beispielen der vorangegangen Kapitel deutlich geworden ist (man denke bspw. an den Fascio-Font). Jedoch sind diese Designmodi (vgl. Schmitz 2016; Spitzmüller 2016; Stöckl 2004) ausschließlich an die Token gebunden187 und ihre Referenz ist im Vergleich zu den sprachlichen und bildgraphischen Zeichen bei weitem nicht so eindeutig. Die blaue Farbe der Scritta in Abb. 26 mag bspw. eine unterstützende Rolle in Bezug auf die Kategorisierung zu einem Genre ULTRAS spielen, ist von der Gewichtung her jedoch eindeutig den sprachlichen Zeichen (v. a. der Lexik und Syntagmatik) untergeordnet. Oder anders ausgedrückt: Die Verwendung der Farbe Blau unterstützt die Kategorisierung und letztlich das Verständnis der Scritta, wäre für sich allein genommen jedoch kaum von ausreichendem semantischem Gehalt – im Gegenteil zur Verwendung der spezifischen Lexeme Ultra und der Konstruktion [NPR vive].188 Die in den Scritte verwendeten Farben erhalten ihre Semantik, wenn sie denn von hoher Bedeutung ist, lediglich über die sprachlichen und bildgraphischen Zeichen und nicht autonom. Extremfälle wie der Fascio-Font im Bereich der Typographie sind eventuell von der Semantik eindeutiger (der Fascio-Font verweist recht genau auf bestimmte Referenzbereiche), ergibt jedoch ebenfalls nur in Kombination mit den noch eindeutigeren sprachlichen Zeichen Sinn. Diesen Attributsklassen sind also von sekundärer Bedeutung189 und demnach geringer zu werten, als die Attributsklassen der Token.
Zuletzt sind die technisch-materiellen Attributsklassen der Trägeroberfläche und der Erstellungswerkzeuge zu gewichten. Die Bedeutung der beiden Attributsklassen im Verbund gesehen ist hierbei nicht von Interesse, da sie sich auf die Scritte Murali als Kommunikationsform und daher auf die übergeordnete Ebene bezieht. Das Verfahren mithilfe bestimmter Werkzeuge (Stift, Sprühdose usw.) auf dafür nicht vorgesehenen Flächen Zeichen zu erstellen, mag per se von Bedeutung sein190, spielt aber für die domänen-spezifische Bildung von Prototypen keine Rolle, da es sich dabei nicht um ein genre-spezifisches Attribut handelt. Für sich betrachtet scheint die Trägerfläche zunächst keine Bedeutung zu tragen, da sich die Produzenten bei der Erstellung offensichtlich an die vorhandenen Trägerflächen halten müssen. Jedoch besteht die Möglichkeit, dass Tazebao oder Sticker verwendet werden, was dahingehend bedeutungsvoll sein kann, dass der Aufwand der Erstellung und des Anbringens etwas über die (Stellung der) Produzentengruppe (im Stadtviertel) aussagt. Trotzdem bleibt das semantische Potenzial auch hier weit hinter jenem der sprachlichen und bildgraphischen Zeichen. Mit der Klasse der Erstellungswerkzeuge verhält es sich ähnlich – die Auswahl der Werkzeuge ist begrenzt und gilt letztlich für alle Scritte Murali – aber die Wahl des Werkzeuges impliziert die visuell sichtbare Größe der Scritta (im Vergleich zum sonstigen Sichtfeld): Eine Scritta wie im Paolo di Nella-Beispiel (siehe Abb. 29) anhand eines Filzstiftes zu erstellen entbehrt jeder Logik. Die (relative) Größe mag für die Typikalität einer Scritta von Bedeutung sein, ist jedoch – ähnlich wie die Klassen der Farbe und der Typographie – ebenfalls an die Token gebunden und für sich genommen nicht von Bedeutung. Attribute dieser technisch-materiellen Dimension nehmen daher eine subsidiäre Stellung ein und sind von geringerem Gewicht.
Die quantitativen Aspekte in Bezug auf die Attribute (siehe DEFAULT), geben nicht nur den methodischen Rahmen vor (d. h., wie die Attributsklassen ausgewertet werden sollen), sondern begründen gleichzeitig die Typikalität der Attributswerte. Dies wurde in den Ausführungen zu Givóns Schema in Kapitel bereits angedeutet: Nach Givón tendieren typische Attribute dazu bei den Exemplaren zu koinzidieren (vgl. 1986, 79), sprich, der Prototyp wird über die Schnittmenge der am häufigsten auftretenden Attributsklassen (oder –dimensionen) ermittelt (vgl. Kleiber 1998, 52). Konkret bedeutet dies, dass die Werte der attributiven Klassen der domänen-spezifischen Genres nach ihrer Häufigkeit interpretiert werden. Aus prototypen-semantischer Perspektive wird die Vorhersehbarkeit – die sich aus der (relativen) Häufigkeit der Token(folgen) rekonstruieren lässt – von Eigenschaften/Attributen für Exemplare einer Kategorie und der daraus resultierenden Kategoriezugehörigkeit als cue validity bezeichnet (vgl. Rosch/Mervis 1975, Lakoff 1987, Kleiber 1998).191
Frequente Kollokationen (i. S. v. zwei Token, die frequent und/oder überzufällig oft nahe zusammen im Korpus auftreten; vgl. Bubenhofer 2009) oder Mehrworteinheiten (i. S. v. zwei oder mehr Token, die frequent und/oder überzufällig oft nahe zusammen im Korpus auftreten; vgl. Bubenhofer 2009), überzufällig frequente Lexeme (bspw. Schlüsselwörter) oder die auffällig häufige Verwendung von dialektalen Varianten wären dann Beispiele für typische Attribute der Genre-Prototypen. Gleichzeitig kann ein binäres Zutreffen von Bedeutung sein: Attribute sind nicht nur dann typisch, wenn sie bei einem Genre auffällig oft auftreten, sondern auch, wenn sie ausschließlich bei einem Genre zu finden sind, selbst wenn dies nur einen geringen Teil in Bezug auf die prozentualen Anteile der anderen Attributswerte ausmacht. Anders ausgedrückt bedeutet dies z. B., dass die Konstruktion [Maurizio vive] in Liebes-Scritte nie auftaucht, sondern ausschließlich in der Domäne ULTRAS, gleichzeitig in diesem Genre jedoch nicht besonders frequent ist im Vergleich zu anderen Kollokationen oder Bi-Grammen der Art [NPR vive]. Ein weiteres Beispiel wäre die exklusive Verwendung der baskischen Sprache im Genre POLITIK, die zwar exklusiv im Genre POLITIK, dabei jedoch äußerst selten verwendet wird – trotzdem spricht dies bis zu einem gewissen Grad dafür, dass die baskische Sprache typisch für das Politik-Genre ist bzw. typischer als für andere Genres, da es dort nie auftritt. Die statistischen Werte müssen demnach in Relation zu ihren jeweiligen attributiven Dimensionen und anderen Genres ausgewertet und interpretiert werden. Ebenfalls von Bedeutung kann die Anzahl der möglichen Attributswerte sein, da z. B. die Anzahl der potentiell auftretenden Sprachen für die Genres unterschiedlich ausfallen kann und dies letztlich etwas über die Prototypikalität dieser Attributsdimension aussagt. So mag es für ein Genre typisch sein, dass die Palette der verwendeten Sprachen weitaus breiter ist, als jene eines anderen Genres, bei welchem lediglich zwei oder drei Sprachen verwendet werden. Wie genau die Werte in Relation zu setzen und schließlich zu deuten sind, soll nicht im Vornherein festgelegt werden, sondern ergibt sich induktiv nach der Berechnung der Häufigkeiten.
5. ScriMuRo – Das Scritte Murali a Roma – Korpus
Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Genre-Prototypen werden anhand von authentischem Sprachmaterial erstellt, statistisch ausgewertet und Sprachmuster extrahiert. Grundlegend ist dafür die Sammlung der Scritte und die Übertragung in ein für den Forschungszweck geeignetes Korpus. Nachstehend wird auf alle wichtigen Prozesse der Entstehung des Korpus eingegangen und auf etwaige Problematiken hingewiesen. Wie zu sehen sein wird, war die Genese des Korpus eine der zeitaufwendigsten Teilschritte dieser Arbeit. Vorauszunehmen ist, dass sich beim Entstehungsprozess des Korpus induktive und deduktive Vorgehensweisen wechselseitig beeinflusst haben. So wurden bspw. bestimmte Annotationsklassen nur deshalb erstellt, weil bereits beim Sammeln und Sichten des Sprachmaterials bestimmte (Sprach-) Muster zu vermuten waren. Andererseits wurden Klassen annotiert, ohne vorheriges Wissen, ob auffällige oder überzufällig häufig auftretende Muster in diesen Bereichen zu finden sein werden. Das zeitaufwendige Fotografieren jeder einzelnen Scritta und der anschließenden Sortierung der Fotografien, stellte sich als wertvolle Hilfe bei der Determinierung der Annotationsklassen – wobei es sich letztendlich um die Attributsklassen der Prototypen handelt – heraus, da das Material bereits im Vorfeld gesichtet wurde. Dies und die Tatsache, dass ein längeres Verweilen in bestimmten Arealen für die Sammlung nötig war und somit auch ein Stück weit die kulturellen und ortsspezifischen Kontexte erfahrbar wurden, spielten eine ganz entscheidende Rolle für die gewählte Methodik dieser Forschungsarbeit.
5.1. Feldforschung
5.1.1. Erhebungsgebiet und Zeitrahmen
Tutta la nostra gran zodisfazzione
De noantri quann’èrimo regazzi
Era a le case nove e a li palazzi
De sporcajje li muri cor carbone.Cqua ddiseggnàmo o zziffere o ppupazzi,
O er nodo de Coridano e Ssalamone:
Llà nnummeri e ggiucate d’astrazzione,
Oparolacce, o ffiche uperte e ccazzi.Oppuro co un bastone, o un zasso, o un chiodo,
Fàmio a l’arricciatura quarche sseggno,
Fonno in maggnèra c’arrivassi ar zodo.Quelle so bbell’età, pper dio de leggno!
Sibbe cc’adesso puro me la godo,
E ssi cc’è mmuro bianco io je lo sfreggno.(Belli 1997, 352)
Bereits vor knapp 200 Jahren spricht der berühmte römische Dichter Giuseppe Giachino Belli in seinem Sonett Un Ber Gusto Romano von der Verbreitung von Scritte Murali in Rom. Die italienische Hauptstadt bietet sich aus verschiedenen Gründen für die Erforschung von Scritte Murali an. Wie aus Bellis Sonett erkennbar wird, ist das Phänomen der Scritte Murali keine neuzeitliche Erscheinung in Rom. Die hohe Bevölkerungsdichte, die verschiedensten kulturellen Einflüsse durch die demographische Konstellation und sozio-politischen Hintergründe der Stadt machen Rom zu einer Stadt, aus deren Kommunikation im öffentlichen Raum Scritte Murali nicht mehr wegzudenken sind. Neben Anhängern der zwei großen Fussballmannschaften (A.S. Rom und S.S. Lazio) nutzen auch verschiedene (teils extreme) Gruppierungen der politischen Szene die Flächen der Stadt, um zu kommunizieren. Da sich das Stadtgebiet Roms über ca. 1285 km² erstreckt, ist es undenkbar eine Bestandsaufnahme der gesamten Scritte im Stadtgebiet zu erstellen.
In einer ersten Phase im Rahmen einer kleineren Forschungsarbeit wurden ca. 230 Fotografien im Stadtgebiet Rom angefertigt. Dabei war bereits im Vorfeld das Attribut der Ortsabhängigkeit als zentrale Analysekategorie vermutet worden, weshalb sich die Feldforschung auf zwei Laufwege mit insgesamt ca. 20 km Länge sowie auf ein kleineres Stadtviertel im Nordosten Roms, beschränkte. Die Laufwege orientierten sich an Ausschnitten die beiden U-Bahn-Linien Metro A und B.192 Beabsichtigt wurde dabei, Stadtviertel übergreifend Scritte zu sammeln, etwaige Variationen (sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch die Form) der Scritte selbst analysieren zu können und v. a. Unterschiede aufgrund der Orte herausstellen zu können. Alle in diesen Gebieten gefundenen Scritte, wurden in den Gesamtkorpus ScriMuRo aufgenommen.
Da sich in dieser ersten Forschungsarbeit die Hypothese der Ortsabhängigkeit bestätigte, wurde in einer zweiten Phase die Feldforschung stark erweitert. Um eine geeignete Datenbasis für die Fragestellung zu schaffen, wurden weitere Gebiete gezielt dokumentiert. Für die Wahl der geographischen Eingrenzung spielten verschiedene Faktoren eine entscheidende Rolle. So gaben die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der ersten Forschungsarbeit die Richtung vor. Die Recherche zu geeigneten Gebieten lief dann neben Online-Recherchen und der Suche über Google Street View v. a. über persönliche Kontakte mit ortsansässigen Personen. Im Fokus lagen Gebiete, die einerseits über eine möglichst hohe Anzahl von Scritte verfügen und sich andererseits untereinander in formaler und inhaltlicher Hinsicht voneinander abheben. Außerdem musste bei der Wahl berücksichtigt werden, dass die gesamten Gebiete vollständig und zu Fuß abgelaufen werden müssen193 und v. a. dass alle gefundenen Scritte in einem anschließenden, äußerst arbeitsaufwendigen Schritt digitalisiert werden müssen (siehe DEFAULT). Erschwert wurde die Erhebung des Sprachmaterials u. a. dadurch, dass sie zwar reichlich Scritte vorweisen, sie aber aufgrund der sozialen und demographischen Hintergründe, Fremden gegenüber eher verschlossen sind. So war es teilweise nicht möglich für längere Zeit im Stadtviertel Tufello zu fotografieren, da dieser Bereich besonders stark von linken und links-extremen politischen Gruppierungen dominiert wird, welche aus diversen Gründen nicht-ortsansässigen Personen gegenüber äußerst skeptisch eingestellt sind. Ich wurde mehrmals aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, was möglicherweise (und verständlicherweise) auch daran liegt, dass das Fotografieren der Hauswände eines gesamten Straßenzuges eher kritisch beobachtet wurde.194 Nichtsdestotrotz konnte das gesamte Stadtviertel abgelaufen und alle Scritte dokumentiert werden.
Um in einem, für die vorliegende Arbeit, realistischen Rahmen zu bleiben wurden über einen Zeitraum von ungefähr vier Wochen insgesamt 13 Stadtbezirke in Rom dokumentiert, wobei ca. 150 km zu Fuß abgelaufen wurden. Anzumerken ist, dass in Bezug auf die Ortsabhängigkeit auch das Nicht-Vorhandensein von Scritte zu berücksichtigen ist, da sich die Frage stellt, aus welchen Gründen gerade an diesen Orten keine Schriften zu finden sind. Lückenlos abgelaufen wurden die Bezirke Tufello und Teile von Monte Sacro, Prati Fiscali (östlich der Station Conca D’Oro), Val Melaina und teilweise Serpentara, das Quartiere Africano im Stadtviertel Trieste, San Lorenzo, das Gebiet süd-östlich der Piazza Bologna (Nomentano), Pigneto und Teile des nördlich der Vatikanstadt gelegene Gebietes Prati zwischen den U-Bahn-Stationen Cipro und Ottaviano. Neben den oben erwähnten, sich kreuzenden Laufwegen entlang der Teilabschnitte der Metro-Linien wurden außerdem der grenznahe Bereich um die Vatikanstadt sowie der Großteil der Stadtviertel Garbatella, Gianicolense/Monte Verde und die Umgebung der Universität Sapienza.
IK (Interaktive Karte) 1: Erhebungsgebiete des ScriMuRo – Vollbild195
5.1.2. Quellenmethodische Eingrenzung
Beim Ablaufen der Stadtgebiete war es das Ziel, möglichst alle Scritte im öffentlichen Raum zu dokumentieren. Was dabei konkret als Scritta Murale galt, wurde in Kapitel ausführlich beschrieben: alle Graffitiformen, deren Kommunikationsform typischerweise nicht dominant poetisch, sondern primär informationsübermittelnd, ist – d. h. keine American Graffiti, Tags oder Pieces (s. o.). Scritte Murali auf mobilen Trägern (bspw. Fahrzeugen) wurden nicht dokumentiert196, wobei Striscioni, Sticker oder Tazebao nicht als mobile Träger gelten, sondern (normalerweise) am selben Ort für längere Zeit angebracht werden. Ansonsten gab es keine Einschränkungen, was die Träger anbelangt: Scritte an Handgeländern, Straßenschildern oder auf der Straße, wurden ebenso dokumentiert.
Jede Scritta wurde mit dem Smartphone abfotografiert und dabei mit einem GPS-Tag, also den geographischen Koordinaten, versehen, um den Standort der Scritta zu rekonstruieren zu können. Offensichtlich handelt es sich bei den GPS-Koordinaten strenggenommen nicht um den Standort der Scritte, sondern um den Standort der Kamera, mit der die Scritta fotografiert wurde. Der Abstand zwischen Kamera und Scritta betrug dabei im Schnitt ca. 2 Meter, abhängig von der Größe der Scritta und dem genauen Anbringungsort.197 Es muss darauf hingewiesen werden, dass es bei der Erhebung des Sprachmaterials von Beginn an nicht das Ziel war, die Scritte im Verhältnis zu den Trägerobjekten zu analysieren. Es wurde beispielsweise nicht ein ganzes Wohnhaus fotografiert, um die Dimensionen der angebrachten Scritte untereinander und im Verhältnis zur Gesamtgröße des Hauses zu vergleichen, wie dies teilweise bei anderen Forschungsarbeiten, die sich mit Schrift im öffentlichen Raum beschäftigen geschieht.198 Über das Attribut des Erstellungswerkzeuges (Sprühdose, Filzstift usw.) kann die Größe zumindest in ein grobkörniges Raster abgeleitet werden, jedoch wird das Attribut der Größe im Kontext dieser Forschungsarbeit als subsidiär betrachtet (siehe DEFAULT).
Entscheidend für die vorliegende Arbeit ist, dass der Standort nicht i. S. v. Koordinaten (wie dies bei den GPS-Tags der Fall ist) von Bedeutung ist, sondern der Standort als Referenzpunkt innerhalb einer vielschichtigen Kontextebene. Wie in Kapitel bereits angedeutet, ist das Attribut Standort kein greifbares oder ablesbares Merkmal der Scritta, sondern der Standort wird individuell vom Betrachter mehr oder weniger stark als bedeutendes Attribut interpretiert. Dieser Prozess ist eng mit den in Kapitel beschriebenen Kategorisierungsprozessen verknüpft. Für Touristen mögen viele der Scritte in Rom sowohl inhaltlich als auch formal identisch erscheinen. Dies liegt möglicherweise daran, dass sie die Scritte (dann i. S. v. Graffiti allgemein) kontext-neutral rezipieren, wobei der Kontext hier entscheidend durch den Standort geprägt wird – soweit zumindest die Annahme in dieser Forschungsarbeit. Wie bereits in Kapitel beschrieben, ist eine Besonderheit der Scritte Murali, dass sie einerseits nur an einem spezifischen, geographisch definiertem Ort perzipiert werden können – dies sind letztlich die GPS-Daten der Fotografien, da sie eben von diesem Ort aus perzipiert wurden – und gleichzeitig werden diese objektiven Koordinaten innerhalb der Kommunikationssituation zu subjektiv interpretierten Parametern umgedeutet.199 Um in den oben erwähnten Stadtvierteln die Straßen möglichst lückenlos dokumentieren zu können, wurden, falls nötig, Trackingtools verwendet, anhand welcher die Laufwege ausgelesen und miteinander abgeglichen wurden (siehe Abb. 45 und Abb. 46).
Fotografien, die aufgrund von kurzzeitigem Verlust des GPS-Signals während der Erhebung, über keine Koordinaten verfügten, wurden zeitnah mit den entsprechenden Koordinaten versehen. In einigen Fällen war es wegen der Umgebung oder der Größe der Scritta nicht möglich, den gesamten Text in einem Foto zu erfassen. So standen manchmal Fahrzeuge, Bäume oder Sonstiges im Blickfeld. Diese Bilder wurden ebenfalls in der Nachbereitung mit Hilfe von Bild-Bearbeitungsprogrammen zusammengefügt.
Es wurden knapp 2500, mit Geotag versehene, Bilder erstellt, wovon schlussendlich 2314 Bilder für das Korpus verwendet wurden. Da auf einigen Fotografien mehrere Scritte abgebildet sein können, stehen 3294 Scritte für das Korpus zur Verfügung. (Für eine genaue Beschreibung des Korpus siehe Kapitel ).
5.2. Korpuskompilierung
5.2.1. Ausgangslage zur Digitalisierung
Nach der Erhebung stand der nächste zeitaufwendige Arbeitsschritt an: die Digitalisierung des abgebildeten Sprachmaterials und die Überführung in ein Korpus. Digitalisierung meint hier „wesentlich die digitale Tiefenerschließung des Materials durch systematische und transparente *Strukturierung* und Kategorisierung verstanden“ (Herv. im Orig.; Lücke 2016). Ganz in diesem Sinne war es Ziel, das Sprachmaterial möglichst umfangreich zu annotieren und die verschiedensten Aspekte in einem passenden Format zu erfassen. Aufgrund des Wesens der Scritte Murali stellte sich diese Aufgabe als besonders herausfordernd dar, wie ich nachfolgend zusammenfassend zeigen möchte.
Ausgangslage war, dass es zu diesem Zeitpunkt kein Programm gab, welches die sichtbaren Schriftzeichen automatisch in ein digitales Format übertragen konnte. Die sog. OCR (Optical Character Recognition) Technologie ermöglicht es, Texte, die auf Bildern abgebildet sind, automatisiert zu erkennen und in Dateien abzulegen. Jedoch stoßen solche Programme bereits bei handgeschriebenen Texten oft an ihre Grenzen, wobei die Möglichkeit besteht, die Programme zu trainieren und bestimmte optische Zeichen jeweils einem digitalen Zeichen zu zuordnen. Dies funktioniert allerdings nur dann befriedigend, wenn die in den Bildern enthaltenen Zeichen bis zu einem Mindestmaß identische Formen aufweisen. Bei Scritte Murali ist das aufgrund der unzähligen Produzenten, ihren abweichenden Schreibweisen und den grundlegend frei wählbaren Formen nicht der Fall. Ein weiteres Problem für ein solches automatisiertes Verfahren, stellen auch die sog. Lakunen dar. Damit sind Text- oder Zeichenlücken gemeint, die z. B. durch die Zerstörung der Trägerfläche, durch absichtliches Entfernen oder der Beschaffenheit der Erstellungswerkzeuge entstehen. So konnte auf ein solches automatisiertes Verfahren nicht zurückgegriffen werden und letztlich mussten alle Zeichen der 3294 Scritte per Hand transkribiert werden. Hierbei sei jedoch angemerkt, dass diese äußerst intensive Arbeit mit dem Sprachmaterial auch gewinnbringend war, da bei der Beobachtung der Daten wiederkehrende Muster erkennbar wurden. Einige der Analyse-Perspektiven scheinen zwar auf den ersten Blick einem deduktiven Vorgehen zu entsprechen, entstanden aber vielmehr während des Digitalisierungsprozesses. Das bedeutet, dass die Analyse teilweise auf vorher festgelegten Suchmustern basiert (also corpus-based ist), dieses deduktive Vorgehen aber nur aufgrund der induktiven Ableitungen (also corpus-driven) entsprangen.
Die Transkription200 der Zeichen mag bei einer Scritta wie in Beispiel 49 möglicherweise sogar mit einem OCR-Programm funktionieren und auch die Übertragung des Textes in ein relationales Datensystem201 und eine entsprechende Tokenisierung202 funktioniert problemlos.
Dies gilt jedoch nicht für die Scritte, deren Text durch eine oder mehrere Hände nachträglich modifiziert wurden, wie in Abb. 50 deutlich sichtbar wird.203 Dass Modifikationen nicht nur einen erheblichen Teil der Scritte betrifft, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil bestimmter Genres-Prototypen ist und muster-und routinenhaften Prozeduren folgen, wird im Analyse-Teil (DEFAULT) der vorliegenden Arbeit gezeigt werden.
Die Frage war also, wie das gesamte Sprachmaterial digitalisiert und tokenisiert erfasst werden konnte, wobei eben auch die einzelnen Hände (oder Layer) und/oder Gruppierungen – bspw. bei Kommentaren zu einem bestimmten Textteil (siehe Beispiel in Abb. 52) – sowie alle sonstigen Relationen zwischen den Textteilen berücksichtigt werden.
5.2.2. GIAnT
In Kooperation mit dem Informatikstudenten der Ludwig-Maximilian-Universität München Daniel Pollithy wurde das Tool GIAnT204 – Graphical Image Annotation Tool – entwickelt. Das Programm dient der Digitalisierung von Sprach- bzw. Zeichenmaterial auf optischen Bildern und ermöglicht die Erfassung, die systematische Zuordnung und die Strukturierung von Primär- und Metadaten sowie die parallele Übertragung der Daten in eine lokale Neo4j-Graphdatenbank. Das Java-Script basierte Programm ist frei verfügbar (siehe hier), den Nutzungszwecken anpassbar und über das nutzerfreundliche UI (user interface) leicht erlern- und bedienbar.
Die Vorteile von GIAnT gegenüber der Transkription des Sprachmaterials in relationale Datensysteme – Versuche wurden etwa mit Excel und mySQL unternommen – ist v. a. die Bedienoberfläche. Die Bilder werden zunächst in das Programm geladen und anschließend können sog. Fragments erstellt werden, d. h. Bildfragmente, welche im Rahmen der vorliegenden Arbeit den einzelnen Scritte entspricht. Die Anzahl der Fragmente pro Bild ist nicht beschränkt und so können problemlos Bilder mit mehreren Scritte bearbeitet werden. Jedes Fragment kann zusätzlich mit Freitext-Annotationen versehen werden. Über die Bearbeiten-Funktion kann nun jedes Fragment/jede Scritta digitalisiert werden. Das hochgeladene Bild erscheint im Grapheditor und jedes visuelle Element kann nun anhand von Boxen markiert werden. Innerhalb der Boxen erfolgt dann die Transkription der einzelnen Textteile – die Boxen sind also äquivalent zu den Token (also Einzelwörtern oder bildgraphischen Zeichen), wobei jedem Token beliebig viele Annotationsklassen und -daten hinzugefügt werden können. Die Annotationsklassen können dabei voreingestellt werden, wodurch sie automatisch bei jedem Token, das bearbeitet wird, erscheinen. Es ist aber auch möglich auf Wunsch beliebig viele Annotationsklassen innerhalb des Grapheditors hinzuzufügen. Die Boxen bzw. Token können untereinander über sog. Kanten (edges) miteinander verbunden und in Relation zueinander gesetzt werden, wobei die Relationsrichtung ebenfalls gesetzt werden kann. Im Fall der Scritte Murali wurden so z. B. aufeinanderfolgende Wörter in Beziehung gesetzt, aber ganz besonders hilfreich war es, die Modifikationen bestimmter Token auf diese Weise zu erfassen. Neben dem Hintergrundbild (background), also dem hochgeladenen Foto, können beliebig viele weitere Layer angelegt werden, was den Händen der Scritta-Produzenten entspricht. Die Token-Boxen aus den unterschiedlichen Layern können daraufhin ebenfalls über Kanten in Beziehung gesetzt werden: Ein auf Layer 1 – also Hand 1 der Scritta – liegendes Token (in Abb. 51 durch die weiß-grauen Boxen dargestellt) wird durch eine zweite Hand – Layer 2 – modifiziert, wobei das Modifikations-Token anhand einer dunkel-grauen Box markiert wird. Das modifizierende Token wird nun über eine Kante mit dem modifizierten Token verbunden. Alle Kanten können, wie auch die Tokenboxen, annotiert werden, d. h., sog. Properties können erfasst werden.205 Neben den Hand 1- und Modifikationstokenboxen können außerdem orange Tokenboxen für bildgraphische Zeichen (bspw. Symbole, ikonische Abbildungen usw.), gelbe Frame-Boxen, blaue Kommentar-Boxen und rosa Gruppenboxen innerhalb jeder Hand erstellt und mit beliebig vielen Boxen aus den gleichen oder anderen Händen verbunden und annotiert werden. Die Frame-Boxen dienten hier dazu, Token zu markieren, welche augenscheinlich als frame-identifier dienen können: so können z. B. Eigennamen dazu beitragen, die Zuordnung der Gesamtscritta zu einem Genre zu erleichtern bzw. zu beschleunigen. Die Gruppenboxen dagegen waren hilfreich um Token-Gruppen zu erfassen und gegebenenfalls mit anderen Token-Gruppen zu relationieren: Wie in der Scritta in Abb. 52 sichtbar, wurde der Ursprungstext (Hand 1 – rechts im Bild) durch zwei weitere Hände kommentiert (Hand 2 und 3 – im Bild der mittlere und linke Textteil). Über die Gruppenzuteilung, werden dann die Textteile über Kanten miteinander verknüpft.
Das Arbeiten mit den Texten wurde durch das direkte Transkribieren am Bild enorm erleichtert, wodurch die Fehlerquote auf ein Minimum reduziert werden konnte. Weitere Funktionen, wie die auto-complete-Funktion für die Werte bei den Annotationsklassen oder die connect and clone-Funktion für Token-, Gruppen- und Frameboxen206, beschleunigten zudem die Arbeit mit dem Sprachmaterial.
Ist ein Fragment bzw. eine Scritta fertig bearbeitet, so werden die erfassten Daten als xls-Dateien im Programmordner abgespeichert207 und automatisch in eine Neo4j-Graphdatenbank übertragen. Der Vorteil der Nutzung eines Graphdatenbanksystems (GDB) an Stelle eines eines relationalen Datenbanksystems (RDBMS)208 bei Digitalisierung der Scritte Murali-Bilder liegt in erster Linie darin, dass die Beziehungen zwischen den sog. Knoten (in diesem Fall eben Token, Frames oder Gruppen), die jeweils mit einer exklusiven ID versehen werden, direkt erstellt, dargestellt und abgefragt werden können. Die Knoten (nodes) können mit sog. Labels und den bereits erwähnten Properties versehen werden. Im Fall der vorliegenden Arbeit entstand nach der Arbeit mit GIAnT folgendes Datenmodell:
Über die Abfragesprache Cypher können dann auf ganz intuitive Weise die Daten abgefragt, durchsucht und ausgelesen werden. Zum Vergleich: in einem RDBMS würde für jeden Knoten (also Bilder, Fragment, Token usw.) eine eigene Tabelle angelegt werden, welche dann über sog. Joint Befehle in der Abfrage (bspw. über mySQL) miteinander verknüpft werden. Durch die oft komplexen Datenverbindungen der digitalisierten Scritte Murali, würde dies zu einer langen Abfrage-Syntax führen – in Neo4j geschieht dies auf direktem und intuitivem Weg.209 So lassen sich digitalisierte Scritte wie in Abb. 52 problemlos durchsuchen und auslesen, inklusive der Verbindungen der einzelnen Knoten untereinander. Auch ein Export der gewünschten Daten in relationale Tabellen im csv-Format ist problemlos möglich.
Zuletzt sei die Heatmap-Funktion von GIAnT erwähnt. Eine Teil-Hypothese bei der Untersuchung der Scritte Murali ist, dass sich speziell bei der Anordnung der bildgraphischen Zeichen im Bild typische Konstruktionen ergeben. Dies fiel bereits während der Erhebungsphase der Scritte auf und der Eindruck verstärkte sich bei intensiven Arbeit mit dem Sprachmaterial noch weiter. Aus diesem Grund machte es Daniel Pollithy möglich, Heatmaps der Boxen-Anordnung im Gesamtbild auszulesen. Dabei ist es möglich nach jedem beliebigen Knoten und zusätzlicher Spezifizierung der entsprechenden properties (Attribute) zu suchen und die Verteilung im Bild optisch darstellen zu lassen. So können z. B. nach allen Symbolen aus dem rechtspolitischen Bereich gesucht und deren Anordnung im Bild gezeigt werden.
5.2.3. Digitalisierung und Typisierung – Transkription und Annotationskategorien
Bevor die methologische Vorgehensweise der Digitalisierung des Sprachmaterials erläutert wird, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Transkription und Annotation der Scritte-Texte um ein heuristisch-interpretierendes Vorgehen handelt. Dies bedeutet, dass neben den direkt ablesbaren Attributen, wie Graphen, Farbe oder Träger, einige Annotationsklassen rein auf der Interpretation des Verfassers basiert. Auf diesen Umstand wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen. Allgemein ist diese Arbeitsweise nicht als problematisch zu sehen, da sie die Realität der Rezipienten wiedergibt, da auch die Rezipienten nur interpretieren können (und dazu ihre Erfahrungen und kontextuelles Wissen abrufen), ob z. B. ein bewusst gewählter typographischer Stil vorliegt oder nicht.210 An dieser Stelle möchte ich auf die Ausführungen bei Kleiber (1998) in Bezug auf ‘Objektive und Subjektive Merkmale’ hinsichtlich der Prototypen hinweisen. Ob ein Graph tatsächlich nach einer bewusst elaborierten oder einer willkürlichen Typographie erstellt wurde, ist nur schwerlich als objektives Attribut zu bezeichnen, da die individuelle Ansicht dabei grundlegend ist. Trotzdem lassen sich – ohne dies bspw. über einen wissenschaftlichen Schriftenvergleich überprüft zu haben – bei der Betrachtung der Scritte Ähnlichkeiten erkennen, wodurch eine Annotation des Attributs Graph berechtigt wird. So muss dieses, wie alle auf den ersten Blick subjektiv erscheinenden Attribute, als ‘objektiv’ in weiterem Sinne verstanden werden und zwar
nicht als eine Eigenschaft, die nichts mit den Menschen zu tun hat, aber auch nicht als eine Eigenschaft, die per definitionem einer interindividuellen Variation unterworfen ist. Es handelt sich nämlich sehr wohl um Eigenschaften, die, direkt mit unserem Menschsein verbunden sind, also um ‘verkörperlichte’ (embodied) Eigenschaften, wie G. Lakoff mit Nachdruck betont, aber diese Eigenschaften erscheinen uns als objektiv, weil wir davon ausgehen, daß sie von allen auf ähnliche Weise wahrgenommen werden.Herv. im Orig.; Kleiber 1998, 68
Die Entscheidung, ob und dass dieses Merkmal annotiert wurde, fiel ganz nach dem Empfinden, dass die Angabe, ob es sich bei einer Scritta um eine bewusst gewählte Typographie handelt oder nicht, zwar keine dem Token inhärente Eigenschaft ist, da der Kopist darüber entscheidet, was als elaboriert/willkürlich gilt, „aber dieses ‘Messen’ erscheint uns dennoch objektiv, weil wir annehmen, daß die übrigen Sprecher ebenso verfahren würden, und es uns daher nicht an ein einziges, individuelles Urteil gebunden scheint“ (Kleiber 1998, 67).211
Offensichtlich war die Wahl einiger Annotationsklassen – genannt seien in erster Linie die Zuweisung der Wortartklassen und Lemmata zu den Token (POS-Tagging) – in Voraussicht auf eine sprachwissenschaftliche Analyse geschehen. Bei besonders schwierig lesbaren oder verständlichen Scritte stellte sich im Laufe des Digitalisierungsprozesses heraus, dass die Kategorisierung dieser Scritte zunehmend einfacher wurde, je mehr kontextuelles und kulturliches Wissen vorhanden war. Mit anderen Worten: Je länger ich mich mit Fotos eines bestimmten Stadtgebietes beschäftigte und dadurch mein Wissen zu den Gruppierungen wuchs, desto mehr verstand ich die teils stark verschlüsselten Botschaften, die aus nur zwei Token bestehen können.
Insgesamt wurden den vier Knotenklassen212 156 Annotationsklassen (also properties) zugeordnet, wovon ein erheblicher Teil lediglich programmintern vergeben und genutzt wird.213
Image – Die Bilder der Scritte
Die Fotos liegen in der Graphdatenbank lediglich im Datenformat und nicht als optisches Bild vor. Bei der Übertragung durch GIAnT wurden dabei neben einer exklusiven ID – einem sog. Schlüssel – und dem Dateipfad214, die geographischen Koordinaten und der sog. GPS Date Stamp (also das Datum der Aufnahme) automatisch übertragen. Lediglich die GPS-Koordinaten mussten in ein kompatibles Format umgewandelt und normalisiert werden.
Fragment – Die einzelnen Scritte
Bei der Erstellung der Fragments für die einzelnen Scritte innerhalb eines Bildes in GIAnT, wurde automatisch sowohl eine eindeutige Kennung (ID) des Fragments sowie die vom Nutzer eingegebene Bezeichnung des Fragments an die Datenbank übermittelt, wobei die Fragments über fortlaufende Zahlen (innerhalb eines Bildes) benannt wurde. Für die Forschungsarbeit wurden außerdem nach der Transkription der Token, jedem Fragment ein Kommentar im Format eines Fließtextes angefügt, in welchem durchgehend die (interpretierten) Genredomänen und weitere Auffälligkeiten erfasst wurden – wie z. B. dass es sich um ein Totenmurales handelt oder die Typographie besonders auffällig ist. Nach Abschluss der Transkription wurden die Kommentare der 3294 Fragmente revidiert und es zeigte sich, dass die Scritte bis zu drei verschiedenen Domänen (bspw. Politik, Ultras usw.) zugeordnet wurden. Demnach wurden drei weitere Annotations- bzw. Attributsklassen für die Fragmente erstellt (Genre-Domäne 1/2/3), in welche die Werte aus den Kommentaren für die jeweiligen Scritte übertragen wurden. Ebenso erfolgten bei jenen Fragmenten, die wichtige Zusatzinformationen in den Kommentaren enthielten, eine Erweiterung der Attribute um zwei properties, um die entsprechenden Werte zu extrahieren: die Klasse des Totenkults, wenn die Scritta in irgendeiner Form eine verstorbene Person hochgeschätzt oder verehrt werden, und der Typographie, für Scritte die (mehr oder weniger eindeutig) den oben genannten Fascio-Font oder sonstige besondere Typographien vorweisen.
Wie oben erwähnt, erfolgte die Typisierung dieser Klassen (Genredomänen, Totenkult und Typographie) rein interpretatorisch, wobei v. a. semantisch dichte Token, wie Eigennamen oder Symbole, sozusagen als Schlüsselwörter dienten.
Token – Einzelwörter und bildgraphische Zeichen
Die Grundlage der statistischen Auswertungen und Ableitung der Genre-Prototypen ist offensichtlich das georeferenzierte Sprachmaterial, basierend auf den erhobenen Fotos. Wie in Kapitel erläutert, wird das Sprachmaterial der Scritte Murali durch multimodale Texte gebildet, wobei schrift-sprachliche Zeichen typischerweise die dominante Zeichenform darstellt. Neben den schrift-sprachlichen Zeichen werden die Texte durch bildgraphische und modifizierende Zeichen konstituiert, wobei alle drei Typen in der Graphdatenbank als Token erfasst wurden.
Startpunkt bei der Tiefenerschließung der Texte im Grapheditor von GIAnT ist die Wahl der Layer bzw. die Hand, wobei anhand des Fotos Layer 1/Hand 1 ausgemacht wird und die entsprechende (halbtransparente, weiß-graue) Tokenbox (Abb. 56) ausgewählt und über die visuelle Zeichenfolge (bspw. das Einzelwort) platziert wird. Die Vorgehensweise ab der zweiten Hand, wird weiter unten beschrieben. Wie oben beschrieben (Kapitel ), lassen sich in GIAnT einige Grundeinstellungen vornehmen und für die Scritte wurden folgende Annotationsklassen215 erstellt, welche automatisch für alle Token (der Hand 1) übernommen werden:216 ColorATTclass, LanguageATTclass, GroundATTclass (TrägerflächeATTclass der Scritta), ToolATTclass (ErstellungswerkzeugATTclass), GraphATTclass (TypographieATTclass des Scrittatextes bei schrift-sprachlichen Zeichen). Die Annotationsklassen sind also äquivalent zu den Attributsklassen der Scritte. Von GIAnT wurde für jedes Token (gleich aus welchem Layer) eine exklusive ID vergeben. Nachdem die fünf genannten Attribute für das erste Token erfasst worden sind, wird die Tokenbox über eine Kopierfunktion vervielfacht (wobei alle eingegebenen Attribute übernommen werden) und über die folgenden Token in Reihenfolge platziert. Anschließend kommt es zur Transkription und ein weiteres, wobei gleichzeitig das bedeutendste aller Attribute erfasst wird: der ValueATTclass, also das Einzelwort bzw. die modifizierenden und bildgraphischen Zeichen. Diese sechs basalen Attribute sind bis zu einem gewissen Grad direkt am Foto ablesbar, wobei die Farbwerte der Scritte lediglich den Grundfarben zugeordnet wurden. Das Attribut GraphATTclass, also die typographische Verfasstheit ist eines jener Attribute, welches zu hohem Maße auf der individuellen Interpretation des Verfassers basiert. Nach Abschluss der Transkription aller Token über alle Hände und Scritte, wurden die GPS der Fotos, auf welchen die Scritte und damit auch die Token lagen, auf die Token übertragen, um eine direkte georeferenzierte Abfrage aller Tokenattribute zu ermöglichen. Außerdem wurden alle schriftsprachlichen Zeichen unter Zuhilfenahme des Tree-Taggers von Helmut Schmid (Ludwig-Maximilian-Universität München) mit POSATTclass und LemmaATTclass Informationen versehen.217 Da die Texte der Scritte Murali durch die Produzenten frei (d. h. ohne Vorgaben) erstellt werden können, traten im Laufe der Transkription wiederholt Sonderfälle auf, in welchen bestimmte Attribute hervorstachen. Diese Attribute gelten – anders als die oben genannten Attribute, wie Farbe oder Erstellungswerkzeug – nur für bestimmte Token und daher wurden für diese Token extra erstellt. Dazu gehören bspw. die Attribute DialectATTclass (Informationen zu dialektalen Einzelwörtern) oder AbbreviationATTclass (KürzungsverfahrenATTclass). Letztgenannte Attribute traten zwar nur bei einer begrenzten Zahl der Token im Gesamtkorpus auf, jedoch genügend häufig, um bspw. die Abkürzungsverfahren in einem späteren Schritt zu typisieren. Bei einem geringen Teil der Token (insg. knapp 1000 Token) wurden unter einem weiteren Attribut SpecialATTclass Zusatzinformationen erfasst, welche unter Umständen für die Analyse brauchbar würden oder aber wichtige Hintergrundinformationen zum Token und letztlich für die gesamte Scritta beinhalten.218
Eine besondere Hürde stellten nicht-lesbare, defizitäre Token (bzw. Zeichen) dar. So kann es vorkommen, dass die Witterung, die unentzifferbare Handschrift oder das Überschreiben bis hin zur völligen Streichung einzelner Token oder Zeichen, die Transkription des Tokens erschwert oder unmöglich macht. Abhängig von der Lesbarkeit wurden in diesen Fällen für alle Tokenformen (schrift-sprachliche und bildgraphische Zeichen sowie Modifikationen) zwei weitere Annotationsklassen geschaffen und auch die Transkription angepasst: In den Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass wurden Informationen zu schwer oder nicht lesbaren Token erfasst, wobei solche schwer oder nicht lesbaren Textstellen als Lakunen219 bezeichnet werden. Die Terminologie orientieren sich dabei an den Definitionen der editionsphilologischen Fachbegriffe von Alexander Estis, der zu Emendation schreibt: „Verbesserung des überlieferten Wortlauts bei solchen Fehlern, deren Korrektur evident und unstrittig ist“ (Estis). Unter der Annotationsklasse EmendatioATTclass wurden bei den Scritte also die vermuteten Zeichen(folgen) erfasst, die „evident“ oder „unstrittig“ erschienen. Dies geschah sowohl bei offensichtlich von der Norm abweichenden Schreibweisen (bspw. sorriso < *soriso) als auch bei Wörtern mit unlesbaren Einzelzeichen (bspw. Sempre < se†pre). Token, die nicht evident und/oder unstrittig erschienen, sondern lediglich durch Vermutung während der Transkription korrigiert wurden, erhielten das vermutete Wort bzw. Zeichen in der Annotationsklasse ConjectureATTclass. Die Korrekturen stützten sich dabei auf Erfahrungswerte mit anderen Scritte (bspw. häufig auftretender syntagmatischer Muster, wie Eigenname + merda) oder auf apperzeptive Ergänzungen bei fehlenden oder nur teilweise erkennbaren Schriftzeichen.220 Teilweise sind die Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass nicht scharf trennbar, da solche defizitären Zeichen(folgen) individuell evidenter oder unstrittiger erscheinen mögen. Die Erfassung der Korrekturen in beiden Fällen ist neben der Möglichkeit Tokenfolgen in normalisierter Form auszulesen insofern nötig, als der Tree-Tagger für die POS-Annotation und Lemmatisierung nicht über korrumpierte Textstellen funktioniert. Alle defizitären Token bzw. Zeichen wurden durch sog. Cruces (†) markiert, was eine automatisierte Zuordnung zu Wortklassen und Lemmata unmöglich macht. Über die Werte der Klassen EmendatioATTclass und ConjectureATTclass konnte dieses Problem umgangen werden. All jene Token, die offensichtlich oder auch nur über Vermutung lesbar sind, würden also weder einer Wortklasse zugeordnet, noch mit einem Lemma versehen werden, was wiederum Auswirkungen auf die statistische Auswertung des Gesamtkorpus gehabt hätte.
Wie bereits erwähnt, stellte sich die Erfassung der ModifikationenATTclass als besondere Herausforderung dar und dies nicht nur wegen der daraus resultierenden Unlesbarkeit der Zeichen. In einigen Fällen nahm die Rekonstruktion der chronologischen Hand-Folge viel Zeit in Anspruch. Die Zuordnung der Token zu den entsprechenden Händen, geschah dabei anhand verschiedener Hinweise innerhalb der Bilder. So kann die zeitliche Abfolge der Hände bspw. über die sich überlagernden Farbschichten der Sprühdosen, syntagmatische Veränderungen221 oder referentielle Aspekte222 ermittelt werden. Die Erfassung der Token und die Übertragung der Modifikationen läuft auf ähnliche Weise wie bei der Erfassung der Token aus Hand 1 ab: Nach der Erstellung einer weiteren Hand223, wird eine dunkel-graue, halb-transparente Box über das modifizierende Token gelegt, transkribiert und mit entsprechenden Attributen annotiert, wobei neben dem tokenType: modification auch der Typ der Modifikation (mod_type) erfasst wird. Die Modifikationstypen – wie z. B. das RasierenATTval, also vollständiges Löschen, oder das Hinzufügen von Token – wurden dabei nicht im Vorherein festgelegt, sondern entstanden sukzessive während des Digitalisierungsprozesses. Eine Übersicht über die Typen und Modifikationsroutinen wird in Kapitel gegeben. Die systematische Transkription der Streichungen und Rasuren ist ebenfalls vollständig in der Übersicht wiedergegeben.224 Die Relationen zwischen den modifizierten und modifizierenden Token wurden über die Erstellung der edges (oder Kanten) erfasst. Der relation_type gibt dabei die Modifikationsweise an: wurde ein Token hinzugefügt, wie ‘non’ in der oben gezeigten Scritta, so entstehen zwei Kanten mit dem Attribut gefolgt_vonATTval: einmal von dem Token aus Hand 1 (‘Stalin’) ausgehend zum modifizierenden Token aus Hand 2 (‘non’) und einmal vom Hand 2-Token ausgehend zurück zu Hand 1 (‘c’è’). Handelt es sich um eine Rasur oder Streichung, so wird die Tokenbox aus Hand 2 (oder größer) über das modifizierte Token gelegt und über eine Funktion des Grapheditors in GIAnT können die Kanten automatisch erstellt werden.
Der letzte große Tokentyp sind die unter dem Begriff Bildgraphische Zeichen zusammengefassten Token. Alle nicht-sprachlichen Zeichen, wie Hakenkreuze oder Hammer und Sichel, aber auch Pfeile, Smileys oder Herzen sowie Ikone fallen unter diesen Tokentyp. Diese bildgraphischen Zeichen können in jeder Hand vorkommen (und damit auch modifizierend sein) und erhielten ebenfalls attributive Annotationen, die sich von den oben beschriebenen Tokentypen unterscheiden. Attribute wie ToolATTclass oder ColorATTclass wurden erfasst, WortklassenATTclass und LemmataATTclass dagegen sind ohne Bedeutung für diesen Tokentyp. Dafür wurden (ähnlich wie bei den Modifikationen) in einem späteren Schritt die Zeichentypen klassifiziert, nach semantisch-inhaltlichen Aspekten gruppiert (für eine Übersicht siehe DEFAULT) und über die Attribute signtypeATTclass und sym_fieldATTclass annotiert. Grundlegend wurde bereits bei der Transkription zwischen Symbolen (Ideogrammen, Logogrammen und Grundformen) und Ikonen unterschieden, wobei Ikone wiederum bei signtype und sym_field den Wert iconATTval erhielten und zusätzlich die Referenz der ikonische Abbildung angegeben wurde. In Abb. 57 wäre also die Zeichnung von Che Guevara mit dem Wert [Che Guevara (smiling)]ATTval in der Attributsklasse ico_refATTclass annotiert. Die korrekte Positionierung der Symbol-Tokenbox über das bildgraphische Zeichen ist besonders wichtig, um die Koordinaten innerhalb des Bildes zu erfassen und über die Heatmap-Funktion (siehe oben) auslesen zu können. Weitaus häufiger als bei den zwei oben genannten Tokentypen, kam es bei den Bildgraphischen Zeichen häufiger vor, dass sie nicht über Kanten mit anderen Token verbunden sind, da sie normalerweise nicht in die Satzsyntax eingebunden werden. Ausnahmen bilden dabei eine bestimmte Zeichenkonstruktionen, bei denen emblemartig Schriftzeichen mit (meist politischen) Symbolen verbunden wurden (siehe DEFAULT).
Group – Gruppierung von Token und Frame-Identifier
Das Korpus wurde bis in die Analyse-Phase kontinuierlich gepflegt, d. h., Daten und Werte wurden kontrolliert und nötigenfalls korrigiert. Besonders der Bereich der POS-Annotationen in den verschiedenen Sprachen und die einhergehende Lemmatisierung bedurfte einiger Revision und Bereinigung, da neben den oben erwähnten Lakunen bspw. dialektale Worteinheiten, Eigennamen und die vorlagengetreue Transkription der Groß- und Kleinschreibung zu falschen Werten in den Wortklassen und Lemmata-Annotationen führten. Abschließend ist zu erwähnen, dass die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch erhebt, ein fehlerfreies Korpus bereitzustellen, da dies allein schon aufgrund der Beschaffenheit des Sprachmaterials und der händischen Annotation nicht möglich wäre.
Die letzte Kategorie von Knoten werden unter dem Label Group zusammengefasst. Wie die Modifikations-Boxen können auch hier innerhalb einer Hand gelbe, blaue oder rosa, halbtransparente Boxen über ein oder mehrere Token gelegt werden und manuell oder automatisch per Klick eine Verbindung (Kante) zwischen den darunterliegenden Token und dem Group-Knoten erstellt werden.225 Die Gruppierungsfunktion diente in erster Linie dreierlei Zwecken. Erstens wurden zusammenhängende Textpassagen, die sich auf (mehr oder weniger bekannte) Aussagen anderer Personen bezogen, als Quote-Gruppen226 markiert. So konnten bspw. abgeschriebene Liedtexte oder Zitate von politischen Akteuren beliebiger Länge markiert werden. Analog zu den oben erwähnten Labels, wurden auch hier die entsprechenden Informationen innerhalb der dafür erstellten Merkmalsklassen annotiert. Zitate aus dem politische Bereich erhielten bspw. in der Merkmalsklasse quote_polATTclass einen Verweis auf die zitierte Person, zitierte Liedtexte (oder -passagen) dagegen in der Klasse quote_songATTclass einen entsprechenden Verweis, ob es sich um den Titel oder Textteile des Liedes handelt. Zweitens wurden über die Comment-Knoten Tokengruppen markiert, um einen bestimmten Typ der Modifikation zu erfassen, nämlich die Kommentare. In einigen Fällen wurden Token aus einer chronologisch vorher schreibenden Hand durch eine oder mehrere Hände kommentiert, wie es im Beispiel der Bruciafero-Scritta der Fall ist. Neben den Token, die kommentiert wurden (tobecomATTclass), wurden auf diese Weise die kommentierenden Tokenfolgen als comATTclass-Gruppe erfasst. Neben diesen kategorialen Erschließungen, wurde analog zu den Modifikationstypen (s. o.) die Kommentarart typisiert: com-ATTval und com+ATTval zeigen eine negative bzw. positive Aussage in Bezug auf die kommentierte Hand an, neutrale Kommentare wurden mit comATTval markiert. Zuletzt dienen die Group-Knoten dazu, bestimmte Token innerhalb einer Scritta als (im weitesten Sinne) frame-identifier zu erfassen. Das bedeutet, dass jene Token mit einer Frame-Box überlegt wurden, die bei der Kategorisierung der Gesamtscritta am bedeutendsten erschienen.227 Damit sind weniger saliente Formen der Token gemeint (also bspw. der Fascio-Font oder die relative Größe eines Token), sondern vielmehr inhaltlich-semantische Aspekte. Hierbei müssen Token nicht zwangsläufig semantisch besonders ausdrucksvoll sein, um bei der Kategorisierung von Bedeutung zu sein, sondern der Ko-Text bzw. die Gesamtscritta und der außersprachliche Kontext bewirken, dass ein Token als Hinweis für eine Kategorisierung wahrgenommen wird, wobei auch syntagmatische und paradigmatische Aspekte eine Rolle spielen.
Grundlegend wurde bei der Markierung dieser Token zwischen drei Arten von frame-identifier unterschieden: der PredATTclass-Gruppe, welche sich auf Prädikate bezieht, die RefATTclass-Gruppe, d. h. Token, die auf abstrakte oder konkrete Objekte referieren, und schließlich die OntATTclass-Gruppe, die sich auf Begriffe in einer ontologischen Hierarchie beziehen. Letztgenannte Gruppe lehnt sich dabei an die Konzeptmetaphern bei Lakoff und Johnson (2014) bzw. den Ausführungen zur Expressivität bei Elissa Pustka (2015, 113-116) an.228 Wie in Kapitel festgehalten, handelt es sich bei der Attributsklasse der sprachlichen und bildgraphischen Zeichen um Zeichenmodalitäten, mit einem besonders hohem Ausdruckspotenzial, wodurch diese Klassen (v. a. die Lexik bei den sprachlichen Zeichen und die Inhalte der bildgraphischen Zeichen) von hohem Gewicht bei der Bildung der Genre-Prototypen sind. Die Markierung über die frame-identifier markieren somit jene Token, die bei der Typisierung der Scritte (und letztlich bei der Bildung der Prototypen) von ganz zentraler Bedeutung sind, da sie das höchste Ausdruckspotential bieten. Diese Token helfen (mehr als andere) bei der Zuordnung der Gesamtscritta zu einem Genre und die Vorgruppierung nach Ref-, Pred- und Ont-Gruppen spiegelt außerdem das Kombinieren dieser Hinweise im Typisierungsprozess auf Rezipientenseite wider: Token, die zur Ref-Gruppe gehören, also einen klaren Bezug zu Referenzobjekten oder -konzepten aufweisen, können isoliert auftreten und aktivieren bestimmte Wissenskontexte (Frames). Pred- oder Ont-Token dagegen stehen in Verbindung zu Ref-Token, wodurch bei der Rezeption über diese Relationen und die Kombination der semantischen Inhalte der Token der Typisierungsprozess beschleunigt wird. Ont-Token sind strenggenommen ebenfalls Token mit Bezug auf bestimmte (abstrakte oder konkrete) Objekte oder Konzepte, bieten – für sich genommen jedoch – weitaus weniger semantische Dichte. Ähnlich verhält es sich bei Pred-Token, da die Prädikate isoliert weitaus weniger Informationen für die Typisierung bieten, als wenn sie in Relation mit einem Ref-Token auftreten. In der Praxis unterscheidet sich der semantische Gehalt natürlich von Token zu Token, wobei zwar die Wortklassen einen Hinweis auf diesen Gehalt geben können, aber die konkreten Ergebnisse werden zeigen, dass hier weiter differenziert werden muss. Ich möchte die Markierung der Token mittels dieser frame-identifier anhand zweier einfacher Beispiele darstellen: In einer (Liebes-) Scritta, wie in Abb. 22, ist das Token AMO der Pred-Gruppe zugehörig und steht in Verbindung zum Eigenamen GIULIA, der, wie auch das Herzsymbol, zur Ref-Gruppe gehört. Ohne die Angabe des Nachnamens von Giulia ist die Referenz für den Großteil der Rezipienten nicht besonders genau zu bestimmen229, aber die Verbindung mit dem Pred-Token amo und dem Ref-Token ‘Herzsymbol’ kann die Scritta recht schnell dem Liebes-Genre zugeordnet werden. Anders verhält es sich mit den Ont-Markierungen, wie man in der Scritta in Abb. 32 sehen kann. Die Ref-Token Lazio (gestrichen) und Roma (beide beziehen sich kontextbedingt deutlich auf die Fußballvereine A.S. Rom und S.S. Lazio) stehen in Verbindung mit dem Ont-markierten Token merda. Das Lexem merda hat offensichtlich einen eigenen (ebenfalls deutlichen) Referenzbezug, jedoch wäre eine Scritta-Typisierung mit dem isoliert auftretenden Token merda weitaus schwieriger. Als Typ einer ontologischen Hierarchie und in Verbindung zu den Ref-Token ergibt sich dagegen eine deutliche Zuordnung der Scritta nicht nur zum Genre ULTRAS (dafür würden bereits die beiden Eigennamen alleine ausreichen), sondern zu einer untergeordneten Ebene dieses Genres und zwar eine aversive Ultras-Scritta.
Die Gruppierung der Token nach Ref-, Ont- und Pred-Klassen bieten Raum für verschiedene Analysen: So können die Lexeme der Ref-Token ausgelesen und Kommunikationsstrategien innerhalb einzelner Genres oder genreübergreifend abgeleitet werden, bspw. beim Gebrauch von Eigennamen oder der Verwendung von Wortfeldern oder Schlagwörtern. Ebenso können solche ontologischen Hierarchien für die Genres (sowie für das Gesamtkorpus) erstellt und interpretiert werden.
Um eine direkte Verbindung für einen ersten Beleg zu erhalten, wurden Links zu Internetseiten (bspw. zu Wikipedia) in entsprechende Annotationsklassen an die einzelnen Gruppenknoten geschrieben. Dies erleichtert die Überprüfung der annotierten Daten und imitiert auf eine (offensichtlich sehr vereinfachte und langsame) Art und Weise die Aktivierung bestimmter Frames oder Wissenskomplexe auf Seiten der Rezipienten.
5.3. ScriMuRo – das fertige Korpus
Dieses Kapitel gibt einen Überblick zu allen Eckdaten des ScriMuRo-Korpus, welche aus der Digitalisierung des Sprachmaterials hervorgegangen sind. Das Korpus wird im Rahmen dieser Arbeit für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Einige der Attribute und Daten werden dabei lediglich für die Analyse dieser Forschungsarbeit benötigt und werden daher nicht veröffentlicht.
5.3.1. Grundlegende Daten
Kategorie |
Anzahl |
Datenbank Code (:Label) |
Fotos |
2314 |
(:Image) |
Scritte |
3294 |
(:Fragment) |
Token – Gesamt – Sprachliche Zeichen – Bildgraphische Zeichen |
19.114 17.158 1.956 |
(:Token)
|
Relationen zwischen Knoten insg. |
65.370 |
[:edge] |
Gruppen (Kommentare, Frames, Blanco) |
6.124 |
(:group) |
5.3.2. Annotierte Attributsklassen
Knoten/Kategorie |
Attributsklasse |
Datenbank Code {Property} |
Fotos (:Image) |
IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer) |
<ID> |
DateinameATTclass |
{file_path} |
|
GPS-KoordinatenATTclass |
{longitude} |
|
|
ErstellungsdatumATTclass (Erstellung der Fotografie) |
{GPSDateStamp} |
Scritte (:Fragment) |
IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer) |
{id} |
|
GPS-KoordinatenATTclass |
{longitude} |
|
GenresATTclass (1, 2, 3) |
{heurThem, heurThem2, heurThem3} |
|
TotenkultATTclass |
{deathcult} |
|
TypographieATTclass |
{graphtype} |
Token (:Token) – Sprachliche Zeichen |
IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer) |
{id} |
|
GPS-KoordinatenATTclass |
{longitude} |
|
HandATTclass |
{hand} |
|
TranskriptionATTclass |
{value} |
|
KonjekturenATTclass (Divinatorische Verbesserungen; s. o.) |
{conjecture} |
|
EmendationATTclass (Evidente Verbesserungen; s. o.) |
{emendatio} |
|
POSATTclass (Wortarten) |
{POS} |
|
LemmaATTclass |
{Lemma} |
|
DialektATTclass |
{dialect} |
|
SpracheATTclass |
{language} |
|
KürzungenATTclass |
{abbreviation} |
|
FarbeATTclass |
{color} |
|
TypographieATTclass |
{graph} |
|
TrägerATTclass |
{ground} |
|
ErstellungswerkzeugATTclass |
{tool} |
|
Erklärende InternetartikelATTclass |
{InternetLink}, {Internet2} |
Token (:Token) – Bildgraphische Zeichen {tokenType: Symbol/ tokenType: Ikon} |
IDATTclass (eindeutige Identifikationsnummer) |
{id} |
|
GPS-KoordinatenATTclass |
{longitude} |
|
HandATTclass |
{hand} |
|
TranskriptionscodeATTclass (Digitaler Code für Bildgraphische Zeichen) |
{value} |
|
ZeicheninhaltATTclass (Zuordnung der Zeichen zu thematisch gegliederten Inhalten) |
{sym_field} |
|
ZeichentypATTclass |
{signtype} |
|
FarbeATTclass |
{color} |
|
TrägerATTclass |
{ground} |
|
ErstellungswerkzeugATTclass |
{tool} |
|
Erklärende InternetartikelATTclass |
{InternetLink}, {Internet2} |
Die Modifikationstoken {tokenType: modification} enthalten neben den eben genannten Attributen der Token-Klasse – abhängig davon, ob es sich um sprachliche oder bildgraphische Zeichen handelt – zusätzlich das Attribut ‘Modifikationstyp’ ({mod_type}).
6. Genre-Prototypen der Scritte Murali
Wie in Kapitel im Rahmen des Analyse-Modells festgehalten, wird davon ausgegangen, dass sich die Produzenten und Rezipienten beim Erstellen und Lesen an sog. Genres orientieren. Diese strukturierten, sozio-kognitiven Komplexe fungieren als zentrale Orientierungspunkte bei der Typisierung der Einzeltexte und werden nicht willkürlich, sondern anhand bestimmter Merkmale der Scritte nach Domänen (vor-) sortiert. Den Blick der Rezipienten im öffentlichen Raum einnehmend, wurden die Scritte bei der Digitalisierung induktiv diesen Domänen zugeordnet. Dies geschah auf Basis der in Kapitel beschriebenen Attribute der Scritte. Nachfolgend werden zunächst kurz die erschlossenen Genre-Domänen, die im Korpus vorkommen beschrieben und die statistische Verteilung auf das Gesamtkorpus gezeigt. Anschließend werden die Attributs-Werte zu den einzelnen Genre-Domänen ausgewertet und anhand der statistischen Daten jeweils die Genre-Prototypen erstellt. Dabei wird nach der Gewichtung in zentrale, periphere und subsidiäre Attribute unterschieden und über die Häufigkeit dieser Attributswerte interpretiert. Den domänenspezifischen Prototypen (die auf der Basisebene anzusetzen sind, siehe Kapitel ) vorangestellt, wird ein Überblick zur übergeordneten Ebene – d. h. Scritte Murali generell – gegeben. Wie sich zeigen wird, verfügen die domänenspezifischen Prototypen der Basisebene in einigen Fällen über eine untergeordnete Kategorie (die sog. Subdomänen), welche ebenfalls ausgewertet werden und den ihnen übergeordneten Kategorien bzw. Domänen sowie den ko-hyponymischen ‘Nachbarkategorien’ gegenübergestellt werden. Vor der Auflistung der extrahierten Domänen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass in diesem Kapitel keine Interpretation der Ergebnisse erfolgen wird, sondern lediglich die auf den statistischen Auswertungen der Attributswerte basierenden Prototypen gezeigt und auf eventuelle Auffälligkeiten bezüglich der in Kapitel beschriebenen Prototypen-Bedingungen hingedeutet werden. Diese Prototypen werden dann im anschließenden Kapitel in Beziehung zu den analytischen Basiskategorien aus Kapitel gesetzt und dementsprechend interpretiert.
Folgende Domänen wurden während der Digitalisierung des Sprachmaterials erfasst:230
Domäne |
Beschreibung |
POLITIK |
Scritte Murali, welche im weitesten Sinne mit der Wissenskonfiguration des Bereiches ʻPolitik’ verbunden sind – ganz gleich, ob es sich dabei um politische Parolen handelt, politische Akteure benannt werden oder lediglich bildgraphische Zeichen aus dem semantischen Bereich der Politik erstellt wurden. |
ULTRAS231 |
Texte, die in jeglicher Weise Wissenskomplexe der Domäne ULTRAS evozieren. Bewusst wurde der Begriff Ultras gewählt, da eine Domäne FUßBALL den Fokus zu sehr auf den Sport an sich richtet. Es lässt sich deutlich erkennen, dass der sportliche Aspekt lediglich eine Nebenrolle in den realisierten Texten einnimmt und die (Fan-) Gruppierungen das zentrale Moment (der Frame- oder Domänen-Kern) in diesem Bereich sind. Grundlegend ist dabei zu bemerken, dass es sich bei den sog. Ultras nicht um Fußball-Hooligans handelt, deren Ursprung in der englischen Fußballkultur liegt und die heutzutage v. a. in Nord- und Osteuropa verbreitet sind. Die Ultras-Bewegungen entstanden tatsächlich in Italien in den 1960er und 1970er Jahren und werden – anders als dies bei den Hooligans der Fall ist, die traditionell v. a. aus Mitgliedern der Unter- und Arbeiterschicht bestehen – von Individuen aus allen sozialen Gesellschaftsschichten gebildet. Besonders in Italien besteht seit jeher eine enge Verbindung zwischen (extrem-) politischen Lagern und den Ultras-Gruppierungen, welche auch in den zahlreichen Aktionen innerhalb und außerhalb der Stadien deutlich erkennbar wird.232 Diese in hohem Maße organisierten Fangruppierungen üben dabei häufig auf vereinsinterner wie -externer und sogar gesellschaftlicher Ebene enormen Einfluß aus (vgl. Festa und Claus/Gabler 2018). |
Expressivität |
Mit Expressivität (lat. ex-pressus aus-gedrückt) sind hier Texte gemeint, die (im engeren Sinne) den Ausdruck von Emotionen vermitteln (sollen).233 |
Diverses |
Unter dieser Domäne werden Scritte gesammelt, welche Frames unterschiedlichster Art evozieren, wobei entweder die Frames derart unspezifisch sind, dass eine genauere Zuordnung nicht möglich ist, oder die Token und Types unzureichend häufig auftreten, um eine eigene Domäne zu eröffnen. Interessant in dieser Domäne sind vor allem die Subkategorien, wie z. B. Scritte aus dem Bereich der Subkultur oder Gruß-Texte (meist ohne Adressat). |
Ideologie |
Hierunter fallen Texte, die ideologisches Gedankengut ausdrücken. Mit Ideologie sind hier Weltanschauungen, Grundwerte oder Wertungen gemeint, die an soziale Gruppierungen, Kulturen oder ähnliches gebunden sind und oftmals (aber nicht ausschließlich) politische Hintergründe haben (vgl. Duden 2020). |
Religion |
Scritte Murali, die Frames, welche im weitesten Sinne mit Religion jeglicher Art in Verbindung stehen., aktivieren. |
Feminismus |
Dieser Domäne zugehörige Scritte sind oftmals stark politisiert und werden mit einem Wissenskomplex ʻFeminismus’, i. S. v. „Richtung der Frauenbewegung, die, von den Bedürfnissen der Frau ausgehend, eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Normen (z. B. der traditionellen Rollenverteilung) und der patriarchalischen Kultur anstrebt“ (Duden 2020b), verbunden. |
NA |
Scritte, welche keinerlei Wissenskomplexe auf Textebene aktivieren, da sie komplett rasiert wurden, wurden mit ʻNA’ (not available) versehen. Offensichtlich haben auch solche Scritte ʻausdrucksvoll’ kommunikativen Gehalt, aufgrund der geringen Anzahl, können sie jedoch im Interpretationsteil ignoriert werden. |
Wirft man einen Blick auf das Sprachmaterial, könnte man argumentieren, dass ein nicht unerheblicher Teil der Texte, die unter den voranstehenden Domänen kategorisiert wurden, ebenfalls Emotionen ausdrücken (oftmals Beschimpfungen und Diffamierungen) und sie daher ebenfalls der Domäne ʻExpresivität’ zugeordnet werden müssten. Diesbezüglich möchte ich auf Kapitel verweisen und auf die dort beschriebenen Abstraktionsprozesse innerhalb der Kategorisierungsabläufe. Die Domänenzugehörigkeit orientiert sich an den am höchsten, also abstraktesten, anzusetzenden Matrix-Frames (= hier Domänen), die im Zuge der Vorsortierung als Fixpunkte dienen. Diese abstraktesten Wissensstrukturen umfassen komplexe Konzept- und Handlungskomplexe. Für eine Zuordnung zur Domäne EXPRESSIVITÄT war nun ausschlaggebend, dass keine weiteren gleichwertigen oder gleich-relevanten (i. S. v. ko-hyponymischen) Matrix-Frames aktiviert werden. Dies geschieht bei emotionsausdrückenden Scritte der Domänen POLITIK oder ULTRAS sehr wohl, da diese äußerst komplexen Wissensstrukturen jenem Frame der ExpressivitätFRAME234 nicht nur gleich- sondern übergeordnet sind. Eine einfache Erklärung liegt darin, dass die frame-identifier (Kernelemente/Schlüsselwörter) an der Textoberfläche im Bereich der Ultras- oder Politik-Scritte weitaus informationsreicher und somit die aktivierten Frames von höherer Komplexität sind. Exemplarisch kann dies an der einfachen Tokenfolge X + boia illustriert werden:235
- Marco boia
- Laziale boia
Beide (Matrix-) Frames, die durch die Stimuli Marco und Laziale aktiviert werden, beinhalten bestimmte Merkmale (Instanzen oder Slots) mit bestimmten Standardwerten (default values), wobei theoretisch jeder Wert wieder einen Frame eröffnen und größere Wissenskomplexe mit dem Frame verbinden kann. Nun handelt es sich in beiden Fällen um Autosemantika, jedoch scheint es offensichtlich, dass der durch Laziale aktivierte Frame mehr Instanzen und folglich eine größere Zahl an Standardwerten aufweist, und somit spezifischer ist.236 Wie in DEFAULT mit Ziem festgehalten, entsprechen den Instanzen Fragen, „die sich sinnvoll hinsichtlich eines Bezugsobjektes stellen lassen“ (2008, 304). Im Zuge der Vorsortierung237 möglichst abstrakte Frames/Domänen zu erhalten, steigt auch der Abstraktionsgrad der Fragen, wodurch die Menge an möglichen Fragen proportional abnimmt (vgl. Ziem 2008, 306). Eine Möglichkeit, sinnvolle Fragen bzw. Instanzen238 (für Substantive) zu ermitteln, wäre die sog. Hyperonymtypenreduktion, wie sie Klaus-Peter Korneding entwickelt hat.239 Die Instanzen der Frames, die durch Token aufgerufen werden (hier Marco und Laziale), decken sich mit den Instanzen der durch Reduktion ermittelten Instanzen der Hyperonyme, deren Substantivtypen den Matrix-Frames entsprechen. Entscheidend ist nun, die Fragen240 für diese Hyperonyme zu bestimmen. Diese Vorgehensweise hat sich, wie Lönnekers Korpusanalysen gezeigt haben, empirisch bewährt, wobei Lönneker gezeigt hat, dass nicht alle Frames auf der gleichen Ebene anzusetzen, sie also nicht gleichberechtigt sind, sondern in einer vertikal ausgerichteten Hierarchiebeziehung auftreten (vgl. Ziem 2008, 313-316). Beide Token Marco und Laziale aktivieren zwar den Matrix-Frame PersonFRAME oder LebewesenFRAME, die Instanzen für MarcoFRAME sind jedoch weitaus unspezifischer, als für Laziale, d. h., der Frame zu MarcoFRAME hat Standardwerte wie z. B. [Vorname], [männlich], [häufig verwendet im italienischen Sprachgebiet], [Stammt von lat. Marcius oder Marcianus] usw.241, wovon – wie gesagt – jeder Standardwert wiederum Frames aktiviert. Wie in DEFAULT bereits erwähnt, sind Eigennamen eigentlich semantisch leer und tragen an sich erst einmal keine Bedeutung (vgl. Hoffmann 1999, 213), sondern erfahren erst durch bestimmte Kontexte ihre Bedeutung. Demgegenüber aktiviert das Token Laziale Instanzen des Typs [Einwohner der Region Latium] oder [Anhänger oder Spieler des Vereins S.S. Lazio Rom],242 wobei der Kontext der Scritta die zweite Instanz ([Anhänger des Vereins S.S. Lazio Rom]) salienter erscheinen lässt. Diese Instanz aktiviert eine Vielzahl an weiteren Frames, die mit dem Matrix-Frame verbunden sind. Von fundamentaler Bedeutung ist, dass nicht alle Instanzen und Frames gleich relevant sind, da es in erster Linie nicht maßgebend ist, ob Frames zueinander generell interaktionsfähig sind, ob sie also miteinander verknüpft werden können, sondern der „Grad der Salienz bestimmter Annahmen“ (Ziem 2008, 332), sprich, „es erweisen sich keineswegs alle Leerstellen und alle Standardwerte als gleichermaßen relevant, wenn ein Wort einen Frame aufruft. […] Nur im Fall hoher Salienz erfolgen implizite Prädikationen“ (Ziem 2008, 339-340).243 So ist der Frame [Berühmte Namensträger der italienischen Geschichte]FRAME (bspw. Marco Polo), der durch die Instanz [männlicher Vorname] aktiviert werden kann, im Kontext einer Scritta Murale nicht sinnvoll i. S. v. nicht relevant. Die Instanzen und damit verbundenen Frames von MarcoFRAME beschränken sich also auf ein (relevantes) Minimum, bei Laziale dagegen sind die verknüpften Frames bis hin zu UltrasFRAME mit seinen Standardwerten sehr wohl relevant und v. a. weitaus spezifischer. Der maßgebende Schritt für die Entscheidung der Rezipienten die Scritte jeweils einer Domäne EXPRESSIVITÄT bzw. ULTRAS zu zuordnen liegt in der Verknüpfung aller relevanten Frames und die anschließende Reduktion auf einen Matrix-Frame.
Der Handlungsframe BeschimpfenFRAME ist mit den Konzeptframes von MarcoFRAME und LazialeFRAME verbunden. Die oben beschriebenen Fragen und Ableitungsprozesse zu den beiden Bezugsobjekten eröffnen auf der Seite des Frames MarcoFRAME weitaus weniger spezifische Informationen, als auf der Seite des Frames UltrasFRAME. WER beschimpft WEN? (als Frage für den Beschimpfungsframe) kann für die Tokenfolge Laziale boia viel genauer vermutet werden244, als bei Marco boia245. Der Handlungsframe BeschimpfenFRAME ist außerdem in eine der Standardwerte des Frames eingebettet und zwar in [Typische Verhaltensweise].246 Einen als Standardwert angenommenen Wert des Typs [Wird typischerweise beschimpft] existiert für den Frame MarcoFRAME dagegen nicht. Somit steigt im Falle von Marco boia der Handlungsframe BeschimpfenFRAME als abstrakter Frame auf; bei Laziale boia dagegen ist der Frame BeschimpfenFRAME eingebettet in den höheren Frame UltrasFRAME. Die Dominanzen innerhalb der aktivierten Frames würden sich verschieben, wenn bspw. das Token Marco durch weitere Token oder konventionalisierte Standardwerte247 genauer spezifiziert wäre, bspw. durch einen Nachnamen.248.
Generell spielt bei der Zuordnung der Scritte zu Domänen – bzw. ganz allgemein bei der Bildung (proto-) typischer Wissensstrukturen – die Rekurrenz bestimmter (sprachlicher, wie außersprachlicher) Werte eine zentrale Rolle.249 Mit Bezug auf Standardwerte und prototypische Frames, bemerkt Ziem, „dass explizite Prädikationen durch eine verhältnismäßig hohe Frequenz ihres Auftretens zu guten Kandidatinnen für künftige implizite Prädikationen werden. Die große Menge potentiell relevanter Standardwerte verringert sich so schlagartig. Ganz analog gilt für Leerstellen: Nur diejenigen Leerstellen, in denen Werte häufig instantiiert werden, erweisen sich als primär verstehensrelevant“ (2008, 341). Dies erklärt nicht nur, wieso sich anhand der Korpusanalyse und den quantitativ gestützten statistischen Auswertungen der Werte, u. a. prototypische Strukturen (Genres) rekonstruieren lassen, sondern auch, weshalb eine Restgruppe (DIVERSES) als Domäne existiert, da unter dieser Domäne auch Scritte zusammengefasst werden, deren Token(folgen) nicht ausreichend häufig auftreten, um sie einer speziellen Domäne zuordnen zu können. Wie zentral die Rolle der Auftretens-Häufigkeit von Token und Types für die Bildung der Prototypen generell ist und in welchem Zusammenhang die Frequenz mit den Frame-Abläufen steht, beschreibt Ziem, der Erkenntnisse aus der Kognitiven Grammatik und des Entrenchment-Phänomens mit den Verfestigungen von Leerstellen und Werten in der Frame-Semantik verknüpft:
Die eingeführte Unterscheidung zwischen der Verfestigung von Leerstellen einerseits und der Verfestigung von Werten andererseits wird zwar weder in der Kognitiven Grammatik noch in der Konstruktionsgrammatik thematisiert, jedoch lassen sich Bezüge zu zwei geläufigen Erklärungen von ‘entrenchment’-Phänomenen herstellen. So werden Verfestigungen entweder durch eine hohe ‘Token-Frequenz’ (‘token frequency’) oder durch eine hohe ‘Type-Frequenz’ (‘type frequency’) erklärt.(Ziem 2008, 343)
Abschließend sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Domänen-Zuordnung trotz aller, aus wissenschafts-theoretischer Perspektive, beschriebenen Kategorisierungsabläufe im Rahmen dieser Arbeit immer aus subjektiver Sicht des Verfassers geschehen ist und somit Zuordnung der Scritte aus Sicht des Lesers davon abweichen können. Dass es zur Kategorisierung von den im bisherigen Verlauf der Arbeit bezeichneten Liebes-Scritte zu einer Domäne EXPRESSIVITÄT und nicht einer eigenen Domäne LIEBES-SCRITTE gekommen ist, liegt sicherlich auch am Verlangen, Objekte möglichst abstrakt zu kategorisieren und übergeordneten Wissenskomplexen zu zuordnen – wie dies allgemein bei der Kategorisierung von Objekten geschieht (siehe oben und DEFAULT).250 Diese Bündelung zu höher gestellten Matrix-Frames entwickelte sich im Verlauf der Digitalisierung und Annotation des Sprachmaterials, d. h. mit zunehmender (intensiver) Beschäftigung mit den Texten, wodurch der Übergang von der Laien- zur Experten-Perspektive unvermeidbar war. Konsultiert man die Daten, so zeigt sich, dass der größte Anteil der Expressivitäts-Scritte tatsächlich Liebes-Scritte sind – prototypische Scritte des Genres EXPRESSIVITÄT sind also Liebes-Scritte. Zuletzt ist eben genau einer der Merkmale von prototypischen Kategorien, dass sie über unscharfe Grenzen verfügen und dies zeigt sich genau in der subjektiven und rekonstruierenden Interpretation der Scritte in dieser Arbeit.
6.1. Scritte Murali als übergeordnete Kategorie
Die oben genannten acht Domänen zeigen folgende Verteilung auf die insg. 3294 erfassten Scritte Murali:251
Domäne |
Häufigkeit |
Anteil an gesamter Domänen-Anzahl (3741) |
Anteil (bereinigt) |
Politik |
1117 |
30 % |
28,90 % |
Ultras |
1001 |
27 % |
26,92 % |
Expressivität |
740 |
20 % |
20,12 % |
Diverses |
740 |
20 % |
20,31 % |
Ideologie |
60 |
2 % |
1,56 % |
Religion |
46 |
1 % |
1,23 % |
Feminismus |
35 |
1 % |
0,91 % |
NA |
2 |
0,05 % |
0,05 % |
|
3741 |
|
|
Bei insgesamt 425 Scritte – also 12,90 % der Scritte – wurden > 2 Domänen vergeben, wodurch sich eine Gesamtzahl von 3741 vergebenen Domänen auf die 3294 Scritte ergibt. Bei einem geringen Teil der Scritte (2,51 % der insg. vergebenen Domänen) konnte eine Domänen-Zuordnung lediglich vermutet werden. Diese wurden mit einem vorangestellten ʻ?’ markiert (im Format ?DOMÄNE). Die Spalte Anteil (bereinigt) gibt den prozentualen Anteil der Domänen an den insgesamt vergebenen Domänen ohne diese fraglichen Domänen an.252
Die domänen-spezifischen Scritte verteilen sich folgendermaßen im Untersuchungsgebiet:253
IK 2: Domänenverteilung in den Erhebungsgebieten – Vollbildanzeige
6.1.1. Zentrale Attributsklassen – Gesamtkorpus
Tokenanzahl der Hand 1
Die gezeigten Werte beziehen sich auf die Tokenzahl aus Hand 1 pro Scritta Murale, unabhängig von Sprachen oder sonstigen Attributen (außer der erstellenden Hand).254
Modifikations-Anfälligkeit
Von den insgesamt 3294 Scritte des Korpus wurden 767 modifiziert, d. h., 23 % der Scritte wurden von mindestens einer, maximal aber sieben weiteren Händen modifiziert. Für eine genaue Beschreibung der typischen Modifikationsroutinen siehe Kapitel .
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Mit 39 % weisen über ein Drittel der Scritte bildgraphische Zeichen mit unterschiedlichsten Inhalten auf. Eine Übersicht zu den insgesamt verwendeten bildgraphischen Zeichen ist in Kapitel zu finden.
Sprachliche Zeichen
Lexik
Bei der Ermittlung der Lexik wurden zunächst lediglich die aus Hand 1 stammenden Lemmata der verwendeten Token ausgewertet. Ermittelt wurden die semantisch geladenen Lexeme, d. h. Substantive, Adjektive, Adverbien und Interjektionen.255 Interessant wird die Auswertung der Lemmata – und damit der semantischen Wortfelder – jedoch erst bei den jeweiligen Domänen und im Vergleich derer untereinander. Die folgenden zwei Charts geben die 423 im Gesamtkorpus auftretenden Lemmata mit einer Mindestfrequenz von 3 an.256
Eigennamen
Domänen- und Handübergreifend wurden 161 Eigennamen ermittelt. Nachfolgend werden die verwendeten Eigennamen mit einer Mindestfrequenz von 3 angegeben. Nicht selten werden Eigennamen in den Scritte Murali gekürzt, wobei diese Token meist auf Basis der Satzstruktur als Eigennamen identifiziert wurden. Diese Kürzungen – die teilweise aus lediglich einem Buchstaben bestehen – werden ebenfalls angegeben.
Sprachen und Dialektale Varianten
Folgende Sprachen wurden über alle Hände verteilt im Gesamtkorpus erfasst:257
Lediglich 393 Token im Korpus treten in dialektaler oder regionaler Variante auf, von denen bis auf sieben Token in süditalienischen Varianten (vermutlich neapolitanischer Dialekt) alle in der römischen Varietät realisiert sind. Insgesamt werden nur 140 verschiedene Lemmata in dialektaler Variante realisiert, wobei die Hälfte aller aufgetretenen Token von 10 Lemmata gebildet werden.
Kürzungsverfahren
Unter Kürzungsverfahren werden hier Token verstanden, die Vollformen auf graphematischer Ebene gekürzt repräsentieren. Unterschieden wurde dabei zwischen zwei Typen von Akronymen (gemeint sind hier allgemein Initialwörter), Kopf- und Endformen und rein graphematische Abkürzungen der Vollformen:
Akronyme – initial |
Die Token werden aus den Initialen oder Initialsequenzen der Vollform-Konstituenten gebildet. |
Akronyme – mix |
Token werden hierbei sowohl durch Initialen der Konstituenten als auch durch Klammerwörter gebildet werden. |
Kopfformen |
Teile am Ende der Vollform werden getilgt. |
Endformen |
Teile am Anfang der Vollform werden getilgt. |
Graphematische Abkürzung |
Die Vollform wird auf graphematischer Ebene verkürzt, etwa bei x für per. |
Von insgesamt 13888 Token (die sprachliche Zeichen enthalten), können 1194 diesen Kürzungsverfahren mit folgender Verteilung zugewiesen werden – dies entspricht 8,60 %:
Die häufigsten Realisierungen bis einer Mindestfrequenz von 3 werden nachfolgend dargestellt:
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Bei den Wortarten, die über den TreeTagger mithilfe verschiedener Tag-Sets ermittelt wurden (siehe DEFAULT), ergaben sich für Hand 1 Verteilungen auf das Gesamtkorpus, wie nachfolgend dargestellt.
Die automatisierte Erkennung der Wortarten anhand des TreeTaggers wurde besonders durch die erwähnten Kürzungsverfahren, aber auch durch die vielen Eigennamen, unregelmässig Schreibvarianten und durch Modifikation unlesbare Token erschwert. Nicht erkannte Token wurden als NOCATATTval zusammengefasst.258
Betrachtet man die Verteilung der Wortarten bezogen auf die Tokenanzahl pro Scritta so ergibt sich für Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 für Hand 1 folgendes Bild:
n-Gramme
Die Auswertungen hinsichtlich der syntaktischen Beschaffenheit der Texte ergeben folgende 2-Wortkombinationen.
Die häufigsten 2/3/4-Lemmata-Kombinationen für das Gesamtkorpus sind folgendermaßen realisiert:
Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Als letzte der zentralen Attributsklassen, müssen die (physischen) Ortsdaten der Scritte betrachtet werden. Die georeferenzierten Fotos der Scritte sind, wie in der interaktiven Karte ersichtlich, folgendermaßen im Erhebungsgebiet verteilt. In der Karte können die Frequenzen der Scritte sowohl als Heatmap als auch in Gruppen-Clustern angezeigt werden, um eine visuelle Übersicht zur Verteilung im Gebiet zu erhalten.
IK 3: Standorte der SM des Gesamtkorpus – Vollbildanzeige
6.1.2. Sekundäre Attributsklassen – Gesamtkorpus
Farbe
In der Klasse der Farbe, in welcher die Scritte erstellt wurden, dominiert die Farbe Schwarz mit 60 % der Gesamttoken, gefolgt von Rot, Weiß und Blau mit je 12, 11 und 8 %:
Die Ergebnisse beziehen sich auf alle Hände und beinhalten jede Form von Token. Unter dem Wert FarbkombinationenATTval wurden Scritte zusammengefasst, die anhand mehrerer (max. fünf) verschiedenen Farben erstellt wurden. Bei 244 der insg. 314 dieser Kategorie zugehörigen Scritte kam ebenfalls die Farbe Schwarz, bei 171 die Farbe Rot, bei 154 die Farbe Weiß und bei 47 die Farbe Blau vor. Es lässt sich also auch hier eindeutig die Dominanz dieser vier Farben im Sichtbild der Scritte Murali erkennen.
Typographie
Vor der Darstellung der statistischen Ergebnisse der Attributsklasse Typographie, sei darauf hingewiesen, dass es sich bei den Werten um rein interpretative Werte handelt. Ob also die Graphen eines Token tatsächlich bewusst in einem bestimmten Stil erstellt wurden (Wert: elaboriertATTval) oder die Graphen willkürlich – d. h., ohne einen speziellen Graphtypen zu repräsentieren – realisiert wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, sondern unterliegt der Wahrnehmung des Betrachters. Aus diesem Grund gibt es einen Wert N/AATTval, da es auch aus Sicht des Verfassers nicht immer erkennbar war, ob ein bewusst gewählter Graphentyp seitens des Scritta-Produzenten intendiert war. Eine letzte Gruppe OrnamentATTval bezeichnet jene Scritta-Texte, die nicht nur bewusst elaborierte Graphtypen vorweisen, sondern außerdem verzierende, ornamentartige Elemente aufweisen.
6.1.3. Subsidiäre Attributsklassen – Gesamtkorpus
Zu den ablesbaren Attributen der Scritte Murali zählen schließlich auch die subsidiären, technisch-materiellen Merkmale (siehe DEFAULT), d. h. die ErstellungswerkzeugeATTclass und Träger(flächen)ATTclass.
Erstellungswerkzeuge
Nachfolgende Ergebnisse beziehen sich auf alle Hände der Scritte im Gesamtkorpus inklusive der modifizierenden Token.
Die Werte PinselATTval, (Wand-) FarbeATTval und EntfernerATTval bedürfen weiterer Erklärung: Die beiden erstgenannten Werkzeuge unterscheiden sich hinsichtlich des Formats der Lettern innerhalb einzelner Scritte. Mit Pinsel erstellte Lettern sind dabei kleindimensionierte, im Gegensatz zu mit Wandfarbe erstellten und damit großformatigen Lettern. Zweitgenannte Zeichen können selbstverständlich ebenfalls mit Pinseln erstellt werden, jedoch nicht durch einfache Pinselstriche, wie dies bei der Kategorie Pinsel der Fall ist. Der Wert EntfernerATTval bezieht sich ausnahmslos auf eine Hand 2 und meint das bewusste Entfernen der vorhergehenden Hand durch Personen (witterungsbedingte Unleserlichkeit wird dadurch ausgeschlossen).
Träger(flächen)
Die Scritte des Gesamtkorpus wurden auf folgenden Trägerflächen erstellt (eine Interpretation und genauere Beschreibung erfolgt in den entsprechenden Kapiteln zur Funktionalität der einzelnen Domänen; siehe DEFAULT):
6.1.4. Modifikationsroutinen – Gesamtkorpus
Der Terminus Modifikation im Rahmen der vorliegenden Arbeit bezeichnet das absichtliche Verändern von Scritta-Texten einer oder mehrerer vorangegangener Hände durch Personen. Von den insgesamt 3294 wurden 767 Scritte durch mindestens eine, maximal sieben weitere Hände modifiziert. Mit 23,28 % ist somit knapp ein Viertel aller Scritte durch weitere Personen verändert worden, wobei über 90 % der Scritte durch maximal drei weitere Hände modifiziert wurde, wie aus Tabelle 6 evident wird:
Hand |
Anzahl Scritte |
Anteil |
2 |
467 |
61 % |
3 |
160 |
21 % |
4 |
95 |
12 % |
5 |
30 |
4 % |
6 |
11 |
1.43 % |
7 |
2 |
0.26 % |
8 |
2 |
0.26 % |
767 |
Bei der Erfassung der Scritte bzw. Modifikationen wurden Modifikationen hinsichtlich der Modifikationsebenen, -typen und der Relation zur modifizierten Hand differenziert: Veränderungen aus Hand 2 oder höher können auf Satzebene (Syntax), Tokenebene oder Graphebene stattfinden. Generell lassen sich drei Arten von Relationen zur modifizierten Hand erkennen, und zwar affirmierend (d. h., die nachfolgende Hand bestätigt, bekräftigt oder kommentiert den Inhalt der modifizierten Hand in irgendeiner Form), negierend (hier widerspricht, verneint oder bezieht sich die modifizierende Hand in ablehnender Haltung auf die vorangegangene Hand) oder neutral (wobei weder eine ablehnende oder zustimmende Haltung des Produzenten aus Hand ≥2 nicht erkennbar ist). Insgesamt wurden 13 Modifikationstypen festgestellt, welche nachfolgend in der Tabelle („Anteile der Modifikationstypen – Gesamtkorpus“) 259 und dem interaktiven Chart („Modifikationstypen nach Ebenen – Gesamtkropus“) dargestellt und näher beschrieben werden.
Ich gehe davon aus, dass die Modifikationen nach musterhaften Routinen ablaufen, d. h., Token sowie Satz-, Token und Graphteile werden nicht willkürlich modifiziert, sondern es lassen sich je nach Domäne unterschiedliche Formen der Modifikationsroutinen erkennen. Um diese Routinen ableiten zu können, sind dementsprechende statistische Daten vonnöten, die zeigen, WAS wird WIE typischerweise modifiziert. Diese Daten sind in erster Linie für die jeweiligen Domänen von Bedeutung, sollen jedoch der Vollständigkeit halber auch für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie dargestellt werden. Hierfür wurden verschiedene Abfragen im Korpus durchgeführt, um zu zeigen, welche Token und Wortarten (POS) sowohl für Hand 1 als auch hinsichtlich aller möglichen Hände wie oft und auf welche Art modifiziert wurden. Nachfolgend werden die Ergebnisse in den interaktiven Tabellen dargestellt. Zu beachten ist dabei, dass sowohl die Ergebnisse der modifizierten Token ausschließlich aus Hand 1 als auch über alle Hände verteilt gezeigt werden. Außerdem wird unterschieden zwischen den gesammelten möglichen Werten der modifizierenden Token und den Häufigkeiten der Einzelwerte der modifizierenden Token.
Wortarten (POS):
Bildgraphische Zeichen:
Wie sich aus den obenstehenden Tabellen zu den Wortarten entnehmen lässt, sind bildgraphische Zeichen ein beliebtes Ziel der Modifikationen: sowohl bei Zeichen aus Hand 1 als auch aus allen Händen, liegen die bildgraphischen Zeichen an dritter bzw. vierter Stelle der am häufigsten modifizierten Wortarten. Wie man in Kapitel sehen wird, ist die Verwendung von bildgraphischen Zeichen besonders domänenabhängig und eine statistische Auswertung der modifizierten bildgraphischen Zeichen soll daher erst in den entsprechenden Kapiteln der Domänen erfolgen.
Ortsabhängigkeit:
Auch die Ortsabhängigkeit ist für die Modifikationsroutinen ein zentrales Analysekriterium, wobei dies v. a. für die einzelnen Domänen von besonderer Bedeutung sein wird. Auf das Gesamtkorpus bezogen – und damit gültig für Scritte Murali als übergeordnete Ebene – ist die Ortsabhängigkeit hinsichtlich der Modifikationsroutinen in erster Linie in Bezug auf die Erhebungsgebiete interessant. Modifizierte Scritte sind in der folgenden Karte (IK 4) mit roten Markern dargestellt; Scritte ohne Modifikationen dagegen werden durch blaue Punkte angezeigt. Um die Verteilung der Scritte visuell eindrücklich darzustellen, werden die Erhebungsgebiete ebenfalls illustriert.
IK 4: Ortsabhängig der Modifikationen im Gesamtkorpus – Vollbildanzeige
6.1.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Gesamtkorpus
In den vorangegangenen Kapitel war wiederholt von sog. bildgraphischen Zeichen die Rede. Diese Zeichentypen sind für die Kommunikation anhand von Scritte Murali von Bedeutung, da sie im Vergleich zu sprachlichen Schriftzeichen ihre Inhalte andersartig kommunizieren können (siehe DEFAULT): bspw. verdichten sie den semantischen Inhalt auf äußerst kompakte Weise oder liefern stark konnotierte Nebenbedeutungen. Bildgraphische Zeichen ist in der vorliegenden Arbeit ein Sammelbegriff für alle nicht-schriftsprachlichen Zeichentypen.260 Dabei wurden – ausgehend vom semantischen Zeichenaspekt – verschiedene Zeichenkategorien erfasst und zu Kategorien gebündelt. Nachfolgend werden diese Kategorien kurz beschrieben und anschließend die Ergebnisse der Korpusauswertung gezeigt. Eine Interpretation hinsichtlich der Verwendung der bildgraphischen Zeichen erfolgt an dieser Stelle nicht, sondern findet erst in Kapitel im Rahmen der interpretativen Betrachtungen statt. Vor der Auflistung der Zeichentypen, noch ein kurzes Wort zur verwendeten Terminologie: Einige der Begriffe werden in der Fachliteratur oftmals nicht eindeutig bzw. unterschiedlich (abhängig vom Forschungszweck und -bereich) definiert, so z. B. Ideogramme. Die Begriffe beschreiben im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit bewusst weit gefasste Typenklassen und sollen in keiner Weise eine feinkörnige Kategorisierung darstellen. Vielmehr geht es um eine weitgefasste Sammlung der visuellen, nicht-schriftsprachlichen Zeichen unter den einzelnen Typen.
Zeichentyp |
Beschreibung |
|||||
Ikone |
In der Semiotik werden als ʻIkone’ (in weiteren Sinn) jene Zeichen beschrieben, welche in einem Ähnlichkeitsverhältnis zum Objekt stehen. Eben dieser Ähnlichkeitsaspekt ist ausschlaggebend für die Zuordnung der in den Scritte erfassten Zeichen zu dieser Klasse. Konkret handelt es sich dabei um Abbildungen von Personen, Gegenständen oder sonstigen Konkreta, wie das Gesicht einer Person, ein Fahrzeug oder ein Tier.261 Piktogramme und Emoticons |
|||||
Ideogramme |
Ideogramme sind von Piktogrammen meist nicht klar abzugrenzen (vgl. dazu Dürscheid 2016, 66), entscheidend für die Zuordnung als Ideogramm ist, dass sie zwar Objekte bildhaft darstellen – es besteht also eine Ähnlichkeitsbeziehung – aber aus Sicht des Verfassers eher Begriffe oder Sachverhalte darstellen sollen, als dies bei den Piktogrammen der Fall ist. Dies gilt bspw. für Herzsymbole, die in erster Linie offensichtlich kein (menschliches) Herz abbilden sollen, sondern für einen Frame ZuneigungFRAME oder LiebeFRAME stehen.262 Wie bei den Piktogrammen gibt es auch hier keine lautsprachliche Konvention vorhanden (vgl. Rezec 2009, 35, Dürscheid 2016, 66). Zu dieser Gruppe zählen neben den weitverbreiteten politischen Zeichen, wie dem keltischen Kreuz oder Hammer und Sichel, auch Peace-, Stop- oder Dollar-Zeichen sowie konventionalisierte Farben (bspw. die Vereinsfarben des A.S. Roms). Gruppensymbole |
|||||
Logogramme |
Unter Logogramme sind hier Zeichen zu verstehen, die vereinfacht gesagt, für ein Wort stehen. Rezec bemerkt, dass eine Abgrenzung zu den Ideogrammen auch hier nicht eindeutig ist, da Zeichen wie <+> sowohl für plus als auch und stehen können (2009, 35-37). Aus diesem Grund wird hier zwischen Logogrammen, die tatsächlich nur einer phonetischen Wortbedeutung entsprechen (z. B. <&>), und jenen, die eine begrenzte Anzahl an phonetischen Lautketten darstellen (können). Schlussendlich muss darauf hingewiesen werden, dass es auch hier nicht wenige Grenzfälle gibt, wo die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Zeichen weniger auf „phonemische Komplexe“ und eher auf „semantische Einheiten“ beziehen (Rezec 2009, 36), wie dies bei <$> der Fall ist.263 |
|||||
Grundformen |
Zuletzt wurde eine Kategorie sog. Grundformen erfasst. Dazu gehören sowohl Zeichen, die zur Gestaltung und Gliederung des Textes dienen (bspw. Abgrenzungslinien, Kreise oder Umrandungen) als auch Pfeile die im Textbild auf bestimmte Textteile verweisen. |
|||||
N/A |
Zeichen, welche zwar als (bildgraphische) Zeichen vermutet werden, aus verschiedenen Gründen jedoch nicht entziffert werden können, wurden der Gruppe ʻN/A’ zugeordnet. |
Es folgt ein Überblick zu den Frequenzen der Zeichentypen und Zeicheninhalte sowie eine Auflistung der verwendeten Ikone, wobei bereits mit Hinblick auf die anschließenden, domänenspezifischen Kapitel die Verteilung nach Domänen am aussagekräftigsten ist und daher als erstes angezeigt wird. Bei der Auswertung nach Domänen sind die Ergebnisse besonders dann interessant, wenn man die Anteile der bildgraphischen Zeichen in Bezug auf eine Domäne mit den Anteilen der Domänen an den Scritte des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT) vergleicht.
Verwendete Zeichentypen und -inhalte nach Domänen:264
Frequenz der Zeicheninhalte:265
Verteilung der Zeichentypen:
Realisierte Ikone und deren Häufigkeit:
Betrachtet man die Werte der Wortarten-Anteile für die Scritte nach Tokenzahl, so lässt sich die Bedeutung der Bildgraphischen Zeichen v. a. bei Scritte mit geringer Tokenzahl erkennen: Bis zu einer Tokenzahl 6, sind bildgraphische Zeichen anteilig mindestens an Stelle 4 der verwendeten Wortarten; bei einer Tokenzahl 1 liegen die Bildgraphischen Zeichen sogar deutlich auf Platz 1.
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen:
Nachfolgende Visualisierungen geben die Häufigkeiten der gewählten Farben und der jeweiligen bildgraphischen Zeichen an – einmal gruppiert nach Farben und einmal gruppiert nach Zeichen.266
Erstellungswerkzeuge:
Die Auswertung der Erstellungswerkzeuge für bildgraphische Zeichen gibt folgende Ergebnisse:
Erstellungswerkzeuge |
Frequenz |
Anteil |
Spraydose |
1438 |
67 % |
(Filz-) Stift |
259 |
12 % |
Pinsel |
177 |
8 % |
Stencil |
134 |
6 % |
(Wand-) Farbe |
107 |
5 % |
Kugelschreiber |
18 |
0.84 % |
(Wand-) Farbe, Spraydose |
6 |
0.28 % |
Kreide |
6 |
0.28 % |
Druck |
4 |
0.19 % |
Kratzverfahren |
2 |
0.09 % |
(Wand-) Farbe, Pinsel |
2 |
0.09 % |
(Filz-) Stift, Spraydose |
1 |
0.05 % |
Spraydose, Stencil |
1 |
0.05 % |
2155 |
Betrachtet man die Zahlen unter Einbezug der Zeichentypen, so sind besonders die Werte der Stencils auffällig, v. a. wenn man diese hinsichtlich der Zeichentypen vergleicht.267 Eine Erklärung dafür wird in Kapitel angestrebt.
Heatmap:
Während der Transkription und wiederholten Revision des Bild- bzw. Sprachmaterials schien es, dass die bildgraphischen Zeichen nicht willkürlich im Textfeld integriert wurden, sondern bestimmte bildgraphische Zeichen in spezifischen Bereichen der Scritta erstellt wurden. Um eine solche vermutete Text-Bild-Kompositionalität268 untersuchen zu können, wurde eine Heatmap-Funktion in das Transkriptionstool GiANT integriert (siehe DEFAULT). Anhand dieser Funktion lässt sich die Verteilung von Token im Scritta-Textfeld graphisch im Form von Heatmaps ausgeben. Obwohl eine Auswertung dieser Heatmaps besonders für die spezifischen Domänen interessant sein wird, werden nachfolgend die Heatmaps der bildgraphischen Zeichen mit einer Mindestfrequenz von 50 für das Gesamtkorpus angegeben.269 Dabei wurden zum einen jene Scritte, die lediglich aus nur einem Token bestanden, ignoriert, da diese die Ergebnisse der Heatmaps korrumpieren würden.270 Zum anderen liegt der Fokus auf Ideogrammen (wozu, wie oben erwähnt, auch die Gruppensymbole zählen), da bspw. Logogramme als Ersatz für Sprachzeichen (<6> für ital. sei) nicht an frei wählbaren Stellen im Gesamtbild erstellt werden können, sondern in die Syntax der Sprachzeichen integriert müssen. Es geht bei der Analyse jedoch genau um die (theoretisch) frei wählbaren Stellen im Bild an denen die bildgraphischen Zeichen platziert werden. Ikone treten oft als zentrales Element in den Scritte auf und sind daher meist zentral angeordnet, wie man unten sehen kann. Interessant ist die Analyse bestimmter Inhalte innerhalb der Ikone (bspw. Körperteile im Vergleich zu Abbildungen ganzer Personen oder Gegenständen). Da eine Auswertung ab einer geringen Häufigkeit der bildgraphischen Zeichen nicht mehr auf typische Bild-Text-Konstruktionen schließen lassen, werden nachfolgend lediglich die Heatmaps der Token mit einer Mindestfrequenz von 50 wiedergegeben.271
Zeichentyp und |
Ideogramm, Ideogramm u. Grundform (gestalterisch/gliedernd) |
Ideogramm
|
Ideogramm |
Ideogramm |
Ideogramm |
Ideogramm |
Ideogramm |
Ideogramm |
Pfeil (intratextualer Verweis) |
Ideogramm |
Ikone |
6.1.6. Ergebnis: Prototypische Scritte Murali – Gesamtkorpus
Die DEFAULT bis DEFAULT zusammenfassend lässt sich nun ein Prototyp für Scritte Murali als übergeordnete Kategorie erfassen, basierend auf den gesammelten Ergebnissen. Ausgangspunkt sind dabei die in den Kapiteln bis DEFAULT beschriebenen Bedingungen zu den Prototypen. Dabei sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass hier unter Prototypen abstrakte Bewusstseinsinhalte, die aus typischen Attributen zusammengesetzt sind, verstanden werden. Wenn also die Rede von ʻbesten/typischen Exemplaren’ ist, so bedeutet dies weder, dass es sich um individuelle Beispiele (i. S. v. einer konkreten Scritta) handelt, noch muss dieser kognitiv-abstrakten Entität ein individuelles Exemplar eindeutig entsprechen. Es handelt sich vielmehr um kognitive Orientierungspunkte, deren sich die Kommunikationsteilnehmer bedienen, um die konkreten Scritte (wie auch weiteren, abstrakten Vertreter)272 der Kategorie global – d. h. nicht durch Abfragen einzelner Attribute, sondern über Vergleichsprozesse – zuordnen zu können (siehe DEFAULT). Speziell für den Prototypen der Scritte Murali als eigene Kategorie, sei daran erinnert, dass es sich dabei um eine übergeordnete Kategorie handelt und die Ergebnisse immer aus dieser Perspektive interpretiert werden müssen. Außerdem sei bedacht, dass es sich bei solchen Prototypen um in hohem Maße idealisierte Konstrukte handelt, was bedeutet, dass ihre theoretische Grundlage kontext-neutral gedacht ist. Eine solche (theoretische) Kontext-Neutralität liegt im Fall der Scritte Murali-Prototypen offensichtlich nicht vor, da die (statistischen) Werte auf Basis von Scritte abgeleitet werden, die aus spezifischen Gebieten stammen und somit eben nicht (kontext-) neutral sind. Es handelt sich demnach um Prototypen in ganz bestimmten Kontexten, wobei man davon ausgehen kann, dass diese Prototypen von größeren Personengemeinschaften geteilt werden273 und daher prototypisch sind (siehe DEFAULT und DEFAULT).
Eine prototypische Scritta Murale (domänenunspezifisch) besteht demnach aus folgenden, typischen Attributen bzw. typischen Werten bestimmter (und gewichteter) Attributsklassen:274
Attributsgewichtung |
Attributsklasse |
Typische(r) Wert(e) |
Beschreibung |
Zentral |
Tokenzahl |
1-5 |
75 % der Scritta sind durch 1 bis 5 Token realisiert. 22 % der Gesamtscritte werden durch 2-Token-Scritte, 19 % von 3-Token-Scritte gebildet |
Modifikationsanfälligkeit |
23 % |
Mit 23 prozentiger Wahrscheinlichkeit ist eine Scritta Murale modifiziert worden/wird eine Scritta Murale modifiziert. |
|
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
40 % |
Mit 40 prozentiger Wahrscheinlichkeit beinhaltet eine Scritta Murale ein bildgraphisches Zeichen. |
|
Lexik (ohne Eigennamen; mind. 1.00 %) |
essere, merda, amare, vivere, ultras, laziale, all cop be bastard (ACAB), romanista, no, sempre, libero275 |
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 22 % beinhaltet die Scritta eines dieser Lemmata/Token. |
|
Lexik (nur Eigennamen; mind. 1.00 %) |
Lazio, Roma, Associazione Sportiva Roma (in allen Varianten), Lulic, Valerio, Tufello, Società Sportiva Lazio (in allen Varianten), Treno ad Alta Velocità (TAV), Noantri |
Sollte die Scritta einen Eigennamen (auch in Form von Akronymen) aufweisen, so wird dieser zu 38 % aus dieser Liste stammen. |
|
Sprache |
Italienisch |
Mit 92 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden die Token einer Scritta in italienischer Sprache geschrieben sein, gefolgt von Englisch mit 6 %. |
|
Dialektale Varianten |
boia, ti (te)276, di (de), il (er), ci (ce, se), dai (daje, daie, daye), vi (ve), meglio (mejo), non (nun), tua (tu), la (‚a) |
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Scritta ein Token in dialektaler Variante aufweist ist sehr gering (3 %), wodurch die Verwendung von Dialekt in Scritte Murali sehr untypisch ist. Sollte es dennoch dazu kommen, so stammt das Token aus der angegebenen Liste der Lemmata (und ihren dialektalen Entsprechungen). |
|
Kürzungsverfahren |
Akronyme (initial gekürzt) |
Ebenso untypisch für Scritte Murali sind mit 9 % Kürzungsverfahren bei sprachlichen Zeichen. Bei Auftreten eines Kürzungsverfahrens, wird es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit (70 %) um ein initial gekürztes Akronym handeln. Prototypisch wäre demnach ein gekürztes Token, wie bspw. ASR (Associazione Sportiva Roma), ACAB (all cops are bastards) oder TAV (Treno ad Alta Velocità) |
|
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, Satzzeichen, Adjektive |
Die realisierten Token (sprachlicher Zeichen) lassen sich mit 56 prozentiger Wahrscheinlichkeit zu einer der 5 genannten Wortarten zuordnen. |
|
n-Gramme |
(siehe oben) | ||
Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Rot |
Typischerweise werden Scritte Murali in schwarzer (60 %) oder roter (12 %) Farbe erstellt |
Typographie |
Elaboriert |
Die Wahrscheinlichkeit bei einer Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 64 %. |
|
Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose, (Filz-) Stift |
Der Prototyp einer Scritta wird/wurde zu 68 % mit einer Spraydose und 20 % mit einem (Filz-) Stift erstellt. |
Trägerfläche |
Wohnhaus, Freistehende Mauer |
Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (39 %) oder auf freistehenden Mauern (31 %) erstellt |
Wie bereits erwähnt (siehe ), stellen Modifikationen einen wichtigen Bestandteil der Scritte Murali dar – dies wird v. a. bei den domänenspezifischen Prototypen deutlich werden – wobei diese Modifikationsabläufe routinemäßiger (d. h. prototypischer) Natur sind. Die Modifikationsroutinen lassen sich aus prototypischer Perspektive wie folgt zusammenfassen:
Merkmal |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
Beteiligte Hände |
2 |
Sollte es zur Modifikation einer Scritta kommen, so geschieht dies typischerweise (zu 90 %) durch maximal 3 weitere Hände, wobei zu erwarten ist, dass es maximal eine weitere Hand ist (61 %). |
Modifikationstyp |
Elision, Addition, Substitution, Kommentar, Gesamtgraph-Rasur |
Über 70 % der Modifikationen geschehen typischerweise durch einen der fünf genannten Typen, wobei die Elision (24 %) auf Tokenebene und die Gesamtgraph-Rasur (8 %)auf Graphebene erfolgt. Die weiteren drei Typen geschehen auf Syntaxebene (15 %, 14 % und 10 %). |
Bewertungstyp zur Vorhand |
Negation |
Mit 78 prozentiger Wahrscheinlichkeit wird die modifizierende Hand eine Negation gegenüber der modifizierten Hand ausdrücken. |
Wortarten |
Eigennamen, Nomen, Bildgraphische Zeichen |
Knapp zwei Drittel der Token aus Hand 1, die modifiziert werden, sind Eigennamen (27 %), Nomen (24 %) oder bildgraphische Zeichen (12 %). |
Ebenso musterhaft erscheint die Verwendung und Realisierung der bildgraphischen Zeichen:
Merkmal |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
Domäne |
Politik, Expressivität |
Typischerweise sind bildgraphische Zeichen besonders bei Scritte der Domänen Politik (45 %) und Expressivität (18 %) zu erwarten. |
Zeicheninhalt |
Herz, Keltisches Kreuz, Hammer und Sichel, Movimento Autonomi e Autoorganizzati, Anarchie, Hakenkreuz |
Mehr als die Hälfte der über 200 verwendeten bildgraphischen Zeichen stellen einen der sechs linksgenannten Inhalte dar, wobei die am ehesten zu erwartenden Zeichen <<Herz>> (20 %) und <<Keltisches Kreuz>> (12 %) sind. |
Zeichentyp |
Ideogramm |
Typischerweise (knapp 70 %) gehören die Zeichen dem Typ ‘Ideogramm’ an. |
Ikone |
Körperteile |
Wurde ein Ikon erstellt, so ist am ehesten erwartbar, dass ein Körperteil dargestellt wird. |
Farbe |
Schwarz, Weiß, Rot |
Bildzeichen werden prototypischerweise in schwarzer (51 %), weißer (13 %) oder roter (13 %) Farbe erstellt. |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose, (Filz-) Stift |
Erwartungsgemäß werden die Bildzeichen mit Spraydose (67 %) oder (Filz-) Stift (12 %) erstellt. Bei Ikonen und Gruppensymbole ist dagegen nach der Spraydose das Stencil die zweithäufigste und damit ebenfalls typische Erstellungsweise. |
Platzierung im Scritta-Bild |
Ideogramm: rechts, zentral |
Bei den oben genannten, typischen Zeicheninhalten ist eine klare rechts bzw. zentral-rechts Anordnung der Bildzeichen im Scritta-Textbild typisch. |
6.2. Genre-Prototyp der Domäne POLITIK
An die Auswertung der Daten des Gesamtkorpus anschließend, werden nun die Prototypen der oben genannten Domänen ermittelt. Dabei zeigt sich, dass diesen Domänen jeweils Subdomänen untergeordnet sind. Diese Subdomänen weisen neben den Attributen der Domänen noch weitere, spezifischere Attribute. (An dieser Stelle sei auf die Ausführungen in Kapitel verwiesen.) In welchen Bereichen sich die Subdomänen voneinander unterscheiden, soll anschließend in Kapitel dargestellt werden.
Wie bereits in DEFAULT erwähnt, sind 1117 Scritte des Gesamtkorpus der Domäne POLITIK zu zuordnen, womit ein Drittel aller Scritte (34 % der 3294 Gesamtscritte) dieser Domäne angehören. 63 dieser 1117 Scritte wurden mit ʻ?Politik’ markiert, woraus sich ein bereinigter Wert von 1054 (32 %) Scritte der Domäne POLITIK ergibt. 256 der 1117 Scritte weisen mehr als eine (und maximal zwei weitere) Domänen auf.277 Somit weisen knapp ein Viertel (23 %) der politischen Scritte unscharfe Grenzen – d. h. Gemeinsamkeiten mit Nachbardomänen – auf. Die bei den 1117 Scritte insgesamt 1393 angegebenen Domänen weisen folgende Verteilung auf:
Domänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil |
Politik |
1054 |
76 % |
Ultras |
130 |
9 % |
Diverses |
70 |
5 % |
?Politik |
63 |
5 % |
Feminismus |
32 |
2 % |
Expressivität |
20 |
1 % |
Ideologie |
15 |
1 % |
Religion |
7 |
0.50 % |
?Ultras |
3 |
0.22 % |
?Expressivität |
1 | 0.07 % |
1395 |
Fokussiert man die Nachbardomänen so ergibt sich folgende Distribution der Anteile:
Nachbardomäne |
Frequenz (Scritta) |
Anteil |
Ultras |
130 |
47 % |
Diverses |
70 |
25 % |
Feminismus |
32 |
12 % |
Expressivität |
20 |
7 % |
Ideologie |
15 |
5 % |
Religion |
7 |
3 % |
?Ultras |
3 |
1.08 % |
?Expressivität |
1 |
0.36 % |
278 |
|
Die ermittelten Anteile der Subdomänen zu POLITIK sind in Tabelle 15 illustriert.278
Subdomänen |
Frequenz |
Anteil |
Linkspolitisch (Pol) |
528 |
47 % |
Rechtspolitisch (Pol) |
316 |
28 % |
Rechts- vs. Linkspolitisch (Pol) |
81 |
7 % |
Links- vs. Rechtspolitisch (Pol) |
74 |
7 % |
Politisch (Pol) |
56 |
5 % |
?Linkspolitisch (Pol) |
30 |
3 % |
?Rechtspolitisch (Pol) |
19 |
2 % |
?Politisch (Pol) |
13 |
1.16 % |
Anarchie (Pol) |
5 |
0.45 % |
?Links- vs. Rechtspolitisch (Pol) |
1 |
0.09 % |
|
1123 |
|
6.2.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne POLITIK
Wie bereits beim Überblick der Daten zum Gesamtkorpus (siehe DEFAULT) werden nun die Ergebnisse der Korpusdaten zur Domäne Politik präsentiert. Dabei werden zunächst die zentralen Attributsklassen (Tokenzahl, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen Zeichen, Verwendung von sprachlichen Zeichen und die Verteilung der Scritte im Erhebungsgebiet) ausgewertet.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1):
83 % der politischen Scritte werden durch Texte gebildet, die zwischen einem und sechs Token abbilden, wobei mehr als die Hälfte (54 %) aller POLITIK-Scritte aus Texten mit lediglich drei (21 %), einem (17 %) oder zwei (16 %) Token bestehen.
Modifikationsanfälligkeit
Bei 287 der 1117 Scritte kam es zu einer Modifikation des Ursprungtextes aus Hand 1 durch maximal sieben weitere Hände, sprich, 26 % der Scritte aus der Domäne POLITIK wurden modifiziert.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Mit 72 % (entspricht 799 der 1117 Scritte) wurden in einem Großteil der politischen Scritte bildgraphische Zeichen realisiert. Eine detaillierte Auflistung der Zeicheninhalte, -typen und Frequenzen werden in Kapitel gegeben.
Sprachliche Zeichen
Wie bereits erwähnt, zählen die sprachlichen Zeichen zu den wichtigsten Attributen bei der Ermittlung der Prototypen, da sie besonders informationsreich und demnach zentral bei der Differenzierung der domänenbasierten Genres (siehe DEFAULT). Untersucht werden im Bereich der sprachlichen Zeichen die Lexik allgemein, auftretende Eigennamen, verwendete Sprachen und dialektale Varianten, der Einsatz von Kürzungsverfahren, die Verteilung der Wortarten (POS) sowie die Wortkombinationen (n-Gramme).
Lexik279
Insgesamt wurden 700 Lemmata der Wortarten mit einer hohen semantischen Dichte (Autosemantika) ermittelt, wobei sich die Frequenzen der Lemmata stark rechtsschief zeigt: 64 % der konkreten Lemmata-Realisierungen werden von lediglich 161 der gesamten Lemmata (d. h. 23 %) gebildet. Diese, mit einer Mindestfrequenz von 3 auftretenden, Lemmata sind in den folgenden zwei Charts aufgelistet.
Als durchsuchbare Liste der Lemmata:
Eigennamen
Ähnlich gestaltet sich die Verteilung der verwendeten Eigennamen: 55 der insgesamt 295 verwendeten Eigennamen beanspruchen 65 % (= 518 Token) der realisierten Token.
Sprachen und Dialektale Varianten
Die sprachlichen Zeichen der Domäne Politik wurden in folgenden Sprachen verfasst:
Lediglich 47 Token (der insgesamt 393 Token in dialektaler Variante des Gesamtkorpus) in dialektaler Variante treten in Texten der Domäne POLITIK auf. Diese 47 Token basieren auf 21 Lemmata, deren Verteilung nachfolgend ersichtlich ist:
Kürzungsverfahren
Knapp ein Viertel (25 %) aller politischen Scritte weisen gekürzte Token auf. Von den in Kapitel angegeben Kürzungsverfahren, treten in der Domäne POLITIK folgende Typen auf:
Die häufigsten Realisierungen dieser Typen zeigen folgende Verteilung:
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Die Auswertung der Korpusdaten ergibt folgende Verteilung der Wortarten für die Domäne POLITIK, wobei zunächst die Verteilung ohne bildgraphische Zeichen gezeigt wird und anschließend unter Miteinbezug der bildgraphischen Zeichen:
Ein Großteil der Scritte in dieser Domäne werden durch Texte mit einem bis sechs Token konstituiert (83 %). Die Anteile der auftretenden Wortarten werden in den folgenden Charts für die jeweiligen Token-pro-Scritta-Einheiten wiedergegeben.
n-Gramme
Folgende Bi-Gramme treten in der Domäne auf. Unterschieden werden muss zwischen den gesammelten Lemmata Möglichkeiten in Bezug auf die POS an Stelle 1 und 2 sowie den ungesammelten Lemmata Kombinationen, d. h. den konkret auftretenden 2/3/4-Wort-Kombinationen und deren Häufigkeiten. Die Ergebnisse sind in den unten dargestellten Charts illustriert.
Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Die Verteilung und Standorte der 1117 politischen Scritte sind in der interaktiven Karte (IK 5) in Relation zu den Erhebungsgebieten visualisiert.
IK 5: Standorte der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige
6.2.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne POLITIK
Farben
Die Anteile der verwendeten Farben innerhalb der Domäne POLITIK bietet ähnliche Ergebnisse, wie die Werte des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT): 62 % der Token werden in schwarzer Farbe erstellt und Rot, Weiß und Blau folgen mit den höchsten Anteilen. Lediglich die prozentualen Anteile der roten, weißen und blauen Farben haben sich leicht verschoben:
Typographie
Auch die Werte der typographischen Beschaffenheit der Texte weichen innerhalb der Domäne POLITIK etwas ab, vergleicht man sie mit den Ergebnissen des Gesamtkorpus (siehe DEFAULT). Ein größerer Anteil der domänenspezifischen Schriftzeichen lassen keine Kategorisierung der Typographie zu, wodurch der Anteil N/AATTval vor den arbiträrenATTval Token liegt.
6.2.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne POLITIK
Erstellungswerkzeuge
Die Token der politischen Scritte wurden anhand folgender Werkzeuge bzw. Verfahren erstellt:280
Träger(flächen)
Beim Blick auf die Auswertung der Daten hinsichtlich der Träger, ist in erster Linie die Verwendung von Tazebao im Vergleich zum Gesamtkorpus aufällig. Erscheint die Gesamtzahl von 28 zwar gering, so muss bedacht werden, dass über das gesamte Korpus verteilt lediglich 32 Tazebaos auftauchen. Die Wahl des Tazebao als Kommunikationsträger scheint also stark domänenspezifisch zu sein.
6.2.4. Modifikationsroutinen – Domäne POLITIK
Etwas mehr als ein Viertel der POLITIK-Scritte wurden durch bis zu 7 weitere Hände auf syntaktischer, Token- oder Graph-Ebene nachträglich geändert. Mit 95.47 % wurden Token und/oder Graphen fast ausschließlich durch Hand 2, 3 oder 4 hinzugefügt, verändert oder auf sonstige Weise modifiziert:
Hand | Anzahl Scritte | Anteil |
2 | 188 | 66 % |
3 | 54 | 19 % |
4 | 32 | 11 % |
5 | 7 | 2 % |
6 | 3 | 1.05 % |
7 | 1 | 0.35 % |
8 | 2 | 0.70 % |
287 |
Modifikationsweisen
Die Verteilung und Anteile der Modifikationsweisen in Kombination mit den Bewertungstypen (gegenüber der modifizierten Hand) stellen sich folgendermaßen dar:
Neben der Modifikationsweise ist es von Bedeutung, welche Token bzw. Wortarten durch welche Token und Wortarten modifiziert wurden, wobei zwischen Hand 1 und allen Händen unterschieden werden muss. Zusätzlich ist eine Differenzierung zwischen gesammelten (jeweils für modifizierende Token und POS) und ungesammelten (d. h. konkret auftretenden Modifikationskomplexen) Werten vonnöten. Somit werden auch für die Domäne POLITIK jeweils vier Tabellen (Hand 1 und Alle Hände gesammelt, Hand 1 und Alle Hände ungesammelt) zu modifizierten Token und Wortarten gegeben.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Für die Erstellung der prototypischen Modifikations-Routinen außerdem von Belang, ist die Überlegung welche Lemmata (sowohl aus Hand 1 und allen Händen) am häufigsten auf welche Art von Modifikation verändert werden. Die Ergebnisse der Korpusauswertung ergeben folgendes Bild:
Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Die bisherigen Ergebnisse (siehe DEFAULT) zeigen deutlich, dass bildgraphische Zeichen ein zentrales Attribut der politischen Scritte sind. Bei den Modifikationen stellen diese Zeichen sogar eine der am meisten modifizierten Token dar. Welche bildgraphischen Zeichen dabei auf welche Weise und wie oft verändert werden, wird nachfolgend anhand der Auswertungen gezeigt – auch hier wird zwischen Hand 1/Alle Hände und gesammelt/ungesammelt differenziert.
Ortsabhängigkeit
Wie in Kapitel angedeutet, ist der Standort der modifizierten Scritte bzw. deren Verteilung im Raum ein zentrales Analysekriterium, wobei auch zwischen modifizierten und nicht-modifizierten Scritte der Domänen differenziert werden muss, um typische Routinen fassen zu können. Aus diesem Grund werden die modifizierten und nicht-modifizierten Scritte innerhalb der Erhebungsgebiete in der folgenden Ansicht (IK 6) visualisiert.
IK 6: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige
6.2.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne POLITIK
Die Auswertung der Korpusdaten hat folgende Verteilungen und Anteile der Zeicheninhalte und -typen für die Domäne POLITIK ergeben:
Wie zu erkennen ist, dominiert der Typ der Ideogramme (und diesen als Sonderform zuzurechnen die spezifischen Gruppensymbole) mit einem Anteil von über 87 % der im Gesamt verwendeten bildgraphischen Zeichen.
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Im Vergleich zu Ideogrammen, treten Ikone weitaus seltener auf – dies gilt sowohl für das Gesamtkorpus als auch für die Domäne POLITIK. Dennoch stellen Ikone die zweithäufigste Zeichenform in dieser Domäne dar und ihre Inhalte und Frequenzen sind folgendermaßen verteilt:
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert.
Mit der Präsentation der Daten zu den Erstellungswerkzeugen, werden die Grundlagen der typischen Zeichenkonstruktionen der Domäne POLITIK abgeschloßen. Angegeben werden einmal in der einfachen Tabelle die Häufigkeiten der Token nach den jeweiligen Werkzeugen und zusätzlich im interaktiven Chart die verwendeten Erstellungswerkzeuge nach den Zeichentypen.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Spraydose | 949 | 78 % |
(Filz-) Stift | 92 | 8 % |
(Wand-) Farbe | 85 | 7 % |
Stencil | 85 | 7 % |
(Wand-) Farbe, Spraydose | 5 | 0 % |
Druck | 4 | 0 % |
Kratzverfahren | 2 | 0 % |
Spraydose, Stencil | 1 | 0 % |
(Wand-) Farbe, Pinsel | 1 | 0 % |
1224 |
Heatmaps:
Den in Kapitel beschriebenen Bedingungen folgend, werden abschließend die Anordnungen im Scritta-Sichtbild zusammengefasst. Dazu werden die oben beschriebenen bildgraphischen Zeichen aus Hand 1 mit einer Mindestfrequenz von 45 sowie die kleinere Gruppe der Gruppensymbole, ausgewertet und ihre Anordnung in der Textoberfläche anhand von Heatmaps visualisiert.281
Zeichentyp und |
Ideogramm <<Keltisches Kreuz>> (213) |
Ideogramm <<Hammer und Sichel>> (132) |
Ideogramm <<Movimento Autonomo e Autoorganizzato>> (99) |
Ideogramm <<Anarchie>> (66) |
Ideogramm <<Fascio Littorio>> (66) |
Ideogramm <<Fünfzackiger Stern>> (60) |
Ideogramm <<Hakenkreuz>> (47) |
Ideogramme (880) |
Ikone |
Gruppensymbole (27)
|
6.2.6. Domänenspezifische Besonderheiten – Domäne POLITIK
Eine der Zusatzannotationen, welche nur bei speziellen Scritte vorgenommen wurde, betrifft den sog. Totenkult. Als solche annotierte Scritte erinnern, verehren oder (schlicht) verweisen auf verstorbene Personen. Im Bereich der politischen Scritte handelt es dich dabei meist um politische Akteure, die (mutmaßlich) im Zuge ihrer politisch-motivierten oder aufgrund ihrer politischen Überzeugungen Opfer von Gewalttaten mit tödlichem Ausgang geworden sind. Die Ortsgebundenheit ist dabei ein besonders interessantes Analysekriterium, da diese Scritte meist an und um den Wohnort und/oder im (politischen) Wirkungsfeld der/des Verstorbenen angebracht werden. Ein Beispiel für eine solche Scritta ist in Abb. 86 dargestellt. Die Scritta ist am ehemaligen Wohnort von Valerio Verbano – einem bekanntem linkspolitisch engagiertem Akteur der Autonomia Operaia, der 1980 umgebracht wurde – angebracht.
Im Gesamtkorpus sind insgesamt 159 solcher Totenkult-Scritte erfasst, wobei 99 (entspricht 62 %) davon der Domäne POLITIK zugeordnet werden können. Zwar ist die Gesamtzahl solcher Scritte auf das Gesamtkorpus bezogen relativ gering, wird ein solcher Totenkult in einer Scritta kommuniziert, so ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass es sich um eine politische Scritta handelt. Unterschieden wird bei den Totenmurales zwischen einfachen Scritte, die den Totenkult ausdrücken, und aufwendigeren Totenmurales, wie im Falle des Valerio Verbano-Beispiels (s. o.). In der Domäne sind es 77 solcher einfacheren Texte und 22 Murales, die auf bestimmte Weise auf einen Toten verweisen.
6.2.7. Subdomänen – Domäne POLITIK
Ich habe im Verlauf der Arbeit wiederholt darauf hingewiesen, dass sich auf einer untergeordneten Ebene sog. Subdomänen erfassen lassen. Für die Domäne POLITIK lassen sich zwei solcher Subdomänen feststellen: links- und rechtspolitisch. Das bedeutet, dass es sich um Scritte Murali handelt, welche aufgrund ihrer spezifischen Attribute dem linken bzw. linksextremen oder dem rechten bzw. rechtsextremen Politikspektrum zugeordnet werden können.282 In Kapitel wurden die Verteilungen der insgesamt sechs Subdomänen aus dem politischen Bereich präsentiert:283 LINKSPOLITISCH, RECHTSPOLITISCH, RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH, LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH, POLITISCH, ANARCHIE. Links- und Rechtspolitische Subdomänenzuweisungen können kommentarlos verstanden werden. Anderes gilt für die weiteren vier Kategorien. RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH bzw. LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH verweisen auf Scritte, in welchen es zu einem schriftlichen Austausch zwischen Akteuren der linken und rechten Szene gekommen ist. Erstgenannte Orientierung verweist dabei auf die in Hand 1 veräußerte politische Gesinnung, d. h., bei einer LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH Scritta kann Hand 1 dem linkspolitischen Spektrum zugeordnet werden, Hand 2 oder höher dagegen dem rechtspolitischen. Mit ANARCHIE spezifizierte Subdomänen werden im Kontext dieser Arbeit den linkspolitischen Lagern zugeordnet, obwohl sich u. U. deutliche ideologische und/oder politische Unterschiede feststellen lassen. So ist es unwahrscheinlich, dass sich linkspolitische Akteure automatisch als Anarchisten verstehen würden, selbst wenn sie zur extremen Szene gehören. Trotzdem steht die anarchistische sicherlich der linksextremen Szene nahe oder zumindest eher der linksextremen, als der rechtsextremen. Dies zeigt sich übrigens auch in den im Korpus vorliegenden Scritte Murali. Zuletzt eine Subdomäne POLITISCH. Scritte dieser Subdomäne verweisen allgemein auf politische Inhalte, ohne dabei einer der traditionellen Richtungen zugeordnet werden zu können.
Bei der Abfrage der Werte für die beiden großen Subdomänen POLITIK LINKS und POLITIK RECHTS, deren Prototypen nachfolgend dargestellt werden, wurden für die linkspolitischen Scritte nur jene der mit LINKSPOLITISCH, LINKS- VS. RECHTSPOLITISCH sowie ANARCHIE in Betracht gezogen. Analog dazu wurden für POLITIK RECHTS nur jene mit RECHTSPOLITISCH oder RECHTS- VS. LINKSPOLITISCH markierte Scritte ausgewertet. An die Zusammenfassung der Prototypen POLITIK LINKS und RECHTS anschließend, werden die Modifikationsroutinen und typischen Zeichenkonstruktion für die Subdomänen zusammengefasst und gegenüber gestellt.
6.2.7.1. POLITIK LINKS
Anteil an Domäne POLITIK: 54 % (= Linkspolitisch 47 %, Links- vs. Rechtspolitisch 7 %, Anarchie 0.45 % von 1229 vergebenen Subdomänen der Domäne POLITIK).
Attributs-gewichtung | Attributsklasse | Typische(r) Wert(e) | Bemerkungen | ||||||||||||||
Zentral | Tokenzahl | 1 bis 6 | 80 % der Scritta sind durch 1 bis 6 Token realisiert. Die höchste Wahrscheinlichkeit liegt bei 3 Token mit 19 %, dicht gefolgt von 2-Token-Scritte mit 18 %:
|
||||||||||||||
Modifikations-anfälligkeit | 17 % | Mit 17 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden Scritte Murali aus dem linkspolitischen Spektrum modifiziert. | |||||||||||||||
Verwendung bildgraphischer Zeichen | 67 % | Bei 67 % der linkspolitischen Scritte wurden bildgraphische Zeichen verwendet. | |||||||||||||||
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | vivere, no, essere, libero, fascista, antifa, antifascista, lotta, mai, sempre, occupare | Die elf häufigsten Lemmata treten mit einer Wahrscheinlichkeit von insgesamt 24 % auf. | |||||||||||||||
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | Valerio, Treno ad Alta Velocità, Tufello, Centro Sociale Occupato e Autogestito, Roma, Fronte della Gioventù Comunista | Sollte die Scritta einen Eigennamen (auch in Form von Akronymen) aufweisen, so wird dieser zu 35 % aus dieser Liste stammen. | |||||||||||||||
Sprache | 92 % Italienisch | Mit 92 prozentiger Wahrscheinlichkeit werden die Sprachzeichen in italienischer Sprache geschrieben sein, gefolgt von Englisch mit 4 % und Spanisch mit 2 %. Insgesamt wurden die Scritte in 13 verschiedenen Sprachen verfasst. | |||||||||||||||
Dialektale Varianten | boia, occupiamo (occupamo), ci (ce), ridate (aridate), ha (cha), questo (sto), coniglio (conijo), rivogliamo (rivojamo) | Die Wahrscheinlichkeit, dass eine linkspolitische Scritta ein Token in dialektaler Variante aufweist ist äußerst gering (> 1 %284): lediglich 22 Token (von 8 verschiedenen Lemmata) wurden in dialektaler Variante verfasst. Die Verwendung von Dialekt in linkspolitischen Scritte Murali ist daher äußerst untypisch. Sollte es dennoch dazu kommen, so stammt das Token aus der angegebenen Liste der Lemmata (und ihren dialektalen Entsprechungen). | |||||||||||||||
Kürzungsverfahren | Akronyme (initial gekürzt) | Ebenso untypisch für linkspolitische Scritte sind Kürzungsverfahren bei sprachlichen Zeichen: lediglich 8 % der Token werden gekürzt, jedoch werden solche Kürzungsverfahren bei 22 % der linkspolitischen Scritte eingesetzt. Bei Auftreten eines Kürzungsverfahrens, wird es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein initial gekürztes Akronym (61 %) oder eine graphemat. Abkürzung (27 %) handeln. Prototypisch wäre demnach ein gekürztes Token, wie bspw. TAV (Treno ad Alta Velocità), CSOA (Centro Sociale Occupato e Autogestito) oder FGC (Fronte della Gioventù Comunista). | |||||||||||||||
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) | Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, Adjektive, Adverben | Ein Viertel der realisierten Token (sprachlicher Zeichen) werden von Nomen gebildet, gefolgt von Eigennamen (15 %) und (finiten) Verben. 62 % der Token stammen aus einer der fünf, links genannten Wortartenklassen. | |||||||||||||||
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) | Tokenzahl 1 bis 4: Mind. die Hälfte aller Token werden aus bildgraph. Zeichen, Eigennamen und Nomen gebildet (98 %, 67 %, 65 %, 56 %). Tokenzahl 5 und 6: (Finite) Verben zählen mit 9 % respektive 8 % zu den vier häufigsten Wortarten. |
Bildgraphische Zeichen, Eigennamen und Nomen bilden bei den Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 deutlich die frequentesten Wortarten. Für die Tokenzahlen 1 bis 3 liegen die bildgraphischen Zeichen mit 72 % (!), 24 % und 27 % sogar noch vor den Eigennamen und Nomen. Erst ab einer Tokenzahl 4 positionieren sich die bildgraphischen Zeichen hinter den dann prominenteren Nomen. | |||||||||||||||
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) | Bi-Gramme:
Tri-Gramme: 4-Gramme: |
(Eine Beschreibung und Interpretation sowohl der n-Gramme allgemein als auch der am häufigsten, konkret aufgetretenen Wort-Kombinationen kann erst in DEFAULT stattfinden.) | |||||||||||||||
Ortsspezifität | (siehe interaktive Karte unten) | ||||||||||||||||
Sekundär | Farbe | Schwarz, Rot, Weiß, Blau | Typischerweise werden Scritte Murali der Subdomäne POLITIK LINKS in schwarzer (55 %) oder roter (22 %) Farbe erstellt. Weiß (6 %) und Blau (5 %) nehmen den dritten und vierten Platz (von insgesamt 17 Farbwerten) ein. | ||||||||||||||
Typographie | Elaboriert | Die Wahrscheinlichkeit bei einer linkspolitischen Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 67 %. | |||||||||||||||
Subsidiär | Erstellungswerkzeug | Spraydose, (Wand-) Farbe, Stencil | Der Prototyp einer linkspolitischen Scritta wird/wurde zu 68 % mithilfe von Spraydosen erstellt. Weitere 20 % nehmen (Wand-) Farben (12 %) und Stencils (8 %) ein. | ||||||||||||||
Trägerfläche | Wohnhaus, Freistehende Mauer, Gebäudefassaden | Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (39 %), auf freistehenden Mauern (21 %) oder Gebäudefassaden (11 %) erstellt. | |||||||||||||||
Besonderheit | Totenkult | 67 mal werden Tote in den linkspolitischen Srcitte verehrt. Der Anteil mag auf den ersten Blick recht gering erscheinen, jedoch ist hier entscheidend, dass mit 42 % (von 159) ein Großteil dieser Totenscritte/-murales in den linkspolitischen Bereich fallen und 11 % aller linkspolitischen Scritte einen solchen Totenkult abbilden. |
Karte der geographischen Standpunkte von linkspolitischen Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 7: Standorte der Subdomäne POLITIK LINKS – Vollbildanzeige
6.2.7.2. POLITIK RECHTS
Insgesamt 35.29 % der zur Domäne POLITIK zugehörigen Scritte können der Subdomäne POLITIK RECHTS zugeordnet werden: 28 % (entspricht 315 Zuordnungen) Rechtspolitisch und 7 % (81) Rechts- vs- Linkspolitisch.
Attributs-gewichtung | Attributsklasse | Typische(r) Wert(e) | Bemerkungen | ||||||||||||||
Zentral | Tokenzahl | 1 bis 5 | Verglichen mit den Scritte der Subdomäne POLITIK LINKS, treten rechtspolitische Scritte in etwas kürzerer Länge auf: 80 % der Scritte werden durch 1 bis 5 Token realisiert und auch die statistische Verteilung weicht etwas zugunsten der kürzeren Tokenzahl ab. So liegt die höchste Wahrscheinlichkeit nach wie vor bei 3 Token (23 %), allerdings sind diese mit 21 % dicht gefolgt von 1-Token-Scritte:
|
||||||||||||||
Modifikations-anfälligkeit | 42 % | Zu 42 % Wahrscheinlichkeit werden Scritte Murali aus dem rechtspolitischen Spektrum modifiziert. Dieser Wert ist doppelt so hoch, wie jener der linkspolitischen Scritte, wobei eine Interpretation unbedingt unter Berücksichtigung der Standorte erfolgen muss. | |||||||||||||||
Verwendung bildgraphischer Zeichen | 89 % | Ebenfalls höher als bei der Subdomäne POLITIK LINKS zeigt sich die Verwendung der bildgraphischen Zeichen: Mit 89 % Wahrscheinlichkeit ist die Verwendung dieser Zeichen ein typisches (und domänenspezifisches) Attribut. | |||||||||||||||
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | ultras, vivere, banda, lotta, merda, essere, romanista, studentesco | Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte werden 25 % der frequentesten Lemmata bereits durch acht Lexeme gebildet. Auch die Semantik weicht von den Wortfeldern der Subdomäne POLITIK LINKS deutlich ab. | |||||||||||||||
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | Lazio, Roma, (Banda) Noantri, Paolo, Salario, Trieste, Azione Giovani, Associazione Sportiva Roma, Nihil Est Superius | Fast die Hälfte (45 %) aller verwendeten Eigennamen (= 126) werden lediglich von neun konkreten Denominationen gebildet. | |||||||||||||||
Sprache | 94 % Italienisch | Von den acht auftretenden Sprachen285 ist das Italienische klar die typischste Sprachwahl (94 %). Dem Italienischen folgt Latein mit knapp 3 %, Deutsch mit 1 % und Englisch mit gerade einmal 0.93 %.286 | |||||||||||||||
Dialektale Varianten | boia, di (de), tua (tu), ci (ce), rosicare (rosica‘), festeggiare (festeggia‘), vi (ve), quando (quanno), del (der), caricare (carica‘), sono (so‘) | Erwartungsgemäß untypisch ist die Verwendung dialektaler Varianten in rechtspolitischen Scritte: lediglich 11 Lemmata treten insgesamt 17 mal auf. | |||||||||||||||
Kürzungsverfahren | Akronyme (initial gekürzt) | 31 % der rechtspolitischen Scritte zeigen insgesamt 207 Wörter in gekürzter Form, wobei die initial gekürzten Akronyme am typischsten sind (92 %)., etwa TS (Trieste Salario), AG (Azione Giovani) oder NES (Nihil Est Superius). Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte (dort 27 %), sind graphematische Kürzungen mit 3 % recht untypisch. | |||||||||||||||
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) | Eigennamen, Nomen, Satzzeichen, (finite) Verben, Adjektive, Adverben | Auch die Verteilung der verwendeten Wortarten hebt sich deutlich von jener der linkspolitischen Subdomäne ab: mit 32 % stehen nun Eigennamen an erster Stelle, gefolgt von Nomen (23 %). Überraschend ist die recht häufige Verwendung von Satzzeichen mit 7 %, noch vor finiten Verben (7 %). Fast drei Viertel (74 %) aller Token werden durch lediglich sechs Wortarten gebildet. | |||||||||||||||
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Tokenzahl 1 bis 4: Mind. die Hälfte aller Token werden aus bildgraph. Zeichen, Eigennamen und Nomen gebildet (96 %, 80 %, 82 %, 67 %). |
Bildgraphische Zeichen, Eigennamen und Nomen bilden bei den Scritte mit einer Tokenzahl 1 bis 6 deutlich die frequentesten Wortarten. Für die die Tokenzahlen 1 bis 3 liegen die bildgraphischen Zeichen mit 83 % (!), 39 % und 31 % sogar noch vor den Eigennamen und Nomen. Erst ab einer Tokenzahl 4 positionieren sich die bildgraphischen Zeichen hinter den dann frequenteren Eigennamen, jedoch noch vor Nomen. Diese Verteilung ist zwar ähnlich zu jener der linkspolitischen Scritte, wobei bildgraphische Zeichen bei der Subdomäne POLITIK RECHTS noch typischer sind. | |||||||||||||||
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) | Bi-Gramme:
Tri-Gramme: 4-Gramme: |
Die n-Gramme (ungesammelt) weichen deutlich von jenen der linkspolitischen Scritte ab. Besonders die syntaktische Einbindung der bildgraphischen Zeichen sticht bei den 3- und 4-Grammen ins Auge. (Eine Beschreibung und Interpretation sowohl der n-Gramme allgemein als auch der am häufigsten, konkret aufgetretenen Wort-Kombinationen kann erst in DEFAULT stattfinden.) | |||||||||||||||
Ortsspezifität | (siehe interaktive Karte unten) | ||||||||||||||||
Sekundär | Farbe | Schwarz, Blau | Typischerweise werden Token der Subdomäne POLITIK RECHTS in schwarzer (72 %) oder blauer (10 %) Farbe erstellt. Im Vergleich zu linkspolitischen Scritte, nimmt die Farbe Rot lediglich 7 % ein, wobei über die Hälfte der Token in roter Farbe aus Hand 2 oder höher stammen). | ||||||||||||||
Typographie | Elaboriert | Die Wahrscheinlichkeit bei einer rechtspolitischen Scritta eine elaborierte Typographie zu erkennen, liegt bei 54 %. | |||||||||||||||
Subsidiär | Erstellungswerkzeug | Spraydose, (Wand-) Farbe, (Filz-) Stift | Der Prototyp einer rechtspolitischen Scritta wird zu 85 % anhand von Spraydosen erstellt, gefolgt von (Wand-) Farben (7 %) und (Filz-) Stiften (6 %).287 | ||||||||||||||
Trägerfläche | Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden | Scritte Murali werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (49 %), auf freistehenden Mauern (24 %) oder Geschäftsfassaden (11 %) erstellt. | |||||||||||||||
Besonderheit | Totenkult | 30 Scritte sind den sog. Totenscritte/-murales zuzuordnen (entspricht etwas über 7 % der rechtspolitischen Scritte). 18 % aller Toten-verehrenden Scritte sind demnach aus dem rechtspolitischen Spektrum. |
Karte der geographischen Standpunkte von rechtspolitischen Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 8: Standorte der Subdomäne POLITIK RECHTS Vollbildanzeige
6.2.7.3. Vergleich von Modifikationsroutinen der Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS
17 % der linkspolitischen und 41 % der rechtspolitischen Scritte wurden durch weitere ProduzentInnen modifiziert. Wie die Modifikationsroutinen typischerweise aussehen, wird nachfolgend zusammengefasst.
Betrifft | POLITIK LINKS | POLITIK RECHTS |
Verteilung der beteiligten Hände | Linkspolitische Scritte wurden durch bis zu vier weitere Hände modifiziert, wobei 85 % auf die Hände 2 und 3 entfallen. | Bis zu sieben Hände modifizierten die rechtspolitischen Scritte. 93 % nehmen die Hände 2 (61 %) und 3 (22 %) ein, 10 % Hand 4. |
Modifikationstypen und -bewertungen | Die modifizierten Token wurden auf 21 verschiedene Arten nachträglich bearbeitet und erfuhren eine Bewertung durch die nachfolgende Hand/Hände. 71 % dieser Modifikationsweisen werden dabei von lediglich fünf Typen-Bewertungskombinationen gebildet:
Substitution, Negation – 23 % |
Bei rechtspol. Scritte liegen die Werte sogar noch etwas höher: 74 % der modifizierten Token wurden durch eine der fünf Kombinationen modifiziert. Die Kombinationen sind mit jenen der Subdomäne POLITIK LINKS deckungsgleich – lediglich die Verteilung ist abweichend.
Elision, Negation – 27 % |
Modifikationsobjekte (Token) | Bei linkspolitischen Scritte sind stehen besonders bildgraphische Zeichen (Hand 1: 32 %, Alle Hände: 29 %), Nomen (Hand 1: 21 %, Alle Hände: 18 %) und Eigennamen (Hand 1: 16 %, Alle Hände: 16 %) im Fokus der Modifikationen. Dies entspricht 68 % für aus Hand 1 stammende Token und 63 % über alle Hände gerechnet. So werden bspw. die bildgraphischen Zeichen <<Hammer und Sichel>>, <<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>> und <<Anarchie>> vorzugsweise Objekt der (meist negativen) Modifikation. |
Noch deutlicher zeigt sich die Verteilung der typischen Modifikationsobjekte bei rechtspolitischen Scritte: 71 % (Hand 1) bzw. 65 % (Alle Hände) der modifizierten Token sind bildgraphische Zeichen (Hand 1: 27 %, Alle Hände: 21 %), Eigennamen (Hand 1: 24 %, Alle Hände: 20 %) oder Nomen (Hand 1: 21 %, Alle Hände: 23 %).288 Prominente Beispiele für diese Modifikationsobjekte wären <<Keltisches Kreuz>>, <<Fascio Littorio>>, <<Hakenkreuz>>, Banda Noantri oder Lazio. |
Ortsabhängigkeit | Siehe interaktive Karte unten | Siehe interaktive Karte unten |
Karte der geographischen Standpunkte von linkspolitischen, modifizierten Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 9: Ortsabhängigkeit der Modifikation POLITIK LINKS – Vollbildanzeige
Karte der geographischen Standpunkte von rechtspolitischen, modifizierten Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 10: Ortsabhängigkeit der Modifikationen POLITIK RECHTS – Vollbildanzeige
6.2.7.4. Typische Zeichenkonstruktionen der Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS
Bildgraphische Zeichen spielen in der Domäne POLITIK eine zentrale Rolle und somit auch für die Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS. Um etwaige Unterschiede bei den typischen Zeichenkonstruktionen zwischen den Subdomänen aufzudecken, werden nachfolgend die Ergebnisse gegenübergestellt.
Betrifft | POLITIK LINKS | POLITIK RECHTS |
Zeicheninhalte | 74 % der bildgraphischen Zeichen werden von gerade einmal sechs verschiedenen Zeicheninhalten gebildet:
<<Hammer und Sichel>> – 25 % Insgesamt wurden 80 verschiedene Zeicheninhalte erfasst. Auffällig ist, dass eines der Symbole (<<Gendersymbol Frau>>) primär nicht mit einer (links-) politischen Semantik in Verbindung steht.289 Eine Erklärung dazu ist in Kapitel zu finden. |
Eindeutiger (und damit typischer) zeigen sich die Inhalte der rechtspolitischen bildgraphischen Zeichen. Hier machen bereits drei semantische Inhalte 78 % der verwendeten Zeichen aus:
<<Keltisches Kreuz >> – 48 % Im Vergleich mit linkspolitischen Texten, umfassen die sechs häufigsten Inhalte 88 % der gesamten Inhalte, wobei nur eines auf den ersten Blick290 semantisch ‘neutral’ (d. h. nicht politik-spezifisch) ist: <<Emblem>> – 5 % Die Variation bei den Zeicheninhalte steht jener der linkspolitischen Scritte mit 28 Inhalten bei weitem nach. |
Zeichentypen | Bei den Zeichentypen zeigen sich in linkspol. Scritte die Ideogramme (78 %) als besonders dominant, gefolgt von Ikonen (13 %). Gruppensymbole stehen mit 3 % an dritter Stelle. | Noch typischer sind Ideogramme bei rechtspol. Scritte: ganze 96 % der Zeichen sind diesem Typ zuzuordnen. Gruppensymbole finden sich mit 3 % an zweiter Stelle und Ikone spielen mit lediglich 1 % eine marginale Rolle. |
Farbwahl | 95 % der Zeichen wurden in Schwarz (58 %), Rot (30 %) oder Blau (7 %) erstellt. Weiße Farbe wird interessanterweise v. a. für das Zeichen <<Herz>> verwendet. | Eben diese vier Farben machen 92 % der realisierten bildgraphischen Zeichen der rechtspol. Subdomäne aus. Allerdings weichen die Anteile deutlich von den linkspol. Pendants ab: Schwarz (73 %) ist klar die typischste Farbe, gefolgt von Blau (10 %). Rot (4 %) steht dabei auf gleicher Stufe wie Weiß (4 %), was ein deutlicher Unterschied zur linkspol. Subdomäne aufzeigt. |
Erstellungswerkzeuge | Wie zu erwarten, ist die Spraydose (65 %) das typischste Werkzeug, gefolgt von Stencils (11 %) und Filzstiften (8 %) für kleinformatige Scritte. | Mit 89 % ist die Spraydose bei rechtspol. Scritte die erste Wahl beim Erstellen von bildgraphischen Zeichen. Der (Filz-) Stift steht mit 8 % an zweiter Stelle. Auffällig ist, dass im Vergleich zu linkspol. Scritte Stencils überhaupt nicht verwendet werden. |
Heatmaps | Bei der Anordung der bildgraphischen Zeichen im Textbild, lässt sich zusammenfassen, dass die frequentesten Zeichen291 deutlich im rechten Blickfeld angeordnet werden. Einzig das Zeichen <<Fünfzackiger Stern>> zeigt ein davon stark abweichendes Bild:
|
Bei der Auswertung der Platzierungen für rechtspol. Zeichen lässt sich erkennen, dass die frequentesten bildgraphischen Zeichen292 zentral und rechts im Bild angeordnet werden. Dies ist so bei linkspol. Scritte nicht zu erkennen. Das Zeichen <<Emblem>> weist eine deutlich mittige Platzierung auf. |
6.3. Genre-Prototyp der Domäne ULTRAS
Mit 1001 ihr zu zuordnenden Scritte, liegt die Domäne ULTRAS knapp hinter der Domäne POLITIK – dies entspricht 30.39 % des Gesamtkorpus. Nach Bereinigung – also ohne die 20 mit ‘?Ultras’ markierten Scritte zu berücksichtigen – verringert sich der Anteil nur minimal auf 29.78 %. 205 der 1001 Ultras-Scritte weisen unscharfen Grenzen auf, d. h., diesen Scritte werden eine/zwei weitere Domänen zugeordnet. Im Gesamt wurden den Scritte 1221 Domänen zugeordnet, deren Verteilung sich folgendermaßen gestaltet:
Domänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil |
Ultras | 981 | 80 % |
Politik | 123 | 10 % |
Ideologie | 44 | 4 % |
Expressivität | 20 | 2 % |
?Ultras | 20 | 2 % |
Diverses | 20 | 2 % |
?Politik | 10 | 1 % |
Religion | 1 | 0 % |
?Expressivität | 1 | 0 % |
?Ideologie | 1 | 0 % |
1221 |
Betrachtet man ausschließlich die Nachbardomänen, zeigt sich die deutliche Verbindung zu den Domänen POLITIK und IDEOLOGIE:
Nachbardomäne | Frequenz (Scritta) | Anteil |
Politik | 123 | 51 % |
Ideologie | 44 | 18 % |
?Ultras | 20 | 8 % |
Expressivität | 20 | 8 % |
Diverses | 20 | 8 % |
?Politik | 10 | 4 % |
Religion | 1 | 0 % |
?Expressivität | 1 | 0 % |
?Ideologie | 1 | 0 % |
240 | 100 % |
Wie zuvor für die Domäne POLITIK gezeigt, konnten auch für den Bereich ULTRAS verschiedenen Subdomänen erfasst werden:293
Subdomänen | Frequenz | Anteil |
Ultras Vereine Konflikt | 441 | 42 % |
Ultras Verein Support | 343 | 33 % |
Ultras Verein Aversiv | 179 | 17 % |
Ultras Subkultur | 24 | 2 % |
Ultras | 17 | 2 % |
Ultras Sport | 15 | 1 % |
?Ultras | 10 | 1 % |
?Ultras Verein Support | 8 | 1 % |
?Ultras Verein Aversiv | 2 | 0 % |
Ultras Verein | 2 | 0 % |
1041 |
6.3.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne ULTRAS
Die Auswertung der zentralen Attributsklassen Tokenzahl, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen Zeichen, Verwendung von sprachlichen Zeichen sowie die Verteilung der Scritte im Erhebungsgebiet für die Domäne ULTRAS ergibt folgende Werte:
Auch für Scritte aus der Domäne ULTRAS lässt sich die relative Kürze der Texte deutlich erkennen: 91 % der Scritte zeigen zwischen einem und sechs Token, womit der Wert noch höher liegt als bei den politischen Scritte. Gleichzeitig gibt es weniger Ein-Wort/Token-Scritte als bei den politischen Scritte, mit einem höheren Anteil der 2-Wort/Token-Scritte (37 %), gefolgt von 3-Wort/Token-Scritte (22 %) und Scritte mit vier Token (12 %).
Modifikationsanfälligkeit
Knapp die Hälfte aller ULTRAS-Scritte wurde durch bis zu sieben weitere Hände modifiziert. Dies entspricht 493 der 1001 (= 49 %) Einzelscritte. Damit ist der Anteil fast doppelt so hoch, wie jener der politischen Scritte.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Bildgraphische Zeichen kamen bei 23 % der Scritte zum Einsatz. Verglichen mit den politischen Scritte (dort knapp 72 %) bedeutet dies einen Rückgang um fast 50 %.
Sprachliche Zeichen
Nachfolgend werden die Ergebnisse für der Bereich der sprachlichen Zeichen wiedergegeben und zwar zur Lexik allgemein, zu den auftretenden Eigennamen, verwendeten Sprachen und dialektalen Varianten, dem Einsatz von Kürzungsverfahren, zur Verteilung der Wortarten (POS) sowie zu den Mehrworteinheiten (n-Gramme).
Lexik
Gesamthaft ließen sich 391 semantisch dichte Lemmata ermitteln.294 Die Beschränktheit der konkreten Realisierungen und ihrer Häufigkeiten auf einen geringen Teil dieser Lemmata ist für die Domäne ULTRAS – im Vergleich zur Domäne POLITIK – noch deutlicher. So füllen nur 17 % der Lexeme (entspricht 69 der 391 Lemmata) 71 % der konkreten Realisierungen und 50 % der tatsächlich auftretenden Token basieren auf lediglich 15 (!) verschiedenen Worteinheiten.295
Eigennamen
Auch die statistische Auswertung der verwendeten Eigennamen zeigt ein ähnlich starke Rechtsverschiebung. Lediglich 31 der 176 (= 18 %) erfassten Eigennamen bilden 84 % der konkret erstellten Token.
Sprachen und Dialektale Varianten
Die Wahl der Sprache für die Domäne ULTRAS beschränkt sich fast ausschliesslich auf das Italienische (97 %). Die Verwendung von dialektalen Varianten ist mit 89 Token ähnlich gering, wie in der Domäne POLITIK (47)296, allerdings liegt der Anteil höher gemessen an den Gesamtzahlen der verwendeten Token in den beiden Domänen (POLITIK 4972; ULTRAS 3579). Dass Dialekte prototypisch in ULTRAS-Scritte sind, kann man dennoch nicht behaupten.
Kürzungsverfahren
Der Einsatz von Kürzungsverfahren bei ULTRAS-Scritte liegt bei 38 %, sprich, 379 der 1001 Scritte aus dieser Domäne zeigen Kürzungsverfahren. Die Verteilung wird erwartungsgemäß deutlich von den initial gekürzten Akronymen dominiert.
Fasst man die hier gezeigten Kürzungsvarianten und -typen, die sich auf die selben semantischen Einheiten beziehen, zusammen, beschränkt sich der Großteil (81 %) der Kürzungen auf lediglich sieben Worteinheiten.297
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Im Verhältnis zu den Werten der Domäne POLITIK, positionieren sich die Eigennamen innerhalb der Domäne ULTRAS an erster Stelle noch vor den Nomen. Die genauen statistischen Werte sind nachfolgend illustriert.
Die für politische Scritte prototypische Verwendung von bildgraphischen Zeichen (siehe DEFAULT), gilt nicht für die Domäne ULTRAS (siehe oben). Dies spiegelt sich auch in den oben gezeigten Werten der Wortarten-Verteilung mit bildgraphischen Zeichen sowie der Werte für die Token-pro-Scritta Verteilung:
n-Gramme
Folgende 2- bzw. 3-/4-Gramme wurden für die Domäne ULTRAS berechnet.298
Verteilung der Scritte Murali im Erhebungsgebiet
Die 1001 Scritte der Domäne Ultras sind wie folgt im Erhebungsgebiet verteilt.
IK 11: Standorte der Domäne ULTRAS – Vollbildanzeige
6.3.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne ULTRAS
Farben
Die Prototypikalität der Farbwahl für die Domäne ULTRAS gestaltet sich wie folgt.
Typographie
Im Verhältnis zu politischen Scritte steigen die als in arbiträrem Typographie-Stil wahrgenommenen Token etwas an und beanspruchen für die Domäne ULTRAS etwa den gleichen Anteil, wie der Wert N/AATTval.
6.3.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne ULTRAS
Erstellungswerkzeuge
Deutliche Werte für den Prototyp der Domäne ULTRAS zeigen sich für das subsidiäre Attribut der Erstellungswerkzeuge.
Träger(flächen)
Abgesehen davon, dass Tazebao überhaupt nicht als Träger fungierren, zeigt die Verteilung der Trägerflächen für die ULTRAS-Domäne kaum Auffälligkeiten.
6.3.4. Modifikationsroutinen – Domäne ULTRAS
Knapp jede zweite ULTRAS-Scritta wird modifiziert (49 %), wodurch Modifikationen in Abgrenzung zu den anderen erfassten Domänen ein integraler Bestandteil wird. Das Gros machen dabei – wie auch bei den politischen Scritte oben – die Hände 2 bis 4 aus. 92.09 % der Modifikationen werden durch eine zweite, dritte oder vierte Hand vorgenommen, wobei sich Unterschiede in den Anteile hinsichtlich der Hände ergeben, stellt man die Werte den politischen Scritte gegenüber. So verschieben sich die Werte zugunsten der Hände 3 und 4, wie in Tabelle 26 ersichtlich ist.
Hand | Anzahl Scritte | Anteil |
2 | 254 | 52 % |
3 | 121 | 25 % |
4 | 79 | 16 % |
5 | 25 | 5 % |
6 | 10 | 2 % |
7 | 2 | 0.41 % |
8 | 2 | 0.41 % |
493 |
Modifikationsweisen
Die Modifikationstypen und -bewertungen resultieren fast identisch zu den Ergebnissen der POLITIK-Scritte: die ersten fünf Typen sind ausnahmslos negative Bewertungen gegenüber der vorhergehenden Hand und auch die Typen decken sich.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Von den Ergebnissen der Domäne POLITIK stark abweichend, zeigen sich die Daten zu den modifizierten Token (jeweils für Hand 1 und alle Hände, je gesammelt und ungesammelt): sind es bei den politischen Scritte in erster Linie die bildgraphischen Zeichen, die als Modifikationsobjekte anvisiert werden, treten für den Bereich der ULTRAS-Scritte in erster Linie Eigennamen und Nomen in Erscheinung. Die entsprechenden Werte werden in den folgenden Tabellen gezeigt, geordnet nach Token und Wortarten.
Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Bildgraphischen Zeichen treten bei einem Viertel aller ULTRAS-Scritte auf, wodurch der Einsatz dieser besonderen Zeichen strenggenommen nicht als prototypisch bezeichnet werden kann. Dennoch ist eine deutliche Verbindung der Domäne ULTRAS zu jener der POLITIK erkennbar (siehe oben), was v. a. der Produktion von politischen Ideogrammen geschuldet ist. Aus diesem Grund werden nachfolgend die Modifikationsmuster von bildgraphischen Zeichen in der Domäne ULTRAS wiedergegeben.
Ortsabhängigkeit
Die Abhängigkeit vom Standort der Scritta wird nachfolgend abgebildet.
IK 12: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne ULTRAS – Vollbildanzeige
6.3.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne ULTRAS
Die Zeicheninhalte und -typen der ULTRAS-Scritte zeigen sich wie folgt.
Stellt man die Werte den Statistiken der Domäne POLITIK gegenüber, zeigt sich zwar weiterhin eine Dominanz der Ideogramme, wobei gleichzeitig die Werte zugunsten der Typen <<Ikon>>, <<Grundform>>, <<Logogramm>> und <<Pfeil>> verschieben.
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert.
Erstellungswerkzeuge
Hinsichtlich der bevorzugten Erstellungswerkzeuge, zeigt sich, dass die Spraydose noch prominenter ist, verglichen mit den Werten der Domäne POLITIK. Betrachtet man die Ergebnisse gruppiert nach den Zeichentypen, lässt sich auch hier der zunehmende Einsatz von Stencils für den Zeichentyp <<Ikon>> erkennen.
Erstellungswerkzeug | Frequenz (Token) | Anteil |
Spraydose | 278 | 86 % |
(Wand-) Farbe | 12 | 4 % |
Stencil | 12 | 4 % |
(Filz-) Stift | 10 | 3 % |
Kreide | 5 | 2 % |
Druck | 2 | 1 % |
(Wand-) Farbe, Spraydose | 1 | 0 % |
Kratzverfahren | 1 | 0 % |
(Wand-) Farbe, Pinsel | 1 | 0 % |
322 |
Heatmaps
Die Platzierung der am häufigsten verwendeten bildgraphischen Zeichen im Textbild sind (erwartungsgemäß) deckungsgleich mit den Ergebnissen der Domäne POLITIK, d. h., für Ideogramme ist eine deutliche mitte-rechts Positionierung erkennbar. Dies erklärt sich daraus, dass es sich hier um Zeichen mit – semantisch gesehen – politischem Inhalt handelt (<<Keltisches Kreuz>>, <<Fascio Littorio>> und <<Hakenkreuz>>) und die Ergebnisse daher auch Bestandteil der Domäne POLITIK sind. Einzig das Zeichen <<Emblem>> weicht von der gewohnten Anordnung ab, wobei sich kein klares Muster zeigt.
6.3.6. Subdomänen – Domäne ULTRAS
Insgesamt wurden die Scritte der Domäne ULTRAS mit sieben verschiedenen Subdomänen annotiert: Vereine Konflikt, Vereine Support, Vereine Aversiv, Subkultur, Sport, Verein und lediglich Ultras. Vier dieser Werte beziehen sich auf Scritte worin Fußballvereine im der zentrale Gegenstand sind – für die vorliegende Studie handelt es sich dabei fast ausschliesslich um die Vereine A.S. Rom und S.S. Lazio. Desweiteren treten Scritte auf, die sich auf den Sport Fußball oder die Subkultur der Ultras generell beziehen. Zuletzt tritt eine Restgruppe in Erscheinung, die sich auf andere, nicht näher spezifizierte Weise auf die Ultras-Kategorie bezieht. Wie zu Beginn des Kapitels bereits im Detail gezeigt wurde, sind es lediglich drei der Vereins-Subdomänen, die in höherer Zahl auftreten und somit in diesem Kapitel näher beschrieben werden sollen. Es handelt sich dabei um die Subdomänen VEREIN KONFLIKT (441 Scritte/42 % der Domäne), VEREIN SUPPORT (343 Scritte/33 %) und VEREIN AVERSIV (179 Scitte/17 %). Wie gezeigt wurde (siehe DEFAULT) sind Modifikationen innerhalb der Domäne ULTRAS ein substantieller Bestandteil fast jeder zweiten Scritta. Die Subdomäne VEREIN KONFLIKT sammelt ein Großteil dieser Scritte zusammen und beschreibt jene Scritte, in denen sich das Konfliktpotential zwischen den Anhängern zweier (oder mehrerer) Fußballvereine in den Texten niederschlägt. Daneben stehen Scritte der Subdomänen VEREIN SUPPORT und VEREIN AVERSIV, die sich auf den sog. Support eines Vereins bzw. deren Anhänger fokussieren oder die aversive Haltung seitens des/der Produzenten gegenüber eines konkurrierenden Vereins ausdrücken. Tatsächlich liessen sich die meisten der mit Verein Konflikt markierten Scritte zu einem dieser beiden, letztgenannten Subdomänen zuordnen. Jedoch scheint es, dass für die Produzenten ab einem bestimmten Moment eher die Modifikation der Scritte im Vordergrund stehen.299 Eine deutliche Differenzierung der Subdomänen, wie dies für links- und rechtspolitische Scritte möglich war, ist für den Bereich der ULTRAS-Scritte nicht ganz so einfach. Nachfolgend wird eine Zusammenfassung der prototypischen Werte für diese drei Subdomänen – VEREIN KONFLIKT, VEREIN SUPPORT und VEREIN AVERSIV – gegeben.
6.3.6.1. ULTRAS VEREIN KONFLIKT
441 der 1041 für den Bereich ULTRAS vergebenen Subdomänen, gehören der Subdomäne VEREIN KONFLIKT an. Dies entspricht einem Anteil von 42 % aller Subdomänen und 13 % der Scritte des Gesamtkorpus.
Attributs-gewichtung | Attributsklasse | Typische(r) Wert(e) | Bemerkungen | |||||||||||||||||||||||||||
Zentral | Tokenzahl | 3 bis 6 | Da die Attributsklasse [Tokenzahl pro Scritta]ATTclass normalerweise ausschließlich für Hand 1 berechnet werden, dies aber für die Subdomäne KONFLIKT VEREIN nicht sinnvoll wäre,300 werden hier die Werte für alle Hände angegeben. 52 % der Scritte weisen dabei zwischen 3 und 6 Token auf. 80 % der Scritte zeigen zwischen 2 und 10 Token. Scritte dieser Subdomäne sind demnach länger, als die prototypischen Texte der Domäne ULTRAS. | |||||||||||||||||||||||||||
Modifikations-anfälligkeit | 100 % | Wie bereits beschrieben, sind alle Scritte der Subdomäne modifiziert worden. | ||||||||||||||||||||||||||||
Verwendung bildgraphischer Zeichen | 28 % | Etwas weniger als ein Drittel der VEREIN KONFLIKT-Scritte weisen bildgraphische Zeichen auf. Dieser Wert liegt um 5 % höher als für die übergeordnete Domäne ULTRAS. | ||||||||||||||||||||||||||||
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | merda, romanista, ultras, laziale, banda, verme, campione, curva, essere | Aus 170 verschriftlichten Lemmata bilden die neun linksstehenden Lexeme bereits 53 % der realisierten Token. Die relativ geringe Varianz der konkret verwendeten Lexeme, die schon für die Domäne ULTRAS gezeigt wurde, tritt für diese Subdomäne in noch deutlicherer Form auf. | ||||||||||||||||||||||||||||
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) | Associazione Sportiva Roma, Società Sportiva Lazio, Lulic, Banda Noantri | Noch deutlicher zeigt sich die Beschränkung auf wenige Worteinheiten bei der Ermittlung der verwendeten Eigennamen: 80 % (!) der 452 konkret verwendeten Eigennamen werden durch lediglich vier Bezeichnungen (in verschiedenen Formen) gebildet. Insgesamt 54 verschiedene Eigennamen sind aufgetreten. | ||||||||||||||||||||||||||||
Sprache | 98 % Italienisch | Lediglich sieben Sprachen wurden innerhalb der Domäne verwendet, wobei neben der italienischen Sprache (98 %) alle weiteren Sprachen für die Ermittlung der Prototypen insignifikant sind. | ||||||||||||||||||||||||||||
Dialektale Varianten | di (de), ti (de), tua (tu), vi (ve), non (nun), ci (ce), la (‘a), sfondo (sfonno) | Die Verwendung von dialektalen Varianten ist, wie zu erwarten war, recht untypisch: 23 Wortformen treten insg. 45 mal auf. Die neun häufigsten (67 %) sind links aufgelistet. | ||||||||||||||||||||||||||||
Kürzungsverfahren | Akronyme (initial gekürzt) | In rund 44 % der VEREIN KONFLIKT-Scritte setzen Produzenten Kürzungsverfahren ein. Mit 94 % ist das typische Verfahren dabei die initiale Kürzung zu Akronymen, wie bspw. A.S.R./ASR oder lediglich AS sowie S.S.L./SSL oder CML (für die Vollform Commandos Monteverde Lazio). | ||||||||||||||||||||||||||||
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) | Eigennamen (32 %), Nomen (30 %), Satzzeichen (6 %), (finite) Verben (4 %), Adjektive (4 %) | Die Verteilung der auftretenden Wortarten ist mit jener der Domäne ULTRAS fast identisch. Lediglich die an zweiter Stelle gelegenen Nomen weisen mit 30 % etwas höhere Werte auf, als dies für die übergeordnete Ebene der Fall ist (dort sind es 25 %). | ||||||||||||||||||||||||||||
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
N/A |
Die Angabe der Wortarten für die Scritte mit einer bestimmten Anzahl von Token ist nur sinnvoll, wenn diese auf eine Hand (bisher Hand 1) beschränkt ist. Da dies für die Subdomäne VEREIN KONFLIKT nicht von nutzen ist, werden dazu keine Angaben gemacht. | ||||||||||||||||||||||||||||
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Die n-Gramme (ungesammelt) zeigen allesamt ein ähnliches Bild. Die häufigsten Mehrwort-Kombinationen werden durch Tokenfolgen gebildet wie bspw. [Lazio/Roma merda], [A.S. Roma/S.S. Lazio merda !] oder [A.S. Roma merda Ultras Lazio]. Auffällig ist die relativ häufige Verwendung von Satzzeichen. | ||||||||||||||||||||||||||||
Ortsspezifität | (siehe interaktive Karte unten) | |||||||||||||||||||||||||||||
Sekundär | Farbe | Schwarz, Blau | Typischerweise werden Token der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT in schwarzer (68 %) oder blauer (15 %) Farbe erstellt. | |||||||||||||||||||||||||||
Typographie | Elaboriert | Mit 50 prozentiger Wahrscheinlichkeit lassen sich bewusst gewählte Typographien erkennen. | ||||||||||||||||||||||||||||
Subsidiär | Erstellungswerkzeug | Spraydose | Die Ergebnisse zu den Erstellungswerkzeugen für diese Subdomäne sind eindeutig: 97 % der Scritte wurden anhand von Spraydosen erstellt. | |||||||||||||||||||||||||||
Trägerfläche | Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden | KONFLIKT-Scritte werden typischerweise an Außenwänden von Wohnhäusern (54 %), auf freistehenden Mauern (31 %) oder Geschäftsfassaden (9 %) erstellt. |
Karte der geographischen Standpunkte von Scritte Murali der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT im Erhebungsgebiet:
IK 13: Standorte der Subdomäne ULTRAS VEREIN KONFLIKT – Vollbildanzeige
Modifikationsroutinen
Die Subdomäne VEREIN KONFLIKT besteht ausschliesslich aus modifizierten Scritte. Da ein direkter Vergleich mit den zwei weiteren Subdomänen VEREIN SUPPORT und AVERSIV wenig sinnvoll ist, werden die Routinemuster an dieser Stelle nur für die Scritte der Kategorie VEREIN KONFLIKT gegeben.
Betrifft |
VEREIN KONFLIKT |
Verteilung der beteiligten Hände |
Bis zu sieben weitere Hände treten im Rahmen der Modifikationen für diese Subdomäne auf. Jedoch fallen 93 % der Textmanipulationen auf die Hände 2 (53 %), 3 (27 %) und 4 (14 %). |
Modifikationstypen und -bewertungen |
33 Modifikationstypen-Bewertungs-Kombinationen sind hier zu erkennen, wobei sich 83 % dieser Kombinationen auf sechs Arten konzentrieren: Elision, Negation – 26 % |
Modifikationsobjekte (Token) |
Besonders Eigennamen (Hand 1: 37 %, Alle Hände: 27 %) und Nomen (Hand 1: 30 %, Alle Hände: 26 %) werden modifiziert. Die am häufigsten modifizierten Token sind merda (über negative Elision ersetzt durch ~ ~ ~), Lazio (ersetzt durch Roma, elidiert oder erneuert) und Roma (ebenfalls durch Elision, Substitution oder Erneuerung modifiziert). |
Ortsabhängigkeit |
Da alle Scritte der Subdomäne modifiziert wurden, sei auf die oben dargestellte interaktive Karte verwiesen. |
Typische Zeichenkonstruktionen
Mit 23 % beinhaltet knapp jede vierte Scritta ein bildgraphisches Zeichen auf, insgesamt sind es 176 solcher Zeichen in 441 Texten. Die typischen Konstruktionsmuster lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Betrifft |
ULTRAS VEREIN KONFLIKT |
Elf verschiedene bildgraphische Zeichen mit einer Mindestfrequenz von 5 bilden 76 % des gesamten Zeichenapparates. Acht davon sind den Ideogrammen zuzuordnen: < < Keltisches Kreuz (rechts) > > – 19 % Die weiteren drei Zeicheninhalte gehören den Typen der intratextuellen Verweise durch Pfeile, Grundformen (Linien) und Ikonen an. Erklärungsbedürftig ist das Auftreten des jüdischen Davidsterns. Dieses tritt ausschließlich in der Form auf, dass durch das Zeichen bestimmte Personen oder Gruppierungen als Juden bezeichnet werden, wobei stark davon auszugehen ist, dass es sich um antisemitisches Gedankengut handelt und diese Bezeichnung als Beleidigung intendiert ist. |
|
Zeichentypen |
Die Ergebnisse der typischen Zeicheninhalte spiegeln sich auch in der Konstellation der typischen Zeichentypen wieder: 71 % der verwendeten Zeichen sind den Ideogrammen zu zuordnen, weitere 25 % werden recht gleichmäßig durch Grundformen (gestalterisch/gliedernd) – 7 %, (nachfolgend jeweils 6 %) Pfeile (intratextueller Verweis), Ikone und Logogramme (> eine phonet. Entsprechung) gebildet. |
Farbwahl |
Schwarz (63 %) ist die deutlich dominante Farbe, gefolgt von Blau (17 %) und Rot (6 %). |
Erstellungswerkzeuge |
Wie zu erwarten, werden prototypischerweise – d. h. zu 95 % – die bildgraphischen (wie auch sprachlichen) Zeichen anhand von Spraydosen erstellt. |
Heatmaps |
Um typische Zeichenkonstruktion in Bezug auf die Positionierung der bildgraphischen Zeichen im Textbild fassen zu können, müssen die Werte ausschließlich auf Daten aus Hand 1 stammen. Da die höchste Frequenz dabei bei 18 liegt und es fraglich ist, bei solch einer niedrigen Anzahl von typischen oder musterhaften (i. S. v. verfestigten) Konstruktionen zu sprechen, werden an dieser Stelle keine Heatmaps ausgewertet. Außerdem stammen die häufigsten Zeicheninhalte allesamt aus dem politischen Kontext und deren typische Positionierung wurde bereits in den Ergebnissen zur Domäne ULTRAS gezeigt. |
6.3.6.2. ULTRAS VEREIN SUPPORT
Mit 343 Scritte sind knapp ein Drittel (33 %) aller ULTRAS-Scritte den Support-Texten zu zuordnen. Etwas über 10 % aller Texte im Korpus sind demnach Teil dieser Subdomäne.
Zentral |
Tokenzahl |
1 bis 4 |
Die typischen Tokenzahlen pro Scritta zeigen sich bei insg. 78 % mit Werten zwischen 1 und 4 als die (durchschnittlich) kürzesten Scritteformen im Korpus dar. Den größten Anteil nimmt dabei die Tokenzahl 2 mit 31 % ein, gefolgt von Tokenzahl 3 (23 %), 1 (13 %) und 4 (11 %). |
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|
Modifikations-anfälligkeit |
9 % |
Lediglich jede 10 Scritta aus der Subdomäne ULTRAS SUPPORT wurde durch weitere Hände modifiziert.301 |
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|
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
23 % |
Etwa ein Viertel der SUPPORT-Scritte beinhaltet bildgraphische Zeichen, womit ähnliche Werte wie in der Subdomäne der Konflikte (28 %) erreicht werden. |
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|
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
ultras, vivere, forza, essere, merda, campione |
Die sechs Lemmata mit einer Mindestfrequenz von 10, bilden im Gesamt 31 % der 404 realisierten Token. Die Werte liegen damit etwas niedriger als bei der KONFLIKT-Subdomäne, was insgesamt von einer etwas höheren lexikalischen Diversifikation zeugt. Insgesamt wurden 175 Lemmata in verschiedenen Formen realisiert. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
Associazione Sportiva Roma, Società Sportiva Lazio, Lulic, Banda Noantri |
67 % der 412 verschriftlichten Eigennamen werden durch die vier linksstehenden Bezeichnungen realisiert. Vergleicht man die angegebenen 80 % aus der Subdomäne KONFLIKT, so kommen elf weitere Eigennamen hinzu, welche auf vereinsbezogene Gruppierungen oder Einzelpersonen verweisen, wie z. B. Commandos Monteverde Lazio, Ultras Roma/Lazio, (Francesco) Totti oder Maurizio. |
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|
Sprache |
95 % Italienisch |
Erwartungsgemäß werden 95 % der sprachlichen Token auf Italienisch verfasst, gefolgt von 4 % in englischer Sprache. |
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|
Dialektale Varianten |
vi (ve), dai (daje), quando (quanno), rosicare (rosica’) |
Gerade einmal 17 verschiedene Lemmata tauchen insgesamt 21 in dialektaler Form auf. Die vier häufigsten Beispiele sind links zu sehen. |
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|
Kürzungsverfahren |
Akronyme (initial gekürzt) |
Auch für diese Subdomäne ist mit 93 % das initial gekürzte Akronym die bevorzugte Kürzungsweise. |
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|
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Eigennamen (34 %), Nomen (15 %), (finite) Verben (7 %), Satzzeichen (6 %) |
Im Vergleich zu Konflikt-Scritte der Domäne ULTRAS, ist ein deutlicher Rückgang von 30 auf 15 % beim Anteil der Nomen zu erkennen. Der Anteil der (finiten) Verben steigt minimal von 4 auf 7 %. |
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|
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Tokenzahl 1 bis 6: Eigennamen sind mit 76 % (Tokenzahl 1) bis 29 % klar die häufigste Wortart, gefolgt von Nomen (bei Tokenzahl 1-5: mind. 9 bis max. 17 %). Erst ab Tokenzahl 6 verringert sich der Anteil der Nomen (6 %) zugunsten der bildgraphischen Zeichen (14 %) und finiten Verben (10 %). |
Die Dominanz der Eigennamen ist nicht allein anhand der prozentualen Anteile dieser Wortart zu erkennen. Ein Blick auf die konkret realisierten Nomen zeigt, dass diese teilweise Bestandteile von Komposita sind, welche wiederum Gruppenbezeichnungen darstellen, wodurch der Anteil der Eigennamen zusätzlich ansteigt. |
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|
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Die Prototypikalität von Eigennamen schlägt sich auch in den Ergebnissen der n-Gramme nieder. Selbst die häufigste Kombination innerhalb der Bi-Gramme NOUN NPR gibt in erster Linie Bezeichnungen für spezifische Gruppen wieder, wie bspw. [Ultras Lazio], [Ultras Roma] oder [Banda Noantri]. |
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|
Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
|
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Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Rot, Blau |
Verglichen mit der übergeordneten Domäne ULTRAS, ist innerhalb der Subdomäne SUPPORT eine Verschiebung zugunsten der roten Farbe zu erkennen. Der Anteil schwarzer Farbe (54 %) verringert sich um ca. 10 % und die Farbe Rot positioniert sich mit 19 % nun neu vor der Farbe Blau (12 %). |
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|
Typographie |
Elaboriert |
67 % der Scritte lassen eine bewusst gewählte Typographie erkennen. Bei 22 % scheint das typographische Element den Produzenten ohne Bedeutung zu sein, weshalb das Attribut den Wert arbiträrATTval aufweist. |
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Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose |
Einen deutlichen Rückgang von 90 auf 79 % erlebt das bevorzugte Erstellungswerkzeug ʻSpraydose’, vergleicht man die Werte mit jenen der übergeordneten Domäne. Im Vergleich zur Subdomäne VEREIN KONFLIKT (97 %) ist der Rückgang sogar noch deutlicher. Kleinformatige Scritte werden zu 10 % anhand von Filzstiften erstellt. |
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|
Trägerfläche |
Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden |
Parallel zu den Werten der Domäne, ist die Erstellung der Scritte auf Aussenwänden von Wohnhäusern (39 %), auf freistehenden Mauern (31 %) oder Geschäftsfassanden (15 %) weiterhin prototypisch. |
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Besonderheit |
Totenkult |
35 Scritte in dieser Subdomäne weisen eine Form des Totenkultes auf. Mit knapp 9 % aller Totenkult-Scritte, liegt diese Subdomäne sogar noch vor der Subdomäne POLITIK RECHTS. Mit 10 % zeigt etwa jede zehnte Sritta eine solche Verehrung eines Toten. |
|
Die Standorte der ULTRAS VEREIN SUPPORT-Scritte zeigen sich wie folgt.
IK 14: Standorte der Subdomäne ULTRAS VEREIN SUPPORT – Vollbildanzeige
6.3.6.3. ULTRAS VEREINE AVERSIV
Neben den Subdomänen KONFLIKT und SUPPORT bildet die Subdomäne VEREINE AVERSIV die dritte, größere Gruppe innerhalb der ULTRAS-Scritte. Dieser auf aversive Textbotschaften aus dem Vereinsbereich Subdomäne können 179 Scritte zugeordnet werden. Dies entspricht 17 % der Domäne ULTRAS und 5 % des Gesamtkorpus. Nachfolgend die Zusammenfassung der prototypischen Werte.
Zentral |
Tokenzahl |
2 bis 4 |
Aversive ULTRAS-Scritte weisen keine Texte mit lediglich einem Token auf. Mit 79 % zeigen sich diese spezifischen Scritte typischerweise mit 2 bis 4 Token pro Scritta, wobei fast die Hälfte aller Texte (45 %) aus lediglich zwei Token (aus erster Hand) bestehen, gefolgt von 3-Token-Scritte (21 %) und 4-Token-Scritte (14 %). |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Modifikations-anfälligkeit |
12 % |
Parallel zu den SUPPORT-Texten ist die Modifikationsanfälligkeit mit 12 % relativ gering.302 |
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|
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
12 % |
Verglichen mit den gleichgeordneten Subdomänen des Bereichs ULTRAS VEREINE spielen bildgraphische Zeichen bei aversiven Texten eine weitaus geringere Bedeutung. |
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|
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
merda, laziale, romanista, essere |
45 % der 126 auftretenden Lemmata und 310 Realisierungen davon werden durch linksstehende Lexeme realisiert. |
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Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
Società Sportiva Lazio, Associazione Sportiva Roma |
72 % von 176 Erscheinungsformen der 42 Lemmata beziehen sich auf eine der beiden Mannschaften des städtischen Raum Roms aus der Serie A. Es muss hervorgehoben werden, dass erstens das Lemma Lazio noch vor Roma erscheint und zwar mit einem doppelt so hohem Wert (68 zu 27), und zweitens, dass die Lemmata Lazio und Roma weitaus häufiger gebraucht werden als die spezifische Beschreibungsform S.S. Lazio oder A.S. Roma. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Sprache |
98 % Italienisch |
Fast ausschliesslich Token in italienischer Sprache wurden erfasst. Insgesamt kam es neben dem Italienischen zur Verwendung von nur drei weiteren Sprachen (Englisch, Spanisch, Deutsch). |
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|
Dialektale Varianten |
vi (ve), coglione (cojone), quando (quanno), boia (boia) |
Auch für diese Subdomäne sind es gerade einmal 15 verschiedene Lemmata, die im Gesamt 21 mal in dialektaler Form auftreten. Die vier häufigsten Beispiele sind links zu sehen. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Kürzungsverfahren |
Akronyme (initial gekürzt) |
88 % der Kürzungsverfahren fallen auf initial gekürzte Akronyme, gefolgt von der Kopfform Juve (für Juventus Torino) mit 8 %. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Nomen (34 %), Eigennamen (26 %), Satzzeichen (7 %), (finite) Verben (5 %) |
Sowohl bei der Domäne ULTRAS als auch bei den bereits beschriebenen Subdomänen KONFLIKT und SUPPORT waren Eigennamen deutlich die am frequentesten auftretende Wortart. In dieser Hinsicht sind klar Unterschiede erkennbar: Nomen nehmen nun den ersten Platz ein, worauf Eigennamen, Satzzeichen und schließlich finite Verben folgen. |
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Wortarten bei Tokenzahl 2 bis 4 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Nomen (56 – 35 %), Eigennamen (34 – 30 %) |
Neben dem Nichtvorhandensein von 1-Token-Scritte sticht erneut die Dominanz der Eigennamen und Nomen ins Auge: mindestens 65 % werden der dargestellten Token sind Nomen303 oder Eigennamen. Ab einer Tokenzahl 3 stehen Satzzeichen (v. a. <!>) mit 14 bzw. 9 % an dritter Stelle. |
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n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
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Hervorgehoben sollte die auffällige 4-Wortkombination mit der höchsten Frequenz [CON WH CLI VER:fin]: in gesammelter Form wird diese Kombination durch die Tokenfolgen ma/e quando vi passa realisiert. Eine Bedeutungsklärung wird im Interpretationskapitel gegeben werden. |
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Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
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Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Rot, Blau, Weiß |
Schwarz ist mit 64 % die typischste Farbe. Rot und Blau folgen dieser mit 14 bzw. 8 %. Interessanterweise ist der Anteil von in weißer Farbe realisierter mit 8 % ebenso hoch, wie jener der blauen Farbe. |
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Typographie |
Elaboriert |
Der Anteil der elaborierten Graphen liegt bei 60 %, gefolgt von Token in arbiträrem Schriftstil mit 34 %. |
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Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose |
Verglichen mit den weiteren beiden Subdomäne aus dem Bereich ULTRAS VEREINE ist der Anteil der Spraydose weiter rückläufig, liegt jedoch weiterhin bei 77 %. Insgesamt wurden nur drei verschiedene Werkzeuge verwendet, wobei der Spraydose die (Filz-) Stifte mit 22 % und (Wand-) Farbe mit 3 % folgen. |
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Trägerfläche |
Wohnhaus, Freistehende Mauer, Geschäftsfassaden |
Wenig abweichende Daten zu den Ko-Subdomänen zeigen sich die Daten zur Trägerfläche. Nach wie vor werden über 80 % der Träger aus den nebenstehenden gebildet. |
Die Verteilung der aversiven Scritte im Erhebungsgebiet sind nachfolgend visualisiert:
IK 15: Standorte der Subdomäne ULTRAS VEREINE AVERSIV – Vollbildanzeige
6.3.6.4. Vergleich von Modifikationsroutinen der Subdomänen VEREINE SUPPORT und VEREINE AVERSIV
Mit 9 % (SUPPORT) respektive 12 % (AVERSIV) ist nur ein geringer Teil dieser beiden Subdomänen Ziel von Modifikationen. An dieser Stelle sei (erneut) darauf hingewiesen, dass offensichtlich ein nicht unerheblicher Anteil der Scritte, die unter ULTRAS KONFLIKT gesammelt sind, sowohl dem Support der eigenen Mannschaft als auch dem Ausdruck der Aversion gegenüber konkurrierenden Vereinen dienen. Die ausgewerteten Daten der typischen Änderungsroutinen dieser modifikationszentrierten Subdomäne VEREINE KONFLIKT sind oben dargestellt. Nachfolgend eine vergleichende Übersicht der Modifikationsabläufe der beiden Subdomänen SUPPORT und AVERSIV.
Betrifft |
ULTRAS VEREINE SUPPORT |
ULTRAS VEREINE AVERSIV |
Verteilung der beteiligten Hände |
Scritte der Kategorie SUPPORT wurden durch bis zu fünf weitere Hände modifiziert, wobei 85 % auf die Hände 2 (67 %) und 3 (19 %) entfallen. |
Bis zu fünf Hände modifizierten die rechtspolitischen Scritte. 87 % nehmen die Hände 2 (71 %) und 3 (16 %) ein. |
Modifikationstypen und -bewertungen |
Auf 17 verschiedene Weisen, wurden die SUPPORT-Scritte modifiziert. Unter den fünf häufigsten Varianten beziehen sich drei in negierender Form auf die modifizierte Hand, zwei dagegen zeigen eine affirmierende Bewertung: Elision, Negation – 22 % |
Aversive Vereinsscritte wurden durch 12 Modifikationstypen-Bewertungskombinationen nachträglich geändert. Die Bewertungsrelationen fallen dabei im gesamt negativer aus, im Vergleich zu linksstehenden Werten der SUPPORT-Scritte. Elision, Negation – 20 % |
Modifikationsobjekte (Token) |
Vorzugsweise werden Eigennamen und bildgraphische Zeichen abgeändert. Es handelt sich dabei, wie zu erwarten war, in erster Linie um Bezeichnungen der Vereine (bspw. A.S. Roma oder S.S. Lazio in den verschiedensten Varianten) oder vereinsbezogene (Ultras-) Gruppierungen (z. B. Banda Noantri oder allgemein Ultras Roma/Lazio), die elidiert, rasiert oder ersetzt werden. Besonders politische Symbole (wie das Keltische Kreuz, Hakenkreuze oder Fascio Littorio) der rechtsextremen Szene stehen als Modifikationsobjekte im Fokus. |
In aversiven Scritta-Texten sind es v. a. Nomen und Eigennamen, die vorzugsweise modifiziert werden. So werden besonders Worteinheiten wie coniglio, merda, burino oder zingaro gelöscht oder ersetzt, aber auch die Personenbezeichnungen laziale oder romanista sind Ziel der Änderungen. Bei den Eigennamen dagegen sind es meist die Vereine bzw. vereinsspezifischen Gruppierungen, die geändert werden. |
Ortsabhängigkeit |
Da nur ein geringer Teil der Scritte aus dieser Subdomäne modifiziert wurde, sind die Daten im Sinne von Modifikationsroutinen nicht repräsentativ und eine Darstellung der Standorte nicht sinnvoll. Es sei an dieser Stelle auf die interaktiven Karten der modifizierten Scritte der Subdomäne VEREINE KONFLIKT sowie auf die Standorte der SUPPORT-Scritte allgemein verwiesen. |
Da nur ein geringer Teil der Scritte aus dieser Subdomäne modifiziert wurde, sind die Daten im Sinne von Modifikationsroutinen nicht repräsentativ und eine Darstellung der Standorte nicht sinnvoll. Es sei an dieser Stelle auf die interaktiven Karten der modifizierten Scritte der Subdomäne VEREINE KONFLIKT sowie auf die Standorte der AVERSIV-Scritte allgemein verwiesen. |
6.3.6.5. Typische Zeichenkonstruktionen der Subdomänen VEREINE SUPPORT und VEREINE AVERSIV
Fast jede Vierte (23 %) SUPPORT-Scritta vermittelt Botschaften und Inhalte über bildgraphische Zeichen. Aversive Scritte aus der Domäne ULTRAS dagegen tun dies lediglich zu 12 %. Die wichtigsten Daten zu den routineartigen Abläufen werden nachfolgend gegenübergestellt.
Betrifft |
ULTRAS VEREINE SUPPORT |
ULTRAS VEREINE AVERSIV |
Zeicheninhalte |
Politische Symbole bieten 54 % (bei 58 realisierten Token) der verwendeten Zeicheninhalte auf. Am typischsten sind dabei das <<Keltische Kreuz>> (20 %), das <<Fascio Littorio>> (10 %) und das <<Hakenkreuz>> (9 %). Auffällig ist die Verwendung des Ikon <<Lupa con Romolo e Remo>>, welches 9 % der Zeicheninhalte bildet. |
Gerade einmal 26 Token zeigen bildgraphische Zeichen in dieser Subdomäne. Wobei das Keltische Kreuz mit 31 % und der Davidstern (siehe oben) mit 15 % die größten Anteile einnehmen. |
Zeichentypen |
91 % der Zeichentypen in dieser Subdomäne werden von Ideogrammen (71 %) und Ikonen (19 %) gebildet. |
Ähnliche Werte zur linksstehenden Subdomäne zeigen sich auch in der Subdomäne AVERSIV: 77 % der Zeichentypen stammen aus dem Bereich der Ideogramme, 19 % machen Ikone aus. Die Subdomäne umfasst lediglich einen weiteren Zeichentyp auf und zwar ein Gruppensymbol der Opposta Fazione (entspricht 4 %). |
Farbwahl |
81 % der Zeichen wurden in Schwarz (48 %), Rot (16 %), Weiß (10 %) oder Blau (7 %) erstellt. |
Die wenigen bildgraphischen Zeichen werden v. a. in schwarzer (62 %), roter (12 %) oder blauer (8 %) Farbe erstellt. |
Erstellungswerkzeuge |
Dem gewohnt dominanten Werkzeug Spraydose (76 %) folgt interessanterweise das Stencil mit 8 %. Dies liegt an einer Serie von Scritte identischen Inhalts, die einem engeren Umkreis erstellt wurden. Dabei wird u. a. ein Ikon (<<Lupa con Romolo e Remo>>) in weißer Farbe gezeigt. |
Lediglich drei Erstellungswerkzeuge wurden innerhalb dieser Subdomäne verwendet, wobei die Spraydose (85 %) deutlich die höchsten Werte einnimmt, gefolgt von (Wand-) Farbe (8 %) und (Filz-) Stift (8 %). |
Heatmaps |
Da in dieser Subdomäne die höchste Frequenz eines bildgraphischen Zeichens (<<Keltisches Kreuz>>) gerade einmal bei 22 liegt, ist es nicht sinnvoll Heatmaps der Platzierungen im Textbild wiederzugeben. An dieser Stelle sei auf die Ergebnisse für die übergeordnete Domäne ULTRAS verwiesen (siehe DEFAULT). |
Da in dieser Subdomäne insgesamt nur 26 bildgraphische Zeichen verwendet wurden, ist es nicht sinnvoll Heatmaps der Platzierungen im Textbild wiederzugeben. An dieser Stelle sei auf die Ergebnisse für die übergeordnete Domäne ULTRAS verwiesen (siehe DEFAULT). |
6.4. Genre-Prototyp der Domäne EXPRESSIVITÄT
Wie in DEFAULT beschrieben, sind unter dem Begriff Expressivität zunächst Domänentexte gesammelt, denen als zentraler Zweck die Übermittlung von Emotionen zugrunde liegt. An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Begriff Expressivität hier prototypisch verstanden wird und verschiedene Verwendungsweisen und Inhaltsdefinitionen existieren, wobei die Konzepte hinsichtlich verschiedener Ebenen definiert und interpretiert werden können (vgl. Pustka/Goldschmitt 2014). Eine Interpretation in Bezug auf die funktionalen Ebenen soll jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt geschehen und so beschränke ich mich auf die oben genannte, bewusst weit gefasste Definition des Terminus im Sinne eines Sammelbegriffes für emotionsbezogene Scritte.
740 der insgesamt 3294 Scritte im Korpus weisen solche expressiven, d. h. emotionszentrierten, Texte auf. Dies entspricht 20 % der (3740) vergebenen Domänen und 22 % der 3294 im Gesamtkorpus vorliegenden Scritte, womit diese Domäne die drittgrößte Gruppe innerhalb des Gesamtkorpus bildet. Acht der 740 Expressivität-Scritte wurden mit ʻ?’ markiert.304 118 der betreffenden Scritte wurden mehr als einer Domäne zugewiesen (entspricht 16 % der bereinigten Expressivität-Scritte), wobei die Domäne DIVERSES (siehe DEFAULT) den größten Anteil der hier insgesamt 868 (bzw. bereinigt 860) vergebenen Domänen einnimmt. Die Nachbarkategorien der Domäne EXPRESSIVITÄT und ihre Häufigkeiten sind nachfolgend in Tabelle 35 aufgeführt.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Diverses |
80 |
63% |
Ultras |
21 |
17% |
Politik |
18 |
14% |
Religion |
4 |
3% |
?Politik |
2 |
2% |
Ideologie |
1 |
1% |
?Ideologie |
1 |
1% |
|
127 |
100 % |
Folgende Subdomänen wurden für den Bereich EXPRESSIVITÄT aufgenommen:305
Subdomänen |
Frequenz |
Anteil |
Liebe direkt |
202 |
25% |
Beschimpfung |
97 |
12% |
Affektiv direkt |
63 |
8% |
Expressivität positiv |
55 |
7% |
Liebe poetisch |
53 |
7% |
Affektiv bindend |
45 |
6% |
Humor |
43 |
5% |
Vulgär |
42 |
5% |
Affektiv |
34 |
4% |
Liebe |
34 |
4% |
Liebe bindend |
29 |
4% |
Expressivität negativ |
28 |
3% |
Provokation |
22 |
3% |
Expressivität poetisch |
18 |
2% |
Affektiv poetisch |
12 |
1% |
Expressivität |
8 |
1% |
?Liebe |
3 |
0% |
Trauer |
3 |
0% |
Affektiv indirekt |
2 |
0% |
Liebe Zuneigung |
2 |
0% |
?Expressivität negativ |
1 |
0% |
?Expressivität positiv |
1 |
0% |
?Humor |
1 |
0% |
?Liebe direkt |
1 |
0% |
?Vulgär |
1 |
0% |
Liebeskummer |
1 |
0% |
801 |
100 % |
Eine Beschreibung zu den Subdomänen finden sich in Kapitel .
6.4.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Die zentralen Klassen der Tokenzahl pro Scritta, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen und sprachlichen Zeichen sowie die Verteilung der Scritte im Erhebungsgebiet werden nachfolgend veranschaulicht.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1):
Obwohl sich die Tendenz zu kurzen Scritte mit weniger als zehn Token umfassenden Texten auch für diese Domäne zeigt – 64 % der Scritte zeigen Texte mit zwei bis sechs Token – so lässt sich im Vergleich mit den Domänen POLITIK und ULTRAS doch festhalten, dass die Textlänge weniger stark auf bestimmte Werte begrenzt ist: 83 % der politischen Scritte zeigen Hand 1-Texte zwischen einem und sechs Token, bei Ultras-Texten sind es sogar 91 % (siehe DEFAULT und DEFAULT). Expressivität-Texte zeigen demnach eine größere Varianz der Werte als die beiden vorher beschriebenen Domänen und zwar zugunsten längerer Texte.306
Modifikationsanfälligkeit
Mit 53 der 740 primär emotionskommunizierenden Scritte wurden lediglich 7 % der Texte modifiziert. Diese Domäne grenzt sich bezüglich der Modifikationsanfälligkeit im Vergleich zu den Domänen POLITIK (26 %) und ULTRAS (49 %) deutlich ab. Kommt es doch zu einer Modifikation einer Scritta aus dem Bereich EXPRESSIVITÄT geschieht dies durch bis zu fünf weitere Hände.
Verwendung von bildgraphischen Zeichen
41 % der Scritte (entspricht 306 Texten) zeigen ein oder mehrere bildgraphischen Zeichen. Diese Domäne positioniert sich somit zwischen den politischen (hier werden bei 72 % bildgraphische Zeichen verwendet) und den ULTRAS-Scritte (23 %).
Sprachliche Zeichen
Nachfolgend werden die statistischen Ergebnisse und die prototypischen Werte für die Domäne EXPRESSIVITÄT für den Bereich der sprachlichen Zeichen veranschaulicht (Lexik allgemein und verwendete Eigennamen, auftretende Sprachen und dialektale Varianten der Sprachzeichen, Verwendung von Kürzungsverfahren, priorisierte Wortarten sowie typische Mehrworteinheiten).
Lexik
Mit insgesamt 648 erfassten Lemmata zeigt die Domäne EXPRESSIVITÄT eine ähnlich starke lexikalische Variation, wie die politische Domäne, die 709 Lemmata aufweist. Ein relativ geringer Teil (17 % oder 113 Lemmata) bilden dabei über die Hälfte (63 %) der konkret auftretenden Token. Ein Blick auf die Semantik der zehn häufigsten Worteinheiten mit einer Mindestfrequenz von 20 – amare, essere, sempre, avere, volere, più, amore, per, solo und fare – zeigen einen deutlichen Unterschied zu den beiden zuvor beschriebenen Domänen POLITIK und ULTRAS und deuten bereits die Beschaffenheit der verarbeiteten Emotionen an (das Lexem cazzo tritt 19 mal auf und liegt an elfter Stelle).
Eigennamen
Diese Domäne umfasst 392 und damit mehr Eigennamen, als die beiden großen Domänen POLITIK und ULTRAS. Dabei ist zu bedenken, dass sechs der zehn frequentesten Personenbezeichnungen über Kürzungsverfahren lediglich durch einen Buchstaben angegeben wurden und somit die potentielle Vielfalt bei ausgeschriebenen Namen noch höher liegt.307
Sprachen und Dialektale Varianten
Bei der Sprachverteilung zeigt sich das bereits gewohnte Bild der vorangegangenen Domänen und des Gesamtkorpus. Die Priorisierung der italienischen Sprache ist auch hier eindeutig, gefolgt von Englisch und Spanisch.
Obwohl diese Domäne einen geringeren Anteil am Gesamtkorpus einnimmt als die politische und die ULTRAS-Domäne, werden hier weitaus mehr Token in dialektaler Variante verwendet: 82 Lemmata wurden insg. 162-mal realisiert, wobei 52 % dieser Realisierungen von gerade einmal 20 % oder 16 Lemmata gebildet werden.
Auf den ersten Blick scheinen sich die Ergebnisse der verwendeten Kürzungsverfahren für diese Domäne deutlich abzuheben, da hier die graphematischen Kürzungen (bspw. x für per) den Akronymen klar den Rang ablaufen. Jedoch müssen hier die oben erwähnten Kürzungen im Bereich der Eigennamen mit einberechnet werden. Da bei der Erfassung von Kürzungen (v. a. bei Eigennamen) nur jene Token berücksichtigt wurden, deren Vollformen zumindest vermutet werden können und dies bei Kürzungen von Eigennamen nicht möglich ist – S kann z. B. für eine Vielzahl von männlichen und weiblichen Vornamen stehen – werden diese Kürzungen nicht in den Ergebnissen zu den verwendeten Verfahren angezeigt. Nimmt man die oben genannten 117 realisierten Initialbuchstaben hinzu, so steigt die Frequenz der (initial gekürzten) Akronyme auf 149 und nähert sich somit deutlich den 170 graphematischen Kürzungen an. Dennoch ist die dominante Position des letztgenannten Kürzungsverfahrens erkennbar und ein Spezifikum für die EXPRESSIVITÄT-Domäne. Ebenso auffällig ist die relativ geringe Varianz der gekürzten Lexeme: lediglich 21 verschiedene Vollformen stehen hinter den 170 aufgetretenen Kurzformen. Zu den acht häufigsten Kürzungsvarianten (Mindestfrequenz 5) zählt lediglich ein Akronym (TVB/T.V.B./TiViBi/usw. für ti voglio bene); die restlichen sieben Varianten repräsentieren ausschließlich graphematische Kürzungen. Diese machen 68 % der gesamten Kürzungsrealisierungen aus:
Vollform(en) |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Transkription |
e |
67 |
31% |
[+] |
per |
24 |
11% |
[x, X] |
è |
19 |
9% |
[=] |
sei |
13 |
6% |
[6] |
Ti Voglio Bene |
12 |
6% |
[T.V.B., TVB, T.V.B, TiViBi] |
più |
10 |
5% |
[+, +18, +16] |
non |
6 |
3% |
[NN, nn] |
viva |
5 |
2% |
[W, M] |
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Eigennamen und Nomen zählen auch innerhalb der Domäne EXPRESSIVITÄT zu den am häufigsten verwendeten Wortarten, wobei sich jedoch in Abgrenzung zu den beiden vorangegangenen Domänen POLITIK und ULTRAS eine Abnahmen der Anteile im Bereich der Eigennamen und Nomen zugunsten der weiteren Wortarten erkennen lässt. Besonders die (finiten) Verben und Klitika werden verstärkt verwendet.
Bezieht man die bildgraphischen Zeichen in die Statistik mit ein, so ergibt sich folgendes Bild. Interessanterweise positionieren sich die bildgraphischen Zeichen noch hinter den Verben.
Nachfolgend die Verteilung der Wortarten für Scritte mit den Tokenzahlen 1 bis 6:
n-Gramme
Nachfolgend werden die gesammelten 2-Wort-Kombinationen sowie die ungesammelten, d. h. konkret auftretenden, 2-/3-/4-Wort-Kombinationen angegeben.
Verteilung im Erhebungsgebiet
Die 740 emotionszentrierten Scritte sind an folgenden Standorten erfasst worden:
IK 16: Standorte der Domäne EXPRESSIVITÄT – Vollbildanzeige
6.4.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Farben
Im Bereich der Farbwahl ist für die Domäne EXPRESSIVITÄT besonders auffällig, dass Weiß die zweithäufigste Farbe ist, wie der nachstehenden Übersicht zu entnehmen ist. Mit 15 % hat sich der Anteil der weißen Farbe im Vergleich zu politischen und ULTRAS-Scritte fast verdreifacht.
Typographie
6.4.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Erstellungswerkzeuge
Die statistischen Ergebnisse der verwendeten Erstellungswerkzeuge innerhalb der emotionszentrierten Scritte hebt sich deutlich von den zwei weiteren großen Domänen POLITIK und ULTRAS ab. Weiterhin werden die Scritte vorzugsweise anhand von Spraydosen erstellt (59 %), jedoch liegt der Anteil der (Filz-) Stifte mit etwas über 36 % knapp 30 % über den Werten der politischen und ULTRAS-Scritte.
Träger(flächen)
Ebenso auffällig ist die Verteilung in Bezug auf die Trägerflächen der Scritte: interessanterweise wählen die Produzenten relativ häufig den Boden als Träger, was bei den POLITIK- und ULTRAS-Scritte keinesfalls der Fall ist.
6.4.4. Modifikationsroutinen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Mit gerade einmal 7 % (entspricht 53 von 740 Scritte) ist der Anteil der nachträglich modifizierten Hände relativ gering, v. a. im Vergleich zu den politischen (siehe DEFAULT) und ULTRAS- Scritte (siehe DEFAULT). Die statistische Ermittlung der Hände-Verteilung zeigt, dass sich die Modifikationen in erster Linie auf die zweite Hand konzentrieren. Nachträgliche Veränderungen oder sonstige graphische Reaktionen im Schriftbild geschehen ansonsten durch lediglich zwei bzw. fünf weitere Hände.
Hand |
Anzahl Scritte |
Anteil |
2 |
44 |
83.02 % |
3 |
8 |
15.09 % |
6 |
1 |
1.89 % |
53 |
Modifikationsweisen
In den insgesamt 53 modifizierten Scritte werden 255 Modifikationstypen eingesetzt, wobei fünf Modifikationstypen und -bewertungen 73 % der Modifikationsweisen ausmachen. Auffällig ist hier, dass der Typ KommentarATTval die Hälfte aller Modifikationsweisen ausmacht. Die Bewertungsarten sind dabei relativ gleichmäßig verteilt (zweimal NegationATTval, zweimal AffirmationATTval, einmal NeutralATTval; man vergleiche die Ergebnisse der Domänen POLITIK und ULTRAS, bei denen die Negation dominant ist).
Modifikationstypen |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Kommentar, Negation |
58 |
22.75 % |
Kommentar, Affirmation |
43 |
16.86 % |
Elision, Negation |
39 |
15.29 % |
Kommentar, Neutral |
29 |
11.37 % |
Addition, Affirmation |
18 |
7.06 % |
Addition, Neutral |
15 |
5.88 % |
Rasur, Negation |
12 |
4.71 % |
Elision, Neutral |
9 |
3.53 % |
Gesamtgraph-Rasur, Negation |
8 |
3.14 % |
Addition, Negation |
6 |
2.35 % |
Substitution, Neutral |
5 |
1.96 % |
Substitution, Negation |
5 |
1.96 % |
Rasur, Neutral |
5 |
1.96 % |
Erneuerung, Affirmation |
2 |
0.78 % |
Teilgraph-Rasur/-Elision, Negation |
1 |
0.39 % |
255 |
Auch für die Domäne EXPRESSIVITÄT soll gezeigt werden, welche Token und welche Wortarten am häufigsten und auf welche Weise modifiziert werden. Dazu werden die statistischen Auswertungen jeweils für Hand 1 und Alle Hände sowie gesammelt und ungesammelt wiedergegeben.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Obwohl bildgraphische Zeichen bei 41 % der EXPRESSIVITÄT-Scritte auftauchen und diese spezifischen Zeichen somit ein integraler Bestandteil des Prototyps ist, kommt es kaum zur Modifikation von bildgraphischen Zeichen: gerade einmal 7 (Hand 1) bzw. 16 (Alle Hände) von insgesamt 475 (Hand 1)/505 (Alle Hände)308 realisierten bildgraphischen Zeichen wurden nachträglich modifiziert. Dies entspricht 2 % bzw. 5 %, wodurch diese Werte für die Erfassung von typischen Routinen irrelevant werden. Ein Blick auf die Auswertung von Hand 1 zeigt zudem, dass es die Modifikationen von bildgraphischen Zeichen besonders auf politische Ideogramme zielen:
Token (modifiziert) |
Token (modifizierend) |
Hände |
Modifikationstypen |
POS2 |
Modifikationsrelationen |
Anzahl |
< < Herz > > |
~ ~ ~ |
[2, 1] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
2 |
< < Herz > > |
Lazio |
[2] |
Addition |
[NPR] |
Neutral |
1 |
< < Wolfsangel (rechts) > > |
< < Auskreuzen-Zeichen > > |
[2] |
Teilgraph-Rasur/-Elision |
[SIGN] |
Negation |
1 |
< < Hammer und Sichel (links) > > |
< < human_bodypart > > |
[2] |
Substitution |
[SIGN] |
Negation |
1 |
< < Hammer und Sichel (links) > > |
< < Stop-Zeichen > > |
[2] |
Substitution |
[SIGN] |
Negation |
1 |
< < human_bodypart > > |
< < human_bodypart > > |
[2] |
Addition |
[SIGN] |
Affirmation |
1 |
7 |
Ortsabhängigkeit
IK 17: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne EXPRESSIVITÄT – Vollbildanzeige
6.4.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Eine Interpretation der typischen Zeichenkonstruktionen ist v. a. im Vergleich zu den Ko-Domänen interessant. Für die Domäne EXPRESSIVITÄT zeigt sich folgende Verteilung der Zeicheninhalte und -typen:
Durch die hohe Frequenz von Logogrammen, zeigt sich ein deutlich differenziertes Bild zu den Zeichenkonstruktionen der Domänen POLITIK und ULTRAS, bei denen Logogramme gerade einmal 2 % bzw. knapp 5 % ausmachen.
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Interessanterweise treten nur relativ wenige Ikone für den Bereich Expressivität auf. Im Vergleich zur politischen (101 Ikone) und ULTRAS-Domäne (44 Ikone) ist es sogar nur ein Bruchteil der dort geltenden Werte.
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert. Analog zur Farbwahl für Token allgemein in dieser Domäne, ist Weiß die zweithäufigste Farbe.
Erstellungswerkzeuge
Abschließend werden die Frequenzen der Werkzeuge, die beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen zum Einsatz kamen, angegeben. Auffällig ist der oben bereits erwähnte, häufige Einsatz von (Filz-) Stiften.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Spraydose |
349 |
69.11% |
(Filz-) Stift |
123 |
24.36% |
Kugelschreiber |
18 |
3.56% |
(Wand-) Farbe |
9 |
1.78% |
Stencil |
5 |
0.99% |
Druck |
1 |
0.20% |
505 |
Heatmaps
Die Heatmaps zur Positionierung von bildgraphischen Zeichen im Scrittabild zeigen ebenso eindeutige, wie (intuitiv) zu erwartende Ergebnisse. So sind die Herzen über den gesamten visuellen Bereich der Scritte verteilt und es lässt sich maximal eine leichte Priorisierung von mitte-links und rechter Positionierung erkennen. Eine eindeutige Zuordnung, wie bei den Domänen POLITIK und ULTRAS zu erkennen war, ist hier keinesfalls möglich. Die Zeichen <<+>> und <<&>> werden zentral, das Zeichen <<=>> eher rechtsseitig angeordnet.309
Zeichentyp und Zeicheninhalt (Frequenz) |
Ideogramm, Logogramm (eine phonet. Entsprechung), Ideogramm u. Grundform (gestalterisch/gliedernd) <<Herz>> (268) |
Logogramm (> eine phonet. Entsprechung) |
Logogramm (eine phonet. Entsprechung) |
Logogramm (> eine phonet. Entsprechung) <<=>> (18) |
6.4.6. Subdomänen – Domäne EXPRESSIVITÄT
Wie zu Beginn des Kapitels der prototypischen Daten zur EXPRESSIVITÄT gezeigt, gibt es zu dieser Domäne eine Vielzahl an Subdomänen, die sich auf die Expressivität beziehen (siehe Tabelle 36). Bei Digitalisierung und Annotation der Scritte zeigte sich, dass die Texte bestimmte Formen von Emotionen und Gefühlen ausdrücken (sollen) und diese sich gruppieren lassen. Es konnten schließlich folgende Thematiken ausgemacht werden: Liebe310, positive Affektivität311, Beleidigungen, Vulgäres und Provokationen sowie Humor, Poesie312 und Trauer. Die beiden Gruppen LIEBE und POSITIVE AFFEKTIVITÄT313 sind dabei auf einer weiteren, feinkörnigeren Ebene ausdifferenziert, die sich auf die Art und Weise der Botschaftsübermittlung bezieht. So gehören zur Gruppe LIEBE direkte314, bindende315 und poetische316 Textformen sowie Texte, die Zuneigung ausdrücken, dabei jedoch das Element der Liebe mehr oder weniger deutlich veräußern.317 Zur Gruppe AFFEKTIVITÄT gehören neben poetischen, bindenden und direkten außerdem indirekte Texte, bei denen durch Kosenamen die Zuneigung zu Personen ausgedrückt wird, gleichzeitig aber der Ko-Text nicht auf diese positiven Gefühle hinweist. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass trotz aller Bemühungen um eine möglichst objektive Zuordnung, letztlich alle Texte interpretativ von einer Einzelperson zugeordnet wurden, wodurch sich bei dem ein oder anderen Text unterschiedliche Gruppierungen ergeben können, abhängig von der Lesart der Rezipienten. Aus diesem Grund und da diese feinkörnige Differenzierung zunehmend unübersichtlich wird, wird der Fokus im Bereich der expressiven Subdomänen auf zwei diametral angesetzten Polen liegen: positive und negative Expressivität.318 Die zu den Polen zählenden Subdomänen sind in Tabelle 42 zusammengefasst. Da Modifikationen für beide Subdomänen (POSITIV und NEGATIV) keine (proto)typischen Merkmale sind, da sie nur zu 5 % bzw. 14 % auftreten, werden keine gesonderten Auswertungen zu den Modifikationsroutinen dieser Subdomänen gegeben. Es sei an dieser Stelle auf die Modifikationsroutinen der Domäne EXPRESSIVITÄT allgemein verwiesen (siehe DEFAULT).
Subdomänenverbund |
Subdomänen |
Positiv |
– Affektiv319 – Affektiv bindend – Liebe320 – Liebe bindend – Expressivität positiv321 |
Negativ |
– Beleidigung/Beschimpfung – Expressivität negativ322 |
Bevor ich zur Präsentation der Ergebnisse dieser positiven und negativen Expressivität-Subdomänen komme, sei auf die Texte hingewiesen, die bei dieser disparaten Gegenüberstellung nicht mitberücksichtigt werden. Dazu gehört die Subdomäne Humor (43 Scritte), poetische Texte (18 Scritte), Trauertexte (3 Scritte), ein Text mit Bezug auf Liebeskummer sowie die Restgruppe Expressivität allgemein (8 Scritte), zu welcher Scritte zählen, die zwar eindeutig Emotionen ausdrücken, gleichzeitig aber unter keiner der oben genannten Gruppen fallen. Da es sich bei diesen Subdomänen um verhältnismäßig wenige Texte handelt, kann nicht weiter auf sie eingegangen werden.
Wie bei den antagonistischen Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS (siehe DEFAULT), geschieht nachfolgend die Darstellung der statistischen Ergebnisse zu den Subdomänen(gruppierungen) EXPRESSIVITÄT POSITIV und NEGATIV in verkürzter, tabellarischer Form.
6.4.6.1. EXPRESSIVITÄT POSITIV
536 von insgesamt 801323 für die Domäne EXPRESSIVITÄT vergebenen Subdomänen sind der Gruppierung POSITIV zugehörig. Dies entspricht 67 % der vergebenen Subdomänen; der Anteil der EXPRESSIVITÄT-Scritte, welcher dieser Subdomäne zugeordnet werden kann, liegt mit 69 % noch etwas höher. Innerhalb der positiven Gruppe dominiert die Subdomäne LIEBE und ihren Unterkategorien (siehe oben) mit 59.70 %, gefolgt von der Subdomäne AFFEKTIVITÄT mit 29.10 % und schließlich die Gruppe EXPRESSVITÄT POSITIV mit 10.26 %. Vier weitere Subdomänen wurden mit ʻ?’ zu EXPRESSVITÄT POSITIV (1-mal), LIEBE (3-mal) und LIEBE DIREKT (1-mal) zugeordnet.
Attributs-gewichtung |
Attributs- |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
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Zentral |
Tokenzahl |
2 bis 8
|
74 % der 509 betroffenen Scritte weisen Texte mit zwei bis acht Token auf. Wobei 3-Token Scritte mit knapp 17 % am häufigsten auftreten. |
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Modifikations- |
5 % |
Scritte der Subdomäne POSITIV werden so gut wie nicht modifiziert. |
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|
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
52 % |
Etwas über die Hälfte der Texte zeigen bildgraphische Zeichen. |
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Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
amare, essere, sempre, volere, amore, per, più, solo, avere, vita, stare, ti voglio bene, bene, vivere, bello, augurio, troppo, mancare |
47 % der insgesamt 398 auftretenden Lemmata werden von gerade einmal 18 Einheiten (siehe links) gebildet, wovon 27 % allein auf die drei Lexeme amare (15 %!), essere (9 %) und sempre (3 %) entfallen. |
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Lexik (Hand 1, nur Eigennamen) |
(Siehe Ergebnisse verwendete Eigennamen der Domäne EXPRESSIVITÄT) |
Auffällig ist der häufige Einsatz von Initialen und dass fast ausschliesslich Vornamen verwendet werden. Da die Ergebnisse jenen der Domäne EXPRESSIVITÄT stark ähneln, sei an dieser Stelle auf oben stehende Tabelle verwiesen. |
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Sprache |
95 % Italienisch |
Produzenten beschränken sich fast ausschliesslich auf die italienische und englische (4 %) Sprache. |
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Dialektale |
ti (te), meglio (mejo), di (de), non (nun), siamo (semo), il (er), del (der), mortacci (cci), tuoi (tua) |
54 mal tauchen dialektale Varianten von insgesamt 36 Lemmata auf, wobei die Hälfte der Realisierungen von den linksstehenden Einheiten stammen. |
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Kürzungs-verfahren |
Graphematische Kürzungen |
Graphematische Kürzungen der Art + für e oder x für per sind für die Subdomäne typisch, wenn es zum Einsatz von Kürzungsverfahren kommt. Auffällig ist ausserdem die Akronymbildung T.V.B. für ti voglio bene in den verschiedensten Ausprägungen (TVB, TiViBi, T.V.TR.B, TVTr.b usw.). |
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Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Eigennamen, (finite) Verben, Nomen, Klitika, Satzzeichen |
Linksstehende fünf Wortarten bilden 52 % der verwendeten POS, wobei Eigennamen und (finite) Verben mit 17 % respektive 12 % die Liste anführen. |
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Wortarten bei Tokenzahl 2 bis 8 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Eigennamen dominieren mit 13-27 % bei den Scritte mit 2 bis 8 Token. |
Auffällig ist zunächst die deutliche Dominanz der Eigennamen für alle Token-pro-Scritta Einheiten. Bei 2-Token-Scritte folgen den Eigennamen (22 %) die bildgraphischen Zeichen (17 %) und Nomen (12 %) sowie Interjektionen (12 %; z. B. T.V.B.). Bei einer Tokenzahl 3 bis 7 stehen die (finiten) Verben an zweiter Stelle (mit 11-19 %). Klitika (ti, mi, si) spielen v. a. bei 3-, 4- und 5-Token-Texten eine nicht unerhebliche Rolle (8-16 %). |
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n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Eine Interpretation der n-Gramme kann erst in DEFAULT erfolgen. Es jedoch bereits darauf hingewiesen, dass sich die feinkörnigen Subdomänen (LIEBE DIREKT, AFFEKTIVITÄT BINDEND usw.) deutlich in den n-Grammen zeigen. So stehen Verbindungen wie [CLI VER:fin] für ti amo oder [NPR CON NPR] für bspw. Marco + Sofia (per sempre). |
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Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
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Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Weiß, Rot, Blau |
Schwarz ist mit 56 % auch in dieser Subdomäne die am häufigsten verwendete Farbe. Im Unterschied zu den bisherigen Ergebnissen der (Sub-) Domänen POLITIK und ULTRAS ist die zweithäufigste Farbe Weiß (17 %). |
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Typographie |
Elaboriert |
64 % der Texte lassen eine elaborierte Typographie erkennen. |
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Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose, (Filz-) Stift |
Typischerweise werden die Scritte anhand von Spraydosen (71 %) oder (Filz-) Stiften (25 %!) erstellt. Der verhältnismäßig häufige Einsatz des letztgenannten Werkzeuges ist dabei besonders auffällig. |
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|
Trägerfläche |
Hauswand, Freistehende Wand, Boden |
Neben Hauswänden (39 %) und freistehenden Wänden (32 %), ist das Erstellen von Scritte auf dem Boden mit 9 % ein Spezifikum für diese Subdomäne. |
Karte der geographischen Standpunkte der EXPRESSIVITÄT POSITIV-Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 18: Standorte der Subdomäne EXPRESSIVITÄT POSITIV – Vollbildanzeige
6.4.6.2. EXPRESSIVITÄT NEGATIV
191 von 801 vergebenen Subdomänen innerhalb der EXPRESSIVITÄT-Domäne gehören dem Subdomänenverbund EXPRESSIVITÄT NEGATIV an. Damit sind 24 % der Domäne den Subdomänen BESCHIMPFUNG (12.11 %), VULGÄRES (5.24 %), PROVOTKATION (2.75 %) oder der Restgruppe EXPRESSIVITÄT NEGATIV (3.50 %) zugehörig.324 Gut ein Viertel (25.54 %) der Domänen-Texte fokussieren die Botschaft auf den Ausdruck negativer Gefühle, womit der Anteil weit hinter den positiven Texten zurückliegt (hier waren es zum Vergleich 69 % der Scritte). Nachfolgend die tabellarische Übersicht der prototypischen Werte dieser Subdomäne bzw. dieses Subdomänenkonglomerats.
Attributs-gewichtung |
Attributs- |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
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Zentral |
Tokenzahl |
1 bis 6
|
81 % der 189 betroffenen Scritte zeigen verkürzte Texte von einem bis sechs Token. 2-, 3- und 4-Token-Texte halten hier mit 24 %, 24 % und 13 % die größten Anteile, was im Vergleich zu den EXPRESSIVITÄT POSITIV Scritte insgesamt auf kürzere Texte schließen lässt. |
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Modifikations- |
14 % |
Bei 14-prozentiger Wahrscheinlichkeit einer Modifikation kann nicht von einem prototypischen Element ausgegangen werden. Dennoch ist zu beachten, dass der Wert fast um das dreifache höher liegt, als bei den positiven Texten der Expressivität. |
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Verwendung bildgraphischer Zeichen |
19 % |
Nur noch 19 % (und damit nicht einmal die Hälfte im Vergleich zu den positiven Scritte) weisen bildgraphische Zeichen auf. |
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Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
Cazzo, fare, essere, merda, infame, dio, porco, stronzo, boia, avere, troia, fregna, stare, più, amare, viva, rompere, coglione, frocio, puttana, chiamare, canale, verme, pisellino, scopare, dubitare, tiro, cacare |
Die Verteilung der insgesamt 233 verwendeten Lemmata fällt um einiges gestreuter aus, als dies bei der positiven Subdomäne der Fall ist: die beiden häufigsten Worteinheiten (cazzo, fare) bilden lediglich jeweils 4 % der Gesamtrealisierungen.325 Vergleicht man die 18 frequentesten Worteinheiten der positiven Texte mit den 28 frequentesten der negativen Subdomäne (siehe links), so sind die Unterschiede der verwendeten Wortfelder eindeutig. Lediglich drei Lemmata (amare326 sowie stare und più mit jeweils 1 % Anteil) sind in beiden Listen zu finden. |
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Lexik (Hand 1, nur Eigennamen) |
(Siehe Ergebnisse verwendete Eigennamen der Domäne EXPRESSIVITÄT) |
Wie bei der positiven Subdomäne, sind es hier Vornamen, welche den Großteil der Eigennamen bilden. Allerdings erscheinen zum einen mehr Nachnamen in der Liste (bspw. Spacarotella oder Gabrielli), zum anderen werden die Vornamen typischerweise ausgeschrieben: lediglich ein Name erscheint unter den 45 frequentesten Eigennamen als Initial S/S.. |
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Sprache |
93 % Italienisch |
Ist die italienische Sprache auch hier weiter deutlich die dominanteste, so verschieben sich die Anteile leicht zugunsten der englischen (4 %) und französischen (1 %) Sprache. |
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Dialektale |
ti (te), boia, il (er), di (de), coglione (cojone), ci (ce), questa (‘sta), la (‘a), questi (‘sti), in (‘n) |
Obwohl die negative Subdomäne weitaus weniger Scritte umfasst, als die positive, treten dialektale Varianten häufiger auf: 43 Lemmata wurden 78-mal realisiert, wovon die zehn linksstehenden Einheiten 53 % der Realisierungen ausmachen. |
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Kürzungs- |
Graphematische Kürzungen |
Graphematische Kürzungen der Art 6 für sei oder w für viva sind für die Subdomäne typisch, wenn es zum Einsatz von Kürzungsverfahren kommt. Insgesamt werden Kürzungsverfahren jedoch äußerst selten eingesetzt (gerade einmal 19 Token erscheinen in kurzer Form).327 |
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Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, Satzzeichen, Artikel |
Linksstehende fünf Wortarten bilden 56 % der verwendeten POS. Nomen wie guardia, merda, coglione oder coglione bilden mit 23 % deutlich die frequentesten Wortarten. |
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Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Nomen dominieren mit 50-13 % bei den Scritte mit 1 bis 6 Token. |
Mit zunehmender Tokenzahl verringert sich der typisch hohe Anteil der Nomen. |
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n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten) |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Eine Interpretation der n-Gramme kann erst in DEFAULT erfolgen. Weniger deutlich lassen sich die Subdomänen (Provokation, Beleidigung, Vulgäres usw.) anhand der n-Gramme ablesen. Erst bei der Betrachtung der konkret realisierten Wortverbindungen werden die idiomatischen Wendungen der Art a cacare il (cazzo) oder e ‘sto cazzo ? erkennbar. |
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Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
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Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Weiß, Blau, Rot |
Schwarz ist mit 71 % noch dominanter, als in der positiven Subdomäne. Auffällig ist, dass auch bei den negativen Scritte Weiß mit 13 % an zweiter Stelle steht. Dies zeigt einerseits eine Gemeinsamkeit mit der positiven Ko-Subdomäne, andererseits setzt sich diese Subdomäne damit deutlich von den (Sub-) Domänen der POLITIK und ULTRAS ab. |
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Typographie |
Elaboriert |
Analog zur positiven Subdomäne lassen 64 % der Texte eine elaborierte Typographie erkennen. |
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Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose, (Filz-) Stift |
Der Anteil des verwendeten Werkzeuges (Filz-) Stift steigt bei dieser Domäne sogar bis auf 41 % und verringert somit den nach wie vor typischen Einsatz er Spraydose (54 %) erheblich. |
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Trägerfläche |
Freistehende Wand, Hauswand, U-Bahnstation |
Freistehende (37 %) und Hauswände (29 %) sind nach vor die primären Erstellungsflächen. Allerdings wird der Boden als Trägerfläche von den Produzenten kaum noch gewählt (1 %). Dafür werden zu 8 % negative EXPRESSIVITÄT-Scritte an und um U-Bahnstationen erstellt. |
Karte der geographischen Standpunkte der EXPRESSIVITÄT NEGATIV-Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 19: Standorte der Subdomäne EXPRESSIVITÄT NEGATIV – Vollbildanzeige
6.4.6.3. Typische Zeichenkonstruktionen der Subdomänen EXPRESSIVITÄT POSITIV und NEGATIV
Etwas über die Hälfte aller Scritte der positiven Expressivität (52 %) weisen bildgraphische Zeichen auf. Demgegenüber sind es bei den negativen Texten nur 19 %. Welche typischen Merkmale beide Subdomänen zeigen, sind nachfolgend zusammengefasst.
Betrifft |
EXPRESSIVITÄT POSITIV |
EXPRESSIVITÄT NEGATIV |
Zeicheninhalte |
83 % (!) der realisierten bildgraphischen Zeichen repräsentieren nur vier verschiedene Zeicheninhalte: |
Weitaus weniger eindeutig sind die Ergebnisse der negativen Subdomäne. Nicht nur wurden weniger bildgraphische Zeichen realisiert, sondern die Verteilung zeigt eine höhere Varianz. So werden 55 % der Zeichen durch folgende fünf Inhalte dargestellt: |
Zeichentypen |
Ideogramme ist mit 57 % erwartungsgemäß – man vergleiche die typischen Werte der übergeordneten Domäne EXPRESSIVITÄT (siehe DEFAULT) – der typischste Zeichentyp, gefolgt von Logogrammen mit insgesamt 30 %. |
Die höhere Diversität der Zeicheninhalte und die Unterschiede zur positiven Subdomäne spiegeln sich auch in den Werten der Zeichentypen wider. Ideogramme sind mit 40 % zwar nach wie vor die typischste Zeichenart, aber der Anteil verringert sich deutlich und auch sind es nicht mehr die Logogramme (13 %) die an zweiter Stelle stehen, sondern die Ikone mit 24 %. |
Farbwahl |
91 % der Zeichen wurden in Schwarz (56 %), Weiß (13 %), Rot (11 %), oder Blau (11 %) erstellt. |
Bei gleichbleibender Farbwahl verschieben sich die Anteile deutlich zugunsten der Farbe Schwarz, die hier 82 % der Zeichen stellt, gefolgt mit Rot, Weiß und Blau mit jeweils 5 %. Somit werden 98 % der Zeichen anhand dieser vier Farben erstellt. |
Erstellungswerkzeuge |
Mit 70 % bleibt die Spraydose deutlich das typischste Werkzeug, gefolgt von (Filz-) Stiften mit 23 %. |
Der Anteil der (Filz-) Stifte steigt im Vergleich zur positiven Subdomäne auf 38 %, steht dabei jedoch nach wie vor hinter der Spraydose mit 60 %. |
Heatmaps |
Eine gesonderte Auswertung der Positionierung von bildgraphischen Zeichen im Textbild ist nicht erforderlich, da die Ergebnisse aus den in Kapitel gezeigten Resultaten abgeleitet werden können. |
Da insgesamt nur 55 bildgraphische Zeichen in dieser Subdomäne auftreten und die höchste Frequenz bei 9 liegt, ist eine Auswertung der Positionierung nicht sinnvoll. |
6.5. Genre-Prototyp der Domäne DIVERSES
Wie die Bezeichnung bereits vermuten lässt, wurden unter der Domäne DIVERSES all jene Texte gesammelt, die entweder Frames evozieren, die zu unspezifisch, um diese terminologisch festzuhalten, oder deren Token (im Sinne von Frame-Hinweisen) zu selten auftreten, um eine gesonderte Domäne zu bilden. Es handelt sich demnach um eine Art Restgruppe. Wie zu sehen sein wird, wird diese Domäne v. a. von zwei Subdomänen (DIVERSES und SUBKULTUR) gebildet, welche in einem eigenen Kapitel untersucht werden.
Mit 740 Scritte ist die vierte Domäne DIVERSES ebenso groß wie die eben beschriebene Domäne EXPRESSIVITÄT, umfasst 20 % der vergebenen Domänen und 22 % des Gesamtkorpus. Da die evozierten Frames, die ja als Fixpunkte bei der Zuordnung der Texte zu Domänen dienen, zu unspezifisch sind oder schlichtweg zu selten im Korpus erscheinen, wurde keine der Scritte mit ʻ?’ markiert.328 180 Scritte wurden neben DIVERSES noch weitere Domänen zugeordnet, wodurch annähernd ein Viertel (24.32 %) der Scritte unscharfe Grenzen aufweisen. Welche Nachbardomänen wie häufig mit der Domäne DIVERSES in Verbindung stehen, kann nachstehender Tabelle 47 entnommen werden.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Expressivität |
78 |
41 % |
Politik |
48 |
26 % |
?Politik |
22 |
12 % |
Ultras |
16 |
9 % |
Religion |
14 |
7 % |
?Ultras |
4 |
2 % |
?Expressivität |
2 |
1 % |
?Feminismus |
2 |
1 % |
Feminismus |
1 |
1 % |
?Religion |
1 |
1 % |
|
188 |
|
Wie erkennbar ist, stehen 83 % der mehrfach belegten DIVERSES-Scritte in Verbindung zu den Domänen EXPRESSIVITÄT, POLTIK, ULTRAS oder RELIGION. Stellt man die oben gezeigten Daten in Relation zu den insgesamt 928 vergebenen Domänen der 740 DIVERSES-Scritte, haben diese vier Nachbarkategorien 17 % Anteil an den Gesamtdomänen.
Die Texte wurden weiterhin mit insgesamt 7 Subdomänen markiert, die in untenstehender Tabelle 48 aufgelistet sind.
Subdomänen |
Frequenz |
Anteil |
Diverses |
462 |
62 % |
Subkultur |
198 |
26 % |
Werte |
47 |
6 % |
Gruss |
29 |
4 % |
Poesie |
5 |
1 % |
Sport |
5 |
1 % |
Natur |
4 |
1 % |
750 |
Die rekurrente Subdomänenbezeichnung DIVERSES stellt letztlich tatsächlich eine Sammelgruppe dar, welche Texte umfasst, deren Zuordnung aus oben genannten Gründen nicht weiter möglich oder sinnvoll war. Die nächstgrößte Gruppe SUBKULTUR wird in DEFAULT näher beschrieben. Mit WERTE markierte Scritte zeigen Texte, die bspw. soziale oder ökologische Werte (aus Sicht der Produzenten) zu verschriftlichen scheinen. So finden sich hier Texte, die Aussagen zu den Menschenrechten zeigen oder soziale Missstände anprangern. Terminologisch bereits angedeutet, visualisieren Scritte der Subdomäne GRUSS Kurztexte mit Grußformeln, meist ohne spezielle Anrede von Personen.329 Die fünf Texte der Subdomäne POESIE zeigen Gedichte, SPORT-Texte schreiben über Sportarten (meist Fußball, ohne jedoch explizit auf Ultras zu verweisen) und NATUR übermittelt Botschaften zum Umweltschutz.330 Da die fünf letztgenannten Subdomänen verhältnismäßig wenige Texte aufweisen, wird eine Auswertung dieser Subdomänen nicht stattfinden.331
6.5.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne DIVERSES
Die zentralen Attributsklassen aus den Bereichen der Tokenzahl pro Scritta, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung von bildgraphischen und sprachlichen Zeichen und die Standorte der Scritte im Erhebungsgebiet zeigen prototypische Werte wie folgt.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1):
79 % der Texte umfassen sechs oder weniger Token, wobei 2-Token-Texte allein bereits 18 % stellen, gefolgt von 1- und 3-Token-Texten mit jeweils 16 %. Prototypisch für diese Domäne sind also verkürzte Texte.
Modifikationsanfälligkeit
Lediglich 52 von 740 Scritte wurden nachträglich durch bis zu drei weitere Hände modifiziert. Somit liegt die Anfälligkeit bei gerade einmal 7 %, wodurch Modifikationen kein prototypisches Element dieser Domäne ist.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Etwas anders verhält es sich bei der Verwendung nicht-sprachlicher Zeichen: knapp ein Viertel (genau 23.38 %) aller Texte weisen bildgraphische Zeichen auf. Somit ähneln die Texte dieser Domäne jenen der ULTRAS-Scritte.
Sprachliche Zeichen
Die zur Klasse der sprachlichen Zeichen gehörenden Attribute der Lexik, der Eigennamen, der verwendeten Sprachen und dialektalen Varianten, der eingesetzten Kürzungsverfahren, frequentesten Wortarten (POS) und den typischen Mehrworteinheiten (n-Grammen) weisen nach der statistischen Auswertung folgende prototypischen Werte auf.
Lexik
Die Domäne DIVERSES beinhaltet mit 786 erfassten Lemmata semantischer Dichte die bisher breiteste lexikalische Palette. Dies ist nur einleuchtend, da diese Domäne eben weniger spezifische Frames beinhaltet und die Themenvielfalt dementsprechend weiter gestreut ist. 134 Lemmata bilden dabei 51 % der gesamten Lemmata Menge. Verglichen mit den bisher beschriebenen Domänen zeigt sich also eine geringere Fixierung auf einen Kernwortschatz bei gleichzeitig hoher Variation der Wortfelder. Diese Beschaffenheit ist auch in der nachstehenden Übersicht reflektiert: Neben den beiden frequenten Einheiten ACAB (all cops are bastards) und ciao, die auf die Subdomänen SUBKULTUR und GRUSS verweisen, lassen sich ein Vielzahl an Wortfeldern ausmachen.
Eigennamen
279 Eigennamen wurden erfasst, wodurch sich die Domäne DIVERSES knapp hinter der politischen Domäne an dritter Stelle positioniert.332 Ein Blick auf die Übersicht der Eigennamen mit einer Mindestfrequenz von 3 zeigt die Themenvielfalt der Domäne. Neben Bezeichnungen von Stadtteilen (Tufello, Serpentara) und Städten bzw. Regionen (Roma, Lazio; hier übrigens nicht zwangsweise auf die Fußballvereine bezogen), erscheinen die Namen von lokal mehr oder weniger bekannter Personen (Giacinto, Liboni oder Gabriele), Pseudonyme (Inoni, Partizan) usw.
Sprachen und Dialektale Varianten
Auch in Bezug auf die Sprachwahl lässt sich eine höhere Mannigfaltigkeit feststellen. Die Domäne DIVERSES stellt die erste bisher betrachtete Domäne dar, bei welcher die italienische Sprache einen Anteil von weniger als 90 % innehält. Tatsächlich sind es ʻnur’ 79 %, gefolgt von Englisch mit 16 %.
78 Lexeme wurden 159 in dialektaler Variante verschriftlicht. Verglichen an der Domänengröße und in Bezug auf die anderen Domänen ist dies die zweithöchste Frequenz.
Kürzungsverfahren
128 der 740 DIVERSES-Scritte beinhalten Kürzungen (dies entspricht 17 %). Insgesamt treten 163 gekürzte Formen (aus allen Händen) auf, wobei initial gekürzte Akronyme der häufigste Kürzungstyp ist. Allerdings steigt der Anteil der an zweiter Stelle stehenden graphematischen Kürzungen im Vergleich zu den Domänen POLITIK und ULTRAS. Eine geringere Fixierung und damit weniger eindeutig typische Werte ist auch in dieser Attributsklasse erkennbar.
Die Übersicht zu den frequentesten Kürzungsvarianten dagegen zeigt eine deutliche Konzentration auf einige wenige Vollformen. Deutlich dominant ist mit 45 % Anteil demnach die Einheit all cops are bastards in den verschiedensten Kürzungsvarianten (bspw. ACAB, 1312, I.II.I.II oder AKAB). Zusammen mit weiteren sieben Einheiten stellt diese subkulturelle Kürzungsform etwas über 70 % der gesamten Kürzungen.
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Die Ergebnisse zu den frequentesten Wortarten nähern sich jenen der Domäne EXPRESSIVITÄT an. Im Vergleich zu den Domänen POLITIK und ULTRAS ist der Anteil der Nomen (18 %) und Eigennamen (10 %) weitaus geringer und die Anteile verteilen sich gleichmäßiger auf die weiteren Wortarten. Dies entspricht als ganz der Natur einer höheren Diversität.
Berücksichtigt man die bildgraphischen Zeichen bei der Auswertung, ergibt sich eine noch geringere Fokussierung auf einzelene/wenige Wortarten, da der acht-prozentige Anteil bildgraphischer Zeichen die übrigen Anteile reduziert.
n-Gramme
Nachstehende Charts zeigen die gesammelten Bi-Gramme sowie die Ergebnisse der ungesammelten 2-, 3- und 4-Wort-Kombinationen.
Verteilung im Erhebungsgebiet
Folgende Standorte zeigen eine der DIVERSES-Scritte:
IK 20: Standorte der Domäne DIVERSES – Vollbildanzeige
6.5.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne DIVERSES
Farben
Die gesteigerte Distribution der Werte setzt sich ebenfalls in den sekundären Attributsklassen fort, wie anhand des auf erstmals unter 60 % gesunkenen Anteils der Farbe Schwarz und der gleichmäßigen Abnahme der anderen Farbwerte erkennbar ist. Interessanterweise steht die Farbe Weiß an zweiter Stelle, wie dies auch bei der Domäne EXPRESSIVITÄT der Fall war.
Typographie
6.5.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne DIVERSES
Erstellungswerkzeuge
Die relativ hohen Anteilswerte des Werkzeuges (Filz-) StiftATTval (an zweiter Stelle hinter der durchweg dominanten Spraydose) zeigen starke Gemeinsamkeiten mit der EXPRESSIVITÄT-Domäne bei gleichzeitiger deutlicher Abgrenzung gegenüber der politischen und ULTRAS-Domäne.
Träger(flächen)
Zum ersten Mal sind es freistehende Wände, welche als primäres Trägerobjekt seitens der Produzenten gewählt werden, wie sich aus der nachstehenden Übersicht ablesen lässt. Im Übrigen spielt der Strassenbelag (Boden) als Trägerfläche eine verschwindet geringe Rolle, was in deutlichem Kontrast zur sonst so ähnlichen Domäne EXPRESSIVITÄT steht.
6.5.4. Modifikationsroutinen – Domäne DIVERSES
Obwohl bei einer Modifikationsanfälligkeit von nicht mehr als 7 % nur bedingt von musterhaften Routinen die Rede sein kann, werden der Vollständigkeit halber die Daten der Textänderungen und -reaktionen nachträglich zusammengefasst. Mit 52 modifizierten Scritte liegt diese Domäne noch hinter der Domäne EXPRESSIVITÄT, die immerhin 53 solcher Texte aufweist. In Tabelle 49 ist ersichtlich, dass die Modifikationen primär von einer weiteren Hand durchgeführt werden.
Hand | Anzahl Scritte | Anteil |
2 | 45 | 87 % |
3 | 4 | 8 % |
4 | 3 | 6 % |
52 |
Modifikationsweisen
182 Token wurden in den 52 Scritte modifiziert. Die Übersicht zu den Modifikationstypen und -bewertungen (Tabelle 50) zeigt, dass die Verteilung gleichmässiger ist, als dies bei den anderen, bisher behandelten Domänen der Fall ist. Verglichen mit der emotionszentrierten Domäne (DEFAULT), die ähnlich viele modifizierte Scritte aufweist, fallen die Werte jedoch etwas negativer aus: drei der fünf frequentesten Modifikationstypen, die zusammen 66 % der Modifikationen ausmachen, zeigen eine negative Bewertung.
Modifikationstypen | Frequenz (Token) | Anteil |
Elision, Negation |
31 |
17 % |
Kommentar, Affirmation |
30 |
16 % |
Addition, Neutral |
25 |
14 % |
Kommentar, Negation |
21 |
12 % |
Rasur, Negation |
13 |
7 % |
Elision, Neutral |
11 |
6 % |
Substitution, Neutral |
10 |
5 % |
Addition, Affirmation |
10 |
5 % |
Addition, Negation |
9 |
5 % |
Kommentar, Neutral |
9 |
5 % |
Gesamtgraph-Rasur, Negation |
4 |
2 % |
Substitution, Negation |
3 |
2 % |
Rasur, Neutral |
3 |
2 % |
Erneuerung, Affirmation |
2 |
1 % |
Gesamtgraph-Rasur, Neutral |
1 |
1 % |
182 |
Nachfolgend werden die Modifikationsweisen in Hinsicht auf die Token und POS aus Hand 1 sowie allen Händen in gesammelten und ungesammelten Übersichten gezeigt.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Modifikation von bildgraphischen Zeichen
Von 379 (Hand 1) bzw. 404 (Alle Hände) bildgraphischen Zeichen wurden gerade einmal 9 bzw. 20 Zeichen modifiziert. Wie dies bereits bei der EXPRESSIVITÄT-Domäne der Fall ist, kann auch hier nicht von (proto)typischen Modifikationsroutinen ausgegangen werden. Die Übersichten (Tabelle 51 und Tabelle 52) zeigen, dass es sich bis auf wenige Ausnahmen um Modifikationen von Zeichen mit politischem Hintergrund handelt.
Token (modifiziert) | POS | Token (modifizierend) | Hände | Modifikationstypen | POS (modifizierend) | Modifikationsrelationen | Anzahl |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] | [SIGN] | [xxx] | [2] |
Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] | [SIGN] | [~ ~ ~] | [2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[e] | [CON] | [~ ~ ~] | [2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Leggiscomodo (Gruppe) > >] | [SIGN] | [< < Herz > >, amare, tu] | [2] |
Addition |
[SIGN, VER:fin, PRO:pers] |
Neutral |
1 |
[< < Leggiscomodo (Gruppe) > >] | [SIGN] | [oggetto, uno, essere, lui, per, †††] | [2] |
Addition |
[NOUN, ART, VER:fin, ADV, NOCAT] |
Neutral |
1 |
[< < Fünfzackiger Stern (links) > >] | [SIGN] | [< < Dollar > >] | [2] |
Substitution |
[SIGN] |
Neutral |
1 |
[< < Hammer und Sichel (links) > >] | [SIGN] | [< < Dollar > >] | [2] |
Substitution |
[SIGN] |
Neutral |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] | [SIGN] | [< < Anarchie (links) > >] | [2] |
Substitution |
[SIGN] |
Negation |
1 |
[< < SS (Schutzstaffel; rechts) > >] | [SIGN] | [xxx] | [2] |
Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
Token (modifiziert) |
POS |
Token (modifizierend) |
Hände |
Modifikationstypen |
POS (modifizierend) |
Modifikationsrelationen |
Anzahl |
< < Keltisches Kreuz (rechts) > > |
[SIGN] |
[xxx, ~ ~ ~, < < Anarchie (links) > >] |
[2] |
Rasur, Elision, Substitution |
[MODS, SIGN] |
Negation |
3 |
< < Herz > > |
[SIGN] |
[< < Smiley > >, amo, < < Hammer und Sichel (links) > >] |
[2] |
Kommentar, Addition |
[SIGN, VER:fin] |
Affirmation, Neutral |
3 |
< < Leggiscomodo (Gruppe) > > |
[SIGN] |
[< < Herz > >, amo, ti, oggetto, 1, 6, lui, x, †††] |
[2] |
Addition |
[SIGN, VER:fin, PRO:pers, NOUN, ART, ADV, NOCAT] |
Neutral |
2 |
< < Hammer und Sichel (links) > > |
[SIGN] |
[< < Herz > >, < < Dollar > >] |
[2] |
Kommentar, Substitution |
[SIGN] |
Neutral |
2 |
< < Dollar > > |
[SIGN] |
[PASSA] |
[2] |
Addition |
[VER:fin] |
Neutral |
2 |
< < Einfügungszeichen > > |
[SIGN] |
[SEI] |
[2] |
Addition |
[VER:fin] |
Affirmation |
1 |
< < Smiley > > |
[SIGN] |
[< < Herz > >, CAZZO] |
[2] |
Kommentar |
[SIGN, NOUN] |
Affirmation |
1 |
< < Pfeil > > |
[SIGN] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
& |
[CON] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
6 |
[VER:fin] |
[1, lui] |
[2] |
Addition |
[ART] |
Neutral |
1 |
< < Hakenkreuz (rechts) > > |
[SIGN] |
[xxx] |
[3] |
Rasur |
[MODS] |
Neutral |
1 |
< < Fünfzackiger Stern (links) > > |
[SIGN] |
[< < Dollar > >] |
[2] |
Substitution |
[SIGN] |
Neutral |
1 |
< < SS (Schutzstaffel; rechts) > > |
[SIGN] |
[xxx] |
[2] |
Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
20 |
Ortsabhängigkeit
IK 21: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne DIVERSES – Vollbildanzeige
6.5.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne DIVERSES
Folgende Zeicheninhalte, -typen und -frequenzen können für die Domäne DIVERSES festgestellt werden:
Die Werte der Zeichentypen nähern sich jenen der Domänen POLITIK und ULTRAS an und heben sich deutlich von der Verteilung der EXPRESSIVITÄT-Domäne ab. Ikone nehmen einen vergleichsweise hohen Anteil ein, wobei die Daten generell eine gleichmäßigere Verteilung aufweisen.
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert. Wie zu sehen ist, steht die Farbe WeißATTval noch knapp vor SchwarzATTval, wodurch sich diese Domäne deutlich von den bisher behandelten Domänen abhebt.
Erstellungswerkzeuge
Abschließend werden die Frequenzen der Werkzeuge, die beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen zum Einsatz kamen, angegeben. Im Vergleich zu den anderen Domänen lässt sich auch im Bereich der Werkzeuge ein klarer Unterschied feststellen, da die SpraydoseATTval erstmalig nicht das priorisierte Werkzeug darstellt, sondern der PinselATTval Platz 1 einnimmt. Generell lässt sich auch hier die für diese Domäne typische gleichmäßigere Verteilung erkennen.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Pinsel |
143 |
35 % |
Spraydose |
117 |
29 % |
Stencil |
44 |
11 % |
(Filz-) Stift |
42 |
10 % |
(Wand-) Farbe |
32 |
8 % |
Kugelschreiber |
16 |
4 % |
Kreide |
6 |
1.49 % |
Druck |
3 |
0.74 % |
(Filz-) Stift, Spraydose |
1 |
0.25 % |
404 |
Heatmaps
Die Auswertungen der Positionierungsmuster für diese Domäne beschränkt sich aufgrund der niedrigen Frequenzen von bildgraphischen Zeichen – innerhalb von Scrittatexten mit mindestens zwei Token – auf die Zeicheninhalte <<Herz>> (140) und die Ikone (17). Erwartungsgemäß lässt sich für keine der beiden Typen eine klare Präferenz bei der Erstellung erkennen.
Zeichentyp und |
Ideogramm, Logogramm (eine phonet. Entsprechung), Ideogramm u. Grundform (gestalterisch/gliedernd) |
Ikone |
6.5.6. Subdomänen – Domäne DIVERSES
Die beiden Subdomänen DIVERSES (62 %) und SUBKULTUR (26 %) nehmen insgesamt 88 % der übergeordneten Domäne DIVERSES ein. Neben der Sammelgruppe DIVERSES, in welcher Texte, deren Zuordnung aus oben genannten Gründen (siehe DEFAULT) nicht weiter möglich oder sinnvoll erschien, ist jede vierte Scritta mit einem Frame SubkulturFRAME verbunden. Nachfolgend werden beide Subdomänen in tabellarischer Form zusammengefasst. Modifikationen spielen für beide Subdomänen (DIVERSES und SUBKULTUR) nur eine marginale Rolle, da sie nur zu 7 % bzw. 8 % auftreten. Aus diesem Grund wird auf eine gesonderte Auswertung zu den Modifikationsroutinen dieser Subdomänen verzichtet und auf die Modifikationsroutinen der Domäne DIVERSES verwiesen (siehe DEFAULT).
6.5.6.1. DIVERSES DIVERSES
Innerhalb der 740 DIVERSES-Scritte wurden 462 mit der Subdomäne DIVERSES markiert. Inhaltlich werden hier die verschiedensten Themen behandelt. 53 % der Scritte mit einer Mehrfachbelegung der Domänen weisen eine Proximität zur Domäne EXPRESSIVITÄT auf, wobei die Analyse der betreffenden Subdomänen zeigt, dass es sich dabei zu 24 % um negative und zu 18 % um positive Emotionsbekundungen sowie zu 8 % um humorzentrierte Botschaften handelt. Eine Gesamtübersicht zu den Nachbardomänen sind in Tabelle 55 ersichtlich.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Expressivität |
57 |
53 % |
Politik |
16 |
15 % |
?Politik |
16 |
15 % |
Ultras |
6 |
6 % |
Religion |
3 |
3 % |
?Ultras |
3 |
3 % |
?Expressivität |
2 |
2 % |
?Feminismus |
2 |
2 % |
?Religion |
1 |
1 % |
Feminismus |
1 |
1 % |
107 |
Attributs-gewichtung |
Attributs- |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
|||||||||||||||||||||||||||
Zentral |
Tokenzahl |
1 bis 6
|
79 % der 462 betroffenen Scritte werden durch verkürzte Scritte mit 1 bis 6 Token gebildet. 2-, 3- und 1-Token-Scritte sind mit 17 %, 16 % und 15 % dabei die dominanten Werte. |
|||||||||||||||||||||||||||
Modifikations- |
7 % |
Die relativ geringe Modifikationsanfälligkeit, die sich bereits für die übergeordnete Domäne gezeigt hat, gilt auch für diese Subdomäne. |
||||||||||||||||||||||||||||
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
22 % |
Mit 22 % ergibt sich ein ähnlicher Wert bei der Verwendung von bildgraphischen Zeichen, wie bei der übergeordneten Domäne. |
||||||||||||||||||||||||||||
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 7) |
essere, fare, dare, stare, |
558 Lexeme wurden insgesamt 869-mal realisiert. Dies zeigt einerseits die verhältnismäßig hohe Diversität im Bereich der Lexik für diese Subdomäne und andererseits kann keine Beschränkung auf einen Kernwortschatz festgestellt werden. Die neun linksstehenden Lemmata bilden lediglich 13 % der Realisierungen. Gleichzeitig lassen sich nur schwerlich Wortfelder anhand dieser Lexeme ableiten. |
||||||||||||||||||||||||||||
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Mindestfrequenz 10) |
(Siehe Ergebnisse verwendete Eigennamen der Domäne DIVERSES) |
225 Eigennamen konnten ausgemacht werden. Die hohe Diversität und gleichmäßige(re) Verteilung setzt sich auch für diese Analyseklasse fort. Da die Ergebnisse jenen der Domäne DIVERSES stark ähneln, sei an dieser Stelle auf oben stehende Tabelle verwiesen. |
||||||||||||||||||||||||||||
Sprache |
80 % Italienisch |
Italienisch ist mit 80 % nach wie vor die typischste Sprache. Allerdings ist eine deutliche Abnahme der italienische Sprache und eine Steigerung des Anteils der englischen Sprache (15 %) im Vergleich zu allen bisher behandelten Domänen klar erkennbar. |
||||||||||||||||||||||||||||
Dialektale |
il (er), dai (daje), meglio(mejo), non (nun), questi (‘sti), di (de), col (cor), ci (ce, se), al (ar), fatti (‘tte, fatte), si (se), ti (te), mi (me) |
126 Realisierungen in dialektaler Variante von 67 Lemmata treten in dieser Subdomäne auf. Verglichen mit Nachbardomänen ist dieser Wert relativ hoch. Etwas über die Hälfte der Realisierungen werden durch linksstehende Worteinheiten gebildet. |
||||||||||||||||||||||||||||
Kürzungs-verfahren |
Graphematische Kürzungen |
Kürzungsverfahren wurden lediglich bei 38 der 462 Scritte eingesetzt (entspricht 8 %). Dadurch sind solche Kürzungsverfahren kein prototypisches Merkmal der Subdomäne. Auffällig ist, dass sich die Werte der Subdomäne deutlich von jenen der übergeordneten Domäne DIVERSES absetzen, da hier 65 % der Kürzungsprozesse aus dem Bereich der graphematischen Kürzungen stammen. Bei der übergeordneten Domäne dagegen dominieren die Akronyme. |
||||||||||||||||||||||||||||
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Nomen, Eigennamen, (finite) Verben, NOCAT, Satzzeichen, Artikel |
Linksstehende sechs Wortarten bilden 53 % der verwendeten POS, wobei Nomen (15 %), Eigennamen (11 %) und Verben (9 %) die Liste anführen. Außergewöhnlich ist der hohe Anteil (7 %) der Klasse NOCAT333, der jedoch ganz dem unspezifischen Inhalt der Texte entspricht. |
||||||||||||||||||||||||||||
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Eigennamen (11-35 %) und Nomen (12-19 %) dominieren bei den Scritte mit 2 bis 6 Token |
Bis auf die 1- und 5-Token-Scritte zeigen sich die Eigennamen und Nomen dominant. Bei den 1-Token-Scritte folgen den Eigennamen die bildgraphischen Zeichen (22 %) und bei 5-Token-Scritte sind es die Verben mit 13 %, die den zweitgrößten Wert annehmen. |
||||||||||||||||||||||||||||
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Eine Interpretation der n-Gramme kann erst in DEFAULT erfolgen.334 |
||||||||||||||||||||||||||||
Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
|
||||||||||||||||||||||||||||
Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Weiß, Rot |
Schwarz ist mit 59 % auch in dieser Subdomäne die am häufigsten verwendete Farbe. Die Farbe Weiß nimmt – wie bei der übergeordneten Domäne – den zweiten Platz mit 17 % noch vor Rot (11 %) ein. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Typographie |
Elaboriert |
72 % der Texte lassen eine elaborierte Typographie erkennen. |
|||||||||||||||||||||||||||
Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
(Filz-) Stift, Spraydose |
Erstmalig ist es der (Filz-) Stift der mit 42 % noch knapp vor der Spraydose (41 %) als bevorzugtes Erstellungswerkzeug auftritt. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Trägerfläche |
Freistehende Wand, Hauswand |
Freistehende und Hauswände sind zu 75 % die primären Trägerobjekte bei der Erstellung der Texte. |
Karte der geographischen Standpunkte der DIVERSES DIVERSES-Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 22: Standorte der Subdomäne DIVERSES DIVERSES – Vollbildanzeige
6.5.6.2. DIVERSES SUBKULTUR
Unter der Subdomäne SUBKULTUR sind Texte gesammelt, deren Inhalte zwar unspezifische Frames eröffnen oder die evozierten Frames schlichtweg zu selten auftreten, gleichzeitig jedoch eine gewisse Proximität zu bestimmten Subkulturen erkennen lassen. Grob zusammengefasst sind hier Texte gesammelt, die bspw. ihre Missgunst gegenüber jeder Art von Autorität und dabei besonders der Polizei bekunden335, die den Konsum oder Besitz von Drogen favorisieren oder beschreiben336 oder die Gewalt oder Verbrechen verherrlichen oder beschreiben337. Die statistischen Auswertungen des Prototyps dieser interessanten Subdomäne sind nachfolgend in tabellarischer Zusammenfassung dargestellt.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Politik |
20 |
43 % |
Expressivität |
10 |
22 % |
Ultras |
10 |
22 % |
Religion |
3 |
7 % |
?Politik |
2 |
4 % |
?Ultras |
1 |
2 % |
46 |
198 der 740 DIVERSES-Domäne sind der Subdomäne SUBKULTUR zugehörig, wovon 42 Scritte eine Mehrfachbelegung bei den Domänen aufweisen. 43 % der Nachbarkategorien beziehen sich auf politische Inhalte, gefolgt mit jeweils 22 % von EXPRESSIVITÄT und ULTRAS. Besonders linkspolitische Inhalte sowie Beschimpfungen und Botschaften im Zusammenhang mit ULTRAS SUPPORT stehen dabei in Verbindung zu dieser Subdomäne.
Attributs-gewichtung |
Attributs- klasse |
Typische(r) Wert(e) |
Bemerkungen |
|||||||||||||||||||||||||||
Zentral |
Tokenzahl |
1 bis 6
|
82 % der 198 betroffenen Texte werden durch verkürzte Scritte mit 1 bis 6 Token gebildet. Die Bereiche zwischen einem und drei Token nehmen dabei alleine schon 59 % ein. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Modifikations- |
8 % |
Modifikationen sind auch für diese Subdomäne relativ unbedeutend. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Verwendung bildgraphischer Zeichen |
22 % |
Bei der Verwendung bildgraphischer Zeichen, sind die Werte fast identisch mit jenen der Subdomäne DIVERSES. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Lexik (Hand 1, ohne Eigennamen; Mindestfrequenz 5) |
ACAB, fuck, guardia, droga, infame, più, essere |
Innerhalb der Subdomäne wurden mit 200 Einheiten weitaus weniger Lexeme erfasst, als dies bei der Ko-Subdomäne DIVERSES der Fall war. Diese Lexeme wurden insgesamt 372-mal erstellt. Zwei Auffälligkeiten sollten festgehalten werden: erstens setzt sich die Einheit ACAB (all cops are bastards) mit 19 % deutlich von allen weiteren Lexemen ab338 und zweitens spiegeln sich die Inhalte deutlich in den Wortfeldern der Wortschatzliste wieder, wie am Beispiel der linksstehenden Einheiten (Mindestfrequenz 5) bereits erkennbar ist. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Lexik (Hand 1, nur Eigennamen; Top 10) |
Liboni, Tufello, Gabriele, DIGOS (Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali), E (für Roma Est), Andrea (Volpe), Serpentara, Gente de Borgata, Clyde, Bonnie |
Gerade einmal 48 verschiedene Eigennamen konnten ermittelt werden. Die Verbindung zu subkulturellen Hintergründen ist dabei für den Großteil der Bezeichnungen leicht auszumachen. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Sprache |
73 % Italienisch, 25 % Englisch |
Trotz der gewohnten Dominanz der italienischen Sprache, ist eine deutliche Steigerung des Englischen auf 25 % erkennbar. Dies liegt u. a. an der auffällig hohen Frequenz der Einheit ACAB. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Dialektale |
boia, il (er), del (der), al (ar), di (de), la (‘a), vostri (vostra), mortacci (mortacci), questo (‘sto) |
Verglichen mit der Ko-Subdomäne DIVERSES ist die Verwendung von Worteinheiten in dialektaler Variante deutlich geringer. 24 Lexeme wurden nur 31-mal realisiert. Etwas über die Hälfte der Realisierungen werden durch linksstehende Worteinheiten gebildet. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Kürzungs-verfahren |
(Initial gekürzte) Akronyme |
Auch im Bereich der eingesetzten Kürzungsverfahren setzt sich die Subdomäne SUBKULTUR deutlich von der gleichgeordneten Ebene DIVERSES ab: mit 78 von 198 Scritte mit Kürzungsverfahren, sind es ganze 39 % der Scritte, die insgesamt 96 solcher Realisierungen aufweisen. Auch sind es die Akronyme, die mit 89 % das deutlich dominante Verfahren vor den graphematischen Kürzungen (9 %) bilden. Auch hier ist das Akronym ACAB ausschlaggebend. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Wortarten (nur sprachliche Zeichen) |
Nomen, Interjektionen, Eigennamen, (finite) Verben, Satzzeichen, Artikel |
Linksstehende sechs Wortarten bilden 56 % der verwendeten POS. Auffallend ist der verhältnismäßig hohe Anteil (10 %) von Interjektionen (ACAB, viva, etc.). |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Wortarten bei Tokenzahl 1 bis 6 (inkl. bildgraphischer Zeichen) |
Tokenzahl 1: Interjektionen (78 %!), Tokenzahl 2-6: Nomen (22-31 %), |
Interjektionen nehmen bei 1-, 2- und 5-Token-Texten einen relativ hohen Anteil ein (8 %, 18 % und 78 %). Außerdem sticht ins Auge, dass bei 3- und 5-Token-Texten die Satzzeichen mit jeweils 11 % an zweiter Stelle stehen. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
n-Gramme (ohne bildgraphische Zeichen; jeweils die 3 frequentesten |
Bi-Gramme:
Tri-Gramme:
4-Gramme:
|
Eine Interpretation der n-Gramme kann erst in DEFAULT erfolgen. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Ortsspezifität |
(siehe interaktive Karte unten) |
|
|||||||||||||||||||||||||||
Sekundär |
Farbe |
Schwarz, Rot, Blau |
Die Ergebnisse der Subdomäne SUBKLTUR für den Bereich der Farbwahl weichen sowohl von der übergeordneten Domäne DIVERSES als auch von der Ko-Subdomäne DIVERSES ab. So vermindert sich der Anteil der schwarzen Farbe auf 52 % und die Farben Rot und Blau (jeweils 14 %) verdrängen Weiß auf den vierten Platz (9 %). |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Typographie |
Elaboriert |
68 % der Texte lassen eine elaborierte Typographie erkennen. |
|||||||||||||||||||||||||||
Subsidiär |
Erstellungswerkzeug |
Spraydose, (Filz-) Stift |
Die Spraydose ist mit65 % das typischste Werkzeug beim Erstellen der Texte, gefolgt von (Filz-) Stiften mit 27 %.. |
|||||||||||||||||||||||||||
|
Trägerfläche |
Freistehende Wand, Hauswand |
Freistehende und Hauswände sind zu 64 % die primären Trägerobjekte bei der Erstellung der Texte. |
Karte der geographischen Standpunkte der DIVERSES SUBKULTUR-Scritte Murali im Erhebungsgebiet:
IK 23: Standorte der Subdomäne DIVERSES SUBKULTUR – Vollbildanzeige
6.5.6.3. Typische Zeichenkonstruktionen der Subdomänen DIVERSES DIVERSES und SUBKULTUR
Zu jeweils 22 % werden in Texten beider Subdomänen bildgraphische Zeichen verwendet. Die grundlegenden Merkmale der typischen Zeichenkonstruktionen beider Subdomänen sind in Tabelle 59 zusammengefasst.
Betrifft |
DIVERSES DIVERSES |
DIVERSES SUBKULTUR |
Zeicheninhalte |
51 % der Inhalte werden durch die nachstehenden sechs Inhalte gebildet: Innerhalb der 166 Realisierungen von 63 verschiedenen Inhalten ist neben dem vergleichsweise hohen Anteil von Pfeilen als intratextuellen Verweismarkern v. a. die recht ausgewogene Verteilung der Typen für die oben stehenden frequentesten Zeichen (zwei Ideogramme, zwei Ikone, Pfeile und Logogramme). |
Weniger diversifiziert gestalten sich die Ergebnisse der Subdomäne SUBKULTUR. Sechs der sieben Inhalte, welche im Gesamt 52 % der Inhalte bilden, sind vom Typ Ideogramm. Auffällig ist die recht hohe Beteiligung politischer Zeichen. Gleichzeitig lässt sich auch für diese Subdomäne eine vergleichsweise ausgewogene Verteilung der Anteile beobachten. |
Zeichentypen |
Interessanterweise nehmen Ikone mit 39 % den größten Anteil der Zeichentypen ein, gefolgt von Ideogrammen mit 25 %. |
56 % der Zeichen gehören dem Typ Ideogramm an, wobei <<Herzen>> und politische Symbole die häufigsten Vertreter sind. Ikone sind mit 32 % ebenfalls stark vertreten. |
Farbwahl |
Etwas mehr als die Hälfte aller bildgraphischen Zeichen werden in schwarzer Farbe erstellt (57 %). Von den Ergebnissen der übergeordneten Domäne abweichend, folgt Farbe Rot mit 13 % sowie Weiß und Blau mit jeweils 7 %. |
Die Farbwahl innerhalb dieser Subdomäne lässt eine höhere Diversität erkennen. So sind es lediglich 44 %, die in schwarzer Farbe erstellt werden, gefolgt von Rot mit 14 % und Blau mit 11 %. Danach folgen verschiedene Farb(kombinationen), die jeweils 5-6 % einnehmen. |
Erstellungs- |
Die abnehmende Fixierung auf einzelne Typen und die damit einhergehende geringere Prototypizität einzelner Typen, ist hier im Bereich der Erstellungswerkzeuge gut zu erkennen. So stellt die Spraydose mit 35 % nach wie vor den größten Anteil. Allerdings liegt dieser vergleichsweise niedrig und weitere vier (der insgesamt sieben) Typen umfassen jeweils mindestens 10 % der Anteile: (Wand-) Farbe 18 %, (Filz-) Stift 17 %, Stencil(16 %, Kugelschreiber 10 %. |
Klassischer – d. h. wie von den Ergebnissen der bisher behandelten (Sub-) Domänen gewohnt – zeigen sich die Auswertungen für die SUBKULTUR-Scritte. Die Spraydose nimmt 70 % der Werkzeuge ein, vor dem (Filz-) Stift mit 16 % und den Stencils mit 8 %. |
Heatmaps |
Aufgrund der geringen Frequenzen der einzelnen Inhalte, ist eine gesonderte Auswertung der Positionierung nicht sinnvoll. An dieser Stelle sei auf die Ergebnisse der Domäne DIVERSES (siehe DEFAULT) verwiesen. |
Aufgrund der geringen Frequenzen der einzelnen Inhalte, ist eine gesonderte Auswertung der Positionierung nicht sinnvoll. An dieser Stelle sei auf die Ergebnisse der Domäne DIVERSES (siehe DEFAULT) verwiesen. |
6.6. Genre-Prototyp der Domäne IDEOLOGIE
Nach der Auswertung der beiden Großdomänen POLITIK und ULTRAS sowie den Domänen EXPRESSIVITÄT und DIVERSES, die zusammen 97 % der insgesamt vergebenen Domänen ausmachen, verbleiben drei verhältnismäßig kleine Domänen, deren Prototypen in diesem und den beiden anschließenden Kapiteln präsentiert werden. Diese sind die Domänen IDEOLOGIE (1.60 % des Gesamtkorpus), RELIGION (1.23 %) und FEMINISMUS (0.94 %). Da die Domänen eine solch geringe Anzahl an Scritte umfassen, sind die Werte und die darauf basierenden Prototypen immer unter der Bedingung zu bewerten, dass es sich um verhältnismäßig wenig Sprachmaterial handelt. Nichtsdestotrotz ist eine Betrachtung dieser Domänen sinnvoll, da allein das geringe Auftreten bestimmter Domänen für ein bestimmtes Gebiet prototypisch sein kann. Sollte ich an bestimmten Stellen auf die Auswertung der Daten verzichten, da die geringe Frequenz keine solide Datenbasis erlaubt, werde ich an gegebener Stelle darauf hinweisen.
In diesem Kapitel liegt der Fokus auf der Datenauswertung der Domäne IDEOLOGIE, die lediglich 60 (bzw. 57 nach Bereinigung) Scritte umfasst. Gesammelt sind hier Texte, die generell ideologisches Gedankengut vermitteln (siehe DEFAULT). Der Begriff ist bewusst weit gefasst, wobei ein Blick auf die Subdomänen (s. u.) deutlich macht, dass hier konkret Texte gemeint sind, die in erster Linie Fremdenfeindlichkeit propagieren. Direkt auffällig ist die enge Verbindung zu weiteren Domänen: 52 der 60 Scritte (entspricht 87 %!) sind zwei oder drei Domänen zugeordnet, deren Verteilung in Tabelle 60 gezeigt wird. Insgesamt wurden 122 Domänen und 123 Subdomänen (Tabelle 61) auf die 60 Scritte verteilt.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Ultras |
45 |
73 % |
Politik |
15 |
24 % |
Expressivität |
2 |
3 % |
62 |
Es wurden lediglich zwei Subdomänen für die Domäne IDEOLOGIE erfasst, wobei beide unter den Sammelbegriff Fremdenfeindlichkeit339 fallen: RASSISMUS340 und AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT. Rassistische und antisemitische Texte umfassen dabei 83 % der Scritte, ausländerfeindliche Texte bilden die restlichen 17 %. Die ausgewerteten Subdomänen zeigen eine deutliche Verbindung zu aversiven und konfliktzentrierten ULTRAS-Scritte sowie rechtsextremen POLITIK-Texten.
Subdomänen |
Frequenz |
Anteil (gesamte Subdomänen) |
Rassismus |
49 |
40 % |
Ultras Vereine Konflikt (Ult) |
29 |
24 % |
Ultras Verein Aversiv (Ult) |
15 |
12 % |
Rechtspolitisch (Pol) |
11 |
9 % |
Ausländerfeindlichkeit |
9 |
7 % |
Politisch (Pol) |
2 |
2 % |
?Rassismus |
2 |
2 % |
Rechts- vs. Linkspolitisch (Pol) |
2 |
2 % |
Provokation (Expr) |
1 |
1 % |
?Fremdenfeindlichkeit |
1 |
1 % |
Beschimpfung (Expr) |
1 |
1 % |
Ultras Verein Support (Ult) |
1 |
1 % |
123 |
6.6.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne IDEOLOGIE
Nachstehend werden die Daten der zentralen Analyseklassen dargestellt: Tokenzahl pro Scritta, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung bildgraphischer und sprachlicher Zeichen und die Standorte der Texte im Erhebungsgebiet.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1)
Unter Berücksichtigung der geringen Gesamtzahl von Texten, kann festgehalten werden, dass die Texte typischerweise zwischen zwei und vier Token umfassen (zusammen 78 %).
Modifikationsanfälligkeit
Texte dieser Domäne scheinen relativ konfliktträchtig zu sein, da deutlich mehr als die Hälfte aller Texte (63 %; 38 von 60 Scritte) modifiziert wurden durch bis zu fünf weitere Hände. Dies ist der bisher höchste Wert einer Domäne, wobei die geringe Zahl der Texte bedacht werden muss.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Mit 42 % (oder 25 der 60 Texte) positioniert sich die Domäne im Vergleich zu anderen Domänen im Mittelfeld. Interessant wird die Auswertung der Zeichenkonstruktionen für diese Domäne (siehe DEFAULT).
Sprachliche Zeichen
Für den Bereich der sprachlichen Zeichen werden der Wortschatz (Lexik) und die verwendeten Eigennamen, die Sprachwahl und dialektale Varianten der Worteinheiten, eingesetzte Kürzungsverfahren, frequente Wortarten und typische Mehrwortkombinationen untersucht.
Lexik
Ob es nun allgemein an der geringen Größe der Domäne oder der Präferenz von besonders kurzen Texten (s. o.) liegt, der Wortschatz der Domäne präsentiert sich verhältnismäßig beschränkt, wie nachstehende Übersicht visualisiert. Lediglich 59 (Hand 1) bzw. 71 (Alle Hände) Lexeme semantischer Dichtheit wurden 122-mal, respektive 165-mal, realisiert. Gleichzeitig sind die semantischen Frames der Domäne direkt am Wortschatz ablesbar: neben Bezeichnungen für Nationalitäten (albanese, cinese, algerino, francese) sind Begriffe erfasst, die u. a. in rassistischen und/oder antisemitischen Kontexten verwendet werden (bspw. zingaro, ebreo, olocausto, Jude, negro).
Eigennamen
Betrachtet man den eben gezeigten Wortschatz (s. o.) im Verbund mit den erfassten Eigennamen (s. u.), so scheint sich die Fremdenfeindlichkeit in erster Linie gegen generische Menschengruppen und nicht gegen Einzelpersonen zu richten. Ein Großteil der auftretenden Eigennamen stammen aus der Domäne ULTRAS. Eine genauere Interpretation der Verbindung beider Domänen im Hinblick auf die Verwendung sprachlicher Zeichen erfolgt in Kapitel . Weiterhin ist auch hier die Bandbreite der Eigennamen sowie die konkreten Realisierungen verhältnismäßig gering – gerade einmal 17 Bezeichnungen wurden 43-mal realisiert.
Sprachen und Dialektale Varianten
Mit einem Anteil von 99 % der italienischen Sprache, müssen die Werte innerhalb der Sprachwahl nicht weiter kommentiert werden. Außerdem wurden ein Token auf Englisch und jeweils ein Token auf Latein und Deutsch verfasst.
Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung von Worteinheiten im Dialekt: drei Token (fuori – fori, possono – ponno und tua – tu) wurden erfasst.
Kürzungsverfahren
17 Token wurden in gekürzter Variante verschriftlicht, wobei ausschließlich auf Akronyme zurückgegriffen wurde und bis auf zwei (von sieben) Vollformen aus dem Bereich ULTRAS stammen (z. B. ASR, SSL, UR/UL – Ultras Roma/Lazio usw.).
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Sowohl unter Ausschluss als auch unter Miteinberechnung bildgraphischer Zeichen, dominiert mit 40 % bzw. 37 % Anteil das Nomen als häufigste Wortart, gefolgt von Eigennamen (14 % bzw. 13 %) und Verben (5 %) bzw. bildgraphischen Zeichen (6 %). Diese Präferenzen zeigen sich auch in der Auswertung der frequentesten Wortarten für Scritte mit 2-, 3- und 4-Token-Scritte. Nomen nehmen hier 64 % (2-Token-Scritte), 44 % (3-Token-Scritte) und 33 % (4-Token-Scritte) ein.
n-Gramme
Die (gesammelten) Bi-Gramme sowie (ungesammelten) 2-, 3- und 4-Gramme, geben mit Verweis auf die Dominanz von 2-, 3- und 4-Token-Scritte ein recht deutliches Bild, wie die Texte dieser Domäne aussehen.
Verteilung im Erhebungsgebiet
Folgende Standorte im Erhebungsgebiet zeigen fremdenfeindliche Texte:
IK 24: Standorte der Domäne IDEOLOGIE – Vollbildanzeige
6.6.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne IDEOLOGIE
Farben
Die Farbwahl gestaltet sich vergleichsweise unauffällig: 75 % der Token wurden in schwarzer, 11 % in blauer Farbe erstellt, gefolgt von Weiß mit 7 %.
Typographie
Auffälliger – im Vergleich zu den Ko-Domänen – zeigt sich die Auswertung der typographischen Daten. Mit jeweils 38 % lassen sich Token mit sowie ohne bewusst gewählter Typographie erkennen und mit 24 % ist der Anteil der Token ohne Angabe recht hoch.
6.6.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne IDEOLOGIE
Erstellungswerkzeuge
Unter den lediglich drei verschiedenen Werkzeugen bevorzugen Produzenten die Spraydose deutlich (84 %) vor dem (Filz-) Stift (14 %) und der (Wand-) Farbe, anhand welcher lediglich ein Token erstellt wurde.
Trägerfläche
Typischerweise werden ideologische Texte auf Haus- (47 %) oder freistehenden Wänden (28 %) sowie Geschäftsfassaden (12 %) erstellt.
6.6.4. Modifikationsroutinen – Domäne IDEOLOGIE
Wie oben bereits erwähnt, wurden 63 % der IDEOLOGIE-Scritte nachträglich durch bis zu fünf weitere Hände geändert. Dabei sind es zu 79 % die Hände 2 und 3 (siehe Tabelle 62), die v. a. mit Negation auf die Ursprungstexte reagieren und sich der Elision, Addition und Kommentare bedienen (siehe Tabelle 63).
Hand |
Anzahl (Scritte) |
Anteil |
2 |
38 |
54 % |
3 |
18 |
25 % |
4 |
10 |
14 % |
5 |
3 |
4 % |
6 |
2 |
3 % |
71 |
Modifikationstypen |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Elision, Negation |
37 |
23 % |
Addition, Negation |
32 |
20 % |
Kommentar, Negation |
23 |
14 % |
Substitution, Negation |
15 |
9 % |
Gesamtgraph-Rasur, Negation |
15 |
9 % |
Addition, Affirmation |
13 |
8 % |
Erneuerung, Affirmation |
7 |
4 % |
Rasur, Negation |
7 |
4 % |
Teilgraph-Rasur/-Elision, Negation |
4 |
3 % |
Substitution, Affirmation |
2 |
1 % |
Addition, Neutral |
2 |
1 % |
?Erneuerung, Affirmation |
1 |
1 % |
?Substitution, Neutral |
1 |
1 % |
N/A, N/A |
1 |
1 % |
160 |
Die nachfolgenden Übersichten zu den Modifikationsweisen hinsichtlich der Token und Wortarten für Hand 1 und alle Hände in gesammelter und ungesammelter Ordnung, geben weiteren Aufschluss über die Modifikationsroutinen für diese Domäne.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Wortarten – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Modifikation von bildgraphischen Zeichen
15 der 33 vorliegenden bildgraphischen Zeichen (aus allen Händen) wurden modifiziert. In Tabelle 64 sind die Modifikationsweisen der Ideogramme angegeben.
Token (modifiziert) |
Token (modifizierend) |
Hände |
Modifikationstypen |
POS (modifizierend) |
Modifikationsrelationen |
Anzahl |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] |
[< < animal_bunny > >] |
[2] |
Teilgraph-Rasur/-Elision |
[SIGN] |
Negation |
1 |
[< < Hakenkreuz (rechts) > >] |
[< < Hakenkreuz (rechts) > >, µµµ] |
[4, 3] |
Substitution, Erneuerung, Gesamtgraph-Rasur |
[SIGN, MODS] |
Negation, Affirmation |
1 |
[< < Hakenkreuz (rechts) > >] |
[µµµ, < < Hakenkreuz (rechts) > >] |
[3, 2] |
Gesamtgraph-Rasur, Kommentar |
[MODS, SIGN] |
Negation |
1 |
[< < Fascio Littorio (rechts) > >] |
[senatus populus que romanus] |
[2] |
Addition |
[SYNERESIS] |
Negation |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] |
[~ ~ ~] |
[2] |
Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] |
[~ – ~] |
[2] |
Elision |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[ebreo] |
[4] |
Addition |
[NOUN] |
Affirmation |
1 |
[< < Movimento Autonomi e Autoorganizzati (links) > >] |
[sparare] |
[2] |
Kommentar |
[VER:fin] |
Negation |
1 |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >, µµµ] |
[3, 2] |
Substitution, Gesamtgraph-Rasur |
[SIGN, MODS] |
Negation, Affirmation |
1 |
[< < Keltisches Kreuz (rechts) > >] |
[µµµ] |
[2] |
Gesamtgraph-Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Jüdischer Davidstern > >] |
[µµµ] |
[2] |
Gesamtgraph-Rasur |
[MODS] |
Negation |
1 |
[< < Linie > >] |
[merda] |
[2] |
Addition |
[NOUN] |
Negation |
1 |
15 |
Ortsabhängigkeit
IK 25: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne IDEOLOGIE – Vollbildanzeige
6.6.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne IDEOLOGIE
Die Auswertungen des Korpus ergeben folgende Konstellation der Zeicheninhalte und -typen für die Domäne IDEOLOGIE, wie in Tabelle 65 und Tabelle 66 angegeben:
Zeicheninhalt |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Zeichentypen |
< < Jüdischer Davidstern > > |
14 |
42 % |
[Ideogramm] |
< < Keltisches Kreuz (rechts) > > |
7 |
21 % |
[Ideogramm] |
< < Hakenkreuz (rechts) > > |
4 |
12 % |
[Ideogramm] |
< < Linie > > |
2 |
6 % |
[Grundform (gestalterisch/gliedernd)] |
< < Fascio Littorio (rechts) > > |
2 |
6 % |
[Ideogramm] |
< < Pfeil > > |
1 |
3 % |
[Pfeil (intratextualer Verweis)] |
< < animal_bunny > > |
1 |
3 % |
[Ikon] |
< < Anarchie (links) > > |
1 |
3 % |
[Ideogramm] |
< < Movimento Autonomi e Autoorganizzati (links) > > |
1 |
3 % |
[Ideogramm] |
33 |
Zeichentyp |
Frequenz |
Anteil |
Zeicheninhalte |
Ideogramm |
29 |
88 % |
[< < Jüdischer Davidstern > >, < < Keltisches Kreuz (rechts) > >, < < Hakenkreuz (rechts) > >, < < Fascio Littorio (rechts) > >, < < Anarchie (links) > >, < < Movimento Autonomi e Autoorganizzati (links) > >] |
Grundform (gestalterisch/gliedernd) |
2 |
6 % |
[< < Linie > >] |
Pfeil (intratextualer Verweis) |
1 |
3 % |
[< < Pfeil > >] |
Ikon |
1 |
3 % |
[< < animal_bunny > >] |
33 |
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Lediglich ein Ikon tritt in der Domäne IDEOLOGIE auf (s. o.).
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Nachstehende Charts visualisieren die Farbwahl in Bezug auf die bildgraphischen Zeichen – je nach Farben und Zeicheninhalten gruppiert.
Erstellungswerkzeuge
Zuletzt folgen die Ergebnisse bzgl. der verwendeten Werkzeuge.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Spraydose |
28 |
85 % |
(Filz-) Stift |
5 |
15 % |
33 |
Heatmaps
Die geringe Zahl an bildgraphischen Zeichen in dieser Domäne bietet nicht genügend Datenmaterial, um aussagekräftige Werte für die Positionierung der Zeichen zu erhalten. Aufgrund der Besonderheit des Zeichens <<Jüdischer Davidstern>>, wird ausschließlich zu diesem Zeichen die Heatmap der Position angegeben. Es lässt sich, soweit möglich, eine Tendenz zur Mitte-Rechts-Positionierung erkennen.
Zeichentyp und |
Ideogramm |
6.7. Genre-Prototyp der Domäne RELIGION
Die vorletzte Domäne, welche im Rahmen der Genre-Prototypen untersucht wird, bezieht sich auf Texte, die den Frame ReligionFRAME eröffnet. Sie besteht aus lediglich 46 Scritte (eine davon mit ‘?’ versehen), was zu jeder Zeit bei der Interpretation des darauf basierenden Prototypen bedacht werden muss, da die Ergebnisse auf einer besonders geringen Datenmenge beruhen und man somit nur bedingt von prototypischen Mustern ausgehen kann. Den Texten, die nur 1 % des Gesamtkorpus ausmachen, wurden insgesamt 73 Domänen zugewiesen, wobei 22 Scritte eine Mehrfachbelegung aufweisen. Somit weisen knapp 48 % Scritte unscharfe Grenzen auf. Welche Nachbardomänen mit welcher Häufigkeit vertreten sind, wird aus Tabelle 69 ersichtlich.
Nachbardomänen |
Frequenz (Scritta) |
Anteil (Scritta) |
Diverses |
15 |
56 % |
Politik |
6 |
22 % |
Expressivität |
4 |
15 % |
Ultras |
1 |
4 % |
?Politik |
1 |
4 % |
27 |
Vier Subdomänen konnten hier erfasst werden: RELIGIÖS PRO341 mit 18 Texten, RELIGIÖS ANTI342 mit ebenfalls 18 Texten, SATANISCH343 mit vier Texten und schließlich RELIGIÖS als Sammelgruppe von acht Scritte, die auf irgendeine Weise mit dem Konzept RELIGION in Verbindung stehen, ohne weiter klassifiziert zu werden. In Bezug auf die Subdomänen muss angemerkt werden, dass acht PRO-Texte aus der Hand einer Künsterlin344 stammen, die im ganz eigenen Stil mehrere Texte verschiedener Länge erstellt hat. Da diese Texte relativ viele Token umfassen (zwischen 12 und 70 pro Scritta) und somit statistische Daten auf allen Ebenen ganz entscheidend beeinflusst würden und die Gesamtzahl der Domänen–Texte verhältnismäßig gering ist, erscheint es nicht sinnvoll gesonderte Prototypen für die Subdomänen zu errechnen.
6.7.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne RELIGION
Zur Erstellung des Prototypen werden nun die statistischen Daten zu den zentralen Analyseklassen erfasst. Dazu zählen die Tokenzahl pro Scritta, Modifikationsanfälligkeit, Verwendung bildgraphischer und sprachlicher Zeichen sowie die Standorte der RELIGION-Scritte im untersuchten Gebiet.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1)
Eindeutig (proto-) typische Werte sind aus den Daten aufgrund der geringen Gesamtzahl von Domänentexten nur schwer ablesbar. Es lässt sich eine Tendenz zu eher kürzeren Texten erkennen (28 % der Scritte weisen zwei Token auf, 17 % zeigen vier Token pro Text).
Modifikationsanfälligkeit
Sieben der 46 Texte wurden modifiziert, was einem Anteil von 15 % entspricht. Modifikationen sind also kein prototypischer Bestandteil dieser Domäne. Vier der sieben modifizierten Scritte stehen zudem mit der politischen Domäne in Verbindung, was möglicherweise einer der Modifikationsgründe sein mag.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Bildgraphische Zeichen sind ein fester Bestandteil von fast jeder zweiten Scritta aus dem religiösen Bereich (48 % der Texte weisen einen solchen Zeichentyp auf). Welche Inhalte und -typen dabei besonders prominent sind, werden weiter unten erläutert.
Sprachliche Zeichen
Für die Klassen der Lexik, der verwendeten Eigennamen, der Sprachwahl und den dialektalen Varianten, dem Einsatz von Kürzungsverfahren und frequentesten Wortarten sowie den n-Grammen, werden nachfolgend die Ergebnisse zusammengefasst.
Lexik
Obwohl diese Domäne mit 46 Texten nur etwa dreiviertel der Scritte der Domäne IDEOLOGIE umfasst, sind es fast doppelt so viele Lemmata (nämlich 129 aus allen Händen), die hier insgesamt 190-mal verwendet wurden. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass von den 104 Lexemen, die lediglich einmal vorkommen 61 aus der Hand von der oben erwähnten Künstlerin Melina Riccio stammen. Wie ich bereits oben erwähnt habe, verzerren diese künstlerischen Texte die Ergebnisse und müssen bei der Interpretation der Daten berücksichtigt werden. An den in der unten dargestellten Übersicht zu den 25 Worteinheiten mit einer Mindestfrequenz von 2, lässt sich der semantische Hintergrund der Domäne RELIGION deutlich anhand der Wortfelder ablesen, wobei die PRO- und ANTI-Haltungen ableitbar sind.
Eigennamen
Auch die verwendeten Eigennamen verweisen eindeutig auf die semantischen Frames der Domäne.
Sprachen und Dialektale Varianten
Von den beiden verwendeten Sprachen Italienisch und Englisch wird erstgenannte Sprache eindeutig mit 98 % zu 2 % bevorzugt. Ausdrücke in dialektaler Variante treten in dieser Domäne nicht auf.
Kürzungsverfahren
Ebenfalls insignifikant ist die Verwendung von Kürzungsverfahren bei Religion-bezogenen Texten: lediglich zehnmal treten Token in Form von Akronymen (MS für Monte Sacro, AG für Azione Giovani oder ACAB für All Cops Are Bastards) oder graphematischen Kürzungen (W für Viva! Und X für per) auf.
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Nachfolgende Tabelle 70 zeigt die fünf häufigsten Wortarten, sowohl inklusive als auch exklusive bildgraphischer Zeichen.
Frequenzen der Wortarten (INKLUSIVE bildgraphischer Zeichen) |
Frequenzen der Wortarten (EXKLUSIVE bildgraphischer Zeichen) |
SIGN – 178 – 36 % |
NOUN – 112 – 35 % |
NOUN – 112 – 23 % |
ADJ – 36 – 11 % |
ADJ – 36 – 7 % |
NPR – 28 – 9 % |
NPR – 28 – 6 % |
PRE – 23 – 7 % |
PRE – 23 – 5 % |
VER:fin – 23 – 7 % |
n-Gramme
Die oben erwähnten Melina Riccio-Texte, die einen verhältnismäßig großen Anteil der Gesamttoken der Domäne umfassen, bedingen offensichtlich auch die Mehrwortkombinationen bzw. deren Frequenzen. So zeigen die frequentesten Kombinationen der gesammelten 2-, 3-und 4-Gramme eine Dominanz der Nomen.345 Dies liegt am Schreibstil der von Melina Riccio kreierten Texte, innerhalb derer häufig Substantive in einer Art von freiem Reimschema aneinandergereiht werden (siehe z. B. hier). In ungesammelter Abfrage erscheint lediglich bei den Bi-Grammen eine konkrete Zweiwortkombination, die durch die relativ hohe Frequenz auffällig erscheint: porco dio. Diese Kombination erscheint neunmal und setzt sich somit recht deutlich von der nächsthäufigen Kombination (Melina Riccio) mit drei Erscheinungen ab. Bei Tri- und 4-Grammen erscheint mit einer Ausnahme bei den Tri-Grammen346 keine Kombination öfter als einmal.
Verteilung im Erhebungsgebiet
Folgende Standorte im Erhebungsgebiet zeigen religiöse Texte:
IK 26: Standorte der Domäne RELIGION – Vollbildanzeige
6.7.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne RELIGION
Farben
Melina Riccios Texte wurden fast ausschliesslich in weißer Farbe erstellt, was sich aufgrund der erhöhten Tokenzahl offensichtlich auf die statistischen Werte in dieser Analyseklasse auswirkt, wie unschwer an der nachstehenden Übersicht zu erkennen ist.
Typographie
Auf ähnliche Weise werden auch die Ergebnisse der typographischen Beschaffenheit der Texte beeinflusst. Zunächst kann für 37 % nicht festgestellt werden, ob es sich um eine bewusst gewählte Typographie handelt oder nicht. Diesem Wert folgen mit 27 % ornamentartige-elaborierte Texte, die fast ausschließlich aus der Hand Melina Riccios stammen. Danach sind es 21 % der elaborierten Texte und schließlich 15 % mit arbiträr gewählter Handschrift.
6.7.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne RELIGION
Erstellungswerkzeuge
Die Auswirkungen der Texte von Melina Riccio zeigen sich am deutlichsten im Bereich der Erstellungswerkzeuge. Abhängig davon, ob man die Daten nach der Frequenz von Token oder von Scritte sortiert, ergeben sich zwei völlig unterschiedliche Ergebnisse, wie in der Übersicht deutlich wird. Da die Riccio-Texte recht umfangreich sind und alle anhand von Pinsel und Wandfarbe erstellt wurden, hat das Werkzeug Pinsel 54 % Anteil an den erstellten Token. Ordnet man die Daten dagegen nach den Werkzeuge pro Scritta, so findet sich der Pinsel mit nur noch 17 % an dritter Stelle hinter der Spraydose (52 %) und dem (Filz-) Stift (28 %), da nur acht Scritte von Melina Riccio stammen und ansonsten keine weiteren Texte mithilfe von Pinseln erstellt wurden.
Trägerfläche
Ähnliche Auswirkungen haben die Riccio-Texte auf die Auswertung der Trägerflächen: fünf Texte wurden auf Baustellenareal erstellt, wodurch diese Trägerfläche mit 46 % am dominantesten erscheint, wenn man die Daten in Bezug auf die Frequenz der Token auswertet. Sortiert nach der Häufigkeit der Scritte dagegen, stehen klar Haus- (35 %) und freistehende Wände (30 %) vor dem Baustellenareal (11 %).
6.7.4. Modifikationsroutinen – Domäne IDEOLOGIE
Lediglich sieben der 46 Domänentexte wurden nachträglich durch maximal eine weitere Hand modifiziert. Das vier der sieben Texte zudem POLITIK als Nachbardomäne aufweisen, zeugt für eine besonders geringe Modifikationsanfälligkeit. Der Vollständigkeit halber sollen die wichtigsten Eckdaten der Modifikationsabläufe nachfolgend zusammengefasst werden.
Mit zwei Ausnahmen zeigen alle Modifikationstypen eine negierende Bewertungsweise, wobei Gesamtgraph-Rasuren, Elisionen und Additionen die präferierten Modifikationsweisen sind, wie aus Tabelle 71 erkennbar ist.
Modifikationstypen |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Gesamtgraph-Rasur, Negation |
7 |
29 % |
Elision, Negation |
5 |
21 % |
Addition, Negation |
3 |
13 % |
Substitution, Negation |
3 |
13 % |
Kommentar, Neutral |
2 |
8 % |
Teilgraph-Rasur/-Elision, Negation |
1 |
4 % |
Erneuerung, Affirmation |
1 |
4 % |
Kommentar, Negation |
1 |
4 % |
Rasur, Negation |
1 |
4 % |
24 |
Nachfolgend werden die Übersichten zu den Auswertungen der modifizierten Token aus Hand 1 und allen Hände in gesammelter und ungesammelter Order wiedergegeben. Da insgesamt nur 24 Token modifiziert wurden, ist eine Darstellung der modifizierten Wortarten obsolet. Selbiges gilt für die modifizierten bildgraphischen Zeichen. Insgesamt wurden nur fünf solcher Zeichen (Alle Hände) modifiziert, wobei es ich ausschliesslich um politische Zeichen (<<Keltisches Kreuz>> und <<Wolfsangel>>) handelt.
Token – Hand 1/Alle Hände, gesammelt/ungesammelt
Ortsabhängigkeit
IK 27: Ortsabhängigkeit der Modifikationen in der Domäne RELIGION – Vollbildanzeige
6.7.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne RELIGION
Mit 48 % zeigt knapp jede zweite RELIGION-Scritta ein bildgraphisches Zeichen. Bevorzugt werden auf Inhaltsseite Herzen und bei den Zeichentypen sind es mit 67 % die Ideogramme, die am häufigsten verwendet werden. Auch in diesem Bereich schlagen sich die Texte von Melina Riccio deutlich nieder, da ein besonders großer Anteil der Herzen in ihren Texten auftritt.
Realisierte Ikone und deren Häufigkeiten
Lediglich sieben Ikone treten in dieser Domäne auf. Die Inhalte lassen sich aus den obenstehenden Übersichten zu den Inhalte erkennen.
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Die in fast ausschließlich weißer Farbe erstellten Riccio-Texte dominieren logischerweise auch im Bereich der Farbwahl für bildgraphische Zeichen. So sind es v. a. die Herz-Symbole, welche sich besonders dominant in den Werten absetzen.
Erstellungswerkzeuge
Parallel zu den Zeichen allgemein (siehe DEFAULT) scheint der Pinsel mit deutlichem Abstand das bevorzugte Erstellungswerkzeug zu sein. Allerdings müssen die Werte aus oben genannten Gründen und mit Hinblick auf die Melina Riccio-Scritte interpretiert werden.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Pinsel |
143 |
79 % |
(Filz-) Stift |
20 |
11 % |
Spraydose |
18 |
10 % |
Stencil |
1 |
1 % |
182 |
Heatmaps
Für die drei häufigsten Zeichen (<<Herz>>, <<Punkt>> und <<Pfeil>>) lassen sich hinsichtlich der Positionierung im Textbild erwartungsgemäß keine klaren Präferenzen feststellen, wie in den nachstehenden Heatmaps visualisiert ist. Maximal beim Zeicheninhalt <<Herz>> lässt sich eine Tendenz zur Mitte-Rechts-Positionierung erkennen.
Zeichentyp und |
Ideogramm |
Grundform (gestalterisch/gliedernd) |
[Pfeil (intratextualer Verweis)] |
6.8. Genre-Prototyp der Domäne FEMINISMUS
Die letzte Domäne des Korpus umfasst Texte, die dem Frame FeminismusFRAME347 inhärent sind. Mit 35 Texten bildet sie – abgesehen von den beiden komplett rasierten, d. h. unleserlichen, Texten der Kategorie NA, zu welchen jedoch keine Prototypen erstellt werden (können) – die kleinste Gruppe des Korpus. Dies entspricht nicht einmal 1 % des Gesamtkorpus. Zwei der 35 Scritte sind aufgrund der unsicheren Domänenzuordnung mit ‘?’ markiert. Insgesamt wurden den 35 Scritte 70 Domänen zugewiesen, mit einer besonders hohen Mehrfachbelegung bei 34 Texten. Die Nachbarkategorien beschränken sich auf lediglich zwei Domänen: POLITIK (nimmt 91 % der Anteile ein) und DIVERSES (9 %), wobei sich die Subdomänen erstgenannter Nachbardomäne ausschließlich auf linkspolitische Inhalte beschränkt. Der hohe Anteil an Nachbardomänen und die spezifischen Werte der Ko-Subdomänen zeigen einerseits die deutlich unscharfen Grenzen (in erster Linie zur Domäne POLITIK) und andererseits die semantisch-inhaltliche Nähe zu linkspolitischem Gedankengut. Neben der verhältnismäßig geringen Größe der Domäne (gemessen an der Anzahl der Texte), muss eben diese Verbundenheit zur (links-) politischen (Sub-) Domäne bei der Datenanalyse und -interpretation bedacht werden.348 Ebenfalls möchte ich vorausnehmen, dass 26 der 35 Texten anhand von Stencils erstellt wurden (siehe DEFAULT). Dies hat für diese Domäne zur Folge, dass die Textinhalte teils repetitiv erscheinen, da eine der Funktionen von Stencil jene ist, den selben Text schnell und unkompliziert in einem Gebiet zu erstellen. Diese rekurrente Struktur hinterlässt offensichtlich auch in den analysierten Daten deutliche Spuren, wie zu sehen sein wird. Subdomänen für die Domäne FEMINISMUS wurden keine erfasst. Nachfolgend werden die ausgewerteten Daten der Domäne nach gewohnter Manier zusammengefasst.
6.8.1. Zentrale Attributsklassen – Domäne FEMINISMUS
Ein letztes Mal werden die Werte zu den Tokenzahl pro Scritta, zur Modifikationsanfälligkeit, der Verwendung bildgraphischer sowie sprachlicher Zeichen und den Standorten der Scritte wiedergegeben.
Tokenzahl pro Scritta (Hand 1)
Im nachstehenden Chart wird auf den ersten Blick deutlich, dass sich nur schwerlich prototypische (i. S. v. relativer Häufigkeit) Werte feststellen lassen, wenn man die geringe Zahl an Texten berücksichtigt. Knapp 50 % werden von 2- und 7-Token-Texten gebildet, wobei sich die restlichen 51 % recht gleichmässig auf die Tokenzahlen 3 bis 6 verteilen. Klar ist, dass eine relative Kürze (die maximale Tokenzahl liegt bei 7) typisch für diese Domäne ist.
Modifikationsanfälligkeit
Keine (!) der FEMINISMUS-Scritte wurden modifiziert, was gegeben der Tatsache, dass fast alle Texte mit der Domäne POLITIK in Verbindung stehen und diese zu 26 % Modifikationen aufweist (siehe DEFAULT), doch erstaunlich ist.349 Da die Texte nicht modifiziert wurden, ist eine Untersuchung der Modifikationsabläufe (siehe DEFAULT) nicht möglich und auch die Auswertungen beschränken sich nachfolgend alle auf Hand 1.
Verwendung bildgraphischer Zeichen
Bei 49 % der Scritte treten bildgraphische Zeichen auf. Für eine Auflistung der Inhalte und Typen siehe DEFAULT.
Sprachliche Zeichen
Nachfolgend die Werte der Klassen Lexik, Eigennamen, Sprachwahl und dialektale Varianten, Kürzungsverfahren, Wortarten und n-Grammen.
Lexik
Gerade einmal 38 Lexeme in 82 Realisierungen wurden für diese Domäne erfasst. Überdies müssen die beiden häufigsten Einheiten cagna und sciolto im Verbund als Cagne Sciolte als Gruppenbezeichnung und somit letztlich als Eigennamen gelesen werden.350 Nicht einmal die Hälfte der erfassten Lemmata tauchen mindestens zweimal auf. Die semantischen Wortfelder der Domäne sind deutlich an den Referenzen der Wörterliste ablesebar.
Eigennamen
Streng genommen müssen die eben erwähnten Gruppenbezeichnungen bei den Eigennamen hinzugerechnet werden. Daneben erscheinen keine weiteren Eigennamen.
Sprache und Dialektale Varianten
Die Texte beinhalten Token in zwei Sprachen: Italienisch und Spanisch, wobei mit 95 % die italienische Sprache deutlich dominanter ist. Dialekt kommt bei keinem der Texte vor.
Kürzungsverfahren
Kürzungsverfahren sind kaum von Bedeutung: drei Worteinheiten (X für per, N für novembre und c für ci) wurden viermal gekürzt.
Part-Of-Speech (POS) – Wortarten
Nachstehende Gegenüberstellung zeigt die fünf häufigsten Wortarten mit und ohne bildgraphischen Zeichen. Erneut sei auf die Gruppenbezeichnungen (und damit einer Zugehörigkeit zu den Eigennamen) Cagne Sciolte und Femministe (A)Morose verwiesen.
Frequenzen der Wortarten (mit bildgraphischen Zeichen) |
Frequenzen der Wortarten (ohne bildgraphische Zeichen) |
NOUN – 37 – 25 % |
NOUN – 37 – 31 % |
SIGN – 28 – 19 % |
VER:fin – 18 – 15 % |
VER:fin – 18 – 12 % |
ADJ – 16 – 13 % |
ADJ – 16 – 11 % |
ADV – 10 – 8 % |
ADV – 10 – 7 % |
ART – 10 – 8 % |
n-Gramme
Obwohl die Textsammlung dieser Domäne geringer ist, als jene der Domäne RELIGION, gestalten sich die Mehrwortkombinationen deutlich anders, als bei den religiösen Texten. Besonders die über Stencils in Serie erstellten Texte (bspw. in den Abb. 108 bis Abb. 111) hinterlassen ihre Spuren in den n-Grammen, wie an den ungesammelten Abfragen erkennbar ist.
Verteilung im Erhebungsgebiet
Die FEMINISMUS-Texten sind an folgenden Standorten erfasst worden:
IK 28: Standorte der Domäne FEMINISMUS – Vollbildanzeige
Auffällig ist, dass knapp die Hälfte der Texte (17 Stück) aus einem relativ begrenzten Gebiet – nämlich San Lorenzo – stammen.
6.8.2. Sekundäre Attributsklassen – Domäne FEMINISMUS
Farben
Etwas mehr als die Hälfte aller Token der Domäne wurden in schwarzer Farbe (57 %) erstellt, gefolgt von der Farbe Rot mit 24 %. Ein Novum ist, dass die Farbe Blau überhaupt nicht vorkommt.
Typographie
Auch aufgrund der häufigen Verwendung von Stencils, ist der Anteil elaborierter Typographie mit 95 % besonders hoch. Zu den restlichen Token (5 %) lässt sich keine Aussage zu bewusst oder arbiträr gewählter Typographie treffen.
6.8.3. Subsidiäre Attributsklassen – Domäne FEMINISMUS
Erstellungswerkzeuge
In der Übersicht zu den verwendeten Erstellungswerkzeugen, zeigt sich die eingangs erwähnte Vorliebe für die Stencils, die sich mit 73 % deutlich vor der Spraydose (23 %) positioniert.
Trägerfläche
Die Werte der gewählten Trägerflächen gestalten sich recht unauffällig, wobei auch hier die geringe Gesamtzahl der Scritte bedacht werden muss.
6.8.4. Modifikationsroutinen – Domäne FEMINISMUS
Keine der Scritte aus dieser Domäne wurden modifiziert.
6.8.5. Typische Zeichenkonstruktionen – Domäne FEMINISMUS
Mit 49 % sind bildgraphische Zeichen ein bedeutender Bestandteil der feministischen Scritte. Nachfolgend werden die entsprechenden Eckdaten zusammengefasst. Die Übersicht zu den Inhalten zeigt, dass 76 % der Inhalte vom Gendersymbol Frau ausgemacht werden. Dies liegt u. a. an der repetitiven Verwendung dieses Symbols in den Stencils (z. B. bei anche la RABBIA esplode; siehe Abb. 111). Insgesamt wurden drei Ikone realisiert, wobei eines in grossformatigen Stil erstellt wurde (siehe Abb. 112).
Farbwahl beim Erstellen der bildgraphischen Zeichen
Hier zeigt sich eine ähnliche Verteilung der verwendeten Farben, wie sie zu den Token allgemein festgehalten wurde (siehe DEFAULT).
Erstellungswerkzeuge
Auch bei den Zeichen zeigt sich die bevorzugte Verwendung von Stencils.
Erstellungswerkzeug |
Frequenz (Token) |
Anteil |
Stencil |
21 |
72 % |
Spraydose |
7 |
24 % |
(Wand-) Farbe |
1 |
3 % |
29 |
Heatmap
Untenstehend wird lediglich die Heatmap zum Zeicheninhalt <<Gendersymbol Frau>> wiedergegeben, da die weiteren Frequenzen derart niedrig sind, dass eine Auswertung der Positionierung nicht sinnvoll ist. Bereits für das erwähnte Symbol ist bei einer Anzahl von 22 Token maximal von Tendenzen zu sprechen. So lässt sich eine leichte Priorisierung von Oben-Mitte- und Rechts-Positionierungen erkennen
Zeichentyp und |
Ideogramm |
7. Funktionalitäten der Scritte Murali
Nachdem die Genre-Prototypen der Domänen auf Basis der Korpusdaten des Sprachmaterials erstellt wurden, folgt nun der entscheidende Teil der Arbeit – die Interpretation der Kommunikationsfunktionen der Scritte Murali bzw. ihrer Genres. Wie die Ergebnisse der Prototypen gezeigt haben, gibt es teils deutliche Unterschiede zwischen den Prototypen der einzelnen, nach Domänen gruppierten Genres.351 Es sei daran erinnert, dass es sich bei den Prototypen um abstrakte Konstrukte handelt, an denen sich die Kommunikationsteilnehmer bei der Erstellung und Rezeption bzw. Interpretation orientieren. Im Kommunikationsprozess werden die konkreten Texte mit den genrespezifischen Prototypen abgeglichen und als typische(re) (d. h. zentrale) oder wenig(er) typische (d. h. periphere) Exemplare zum entsprechenden Prototypen und Genre zugeordnet (siehe DEFAULT). Diese Abgleichungsprozesse laufen global ab, wobei eine unfassbare Menge an verschiedensten Wissensbeständen und kognitiven Netzwerken aktiviert und abgerufen wird. Die Prozesse in seiner gesamten Fülle zu rekonstruieren ist offensichtlich nicht durchführbar, schon alleine, weil man zwar davon ausgehen kann, dass größere soziale (Unter-) Gruppen ähnliche Prozesse beim Verstehen teilen, trotzdem aber die Wissensbestände, Einstellungen und sozio-biographischen Eigenschaften der Einzelpersonen völlig individuell ausgeprägt sind, wodurch ein allgemeingültiger Prozess für diese Genres kaum festgeschrieben werden kann (siehe DEFAULT). Demzufolge müssen die nachfolgenden Interpretationen als idealisierte Ableitungen von Kognitionsprozessen verstanden werden, wie dies auch bei den meisten Versuchen aus den entsprechenden Forschungsrichtungen der Fall ist – bspw. zu cognitive oder cultural models oder den Versuchen zu semantischen Prototypen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich beim Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nicht um simple und alltägliche Gegenstände handelt, wie dies z. B. bei Untersuchungen zu Gegenständen wie ‘Stuhl’ oder ‘Tasse’ der Fall ist, sondern um komplexe Texte, die außerdem nicht in einem kontextfreien Ambiente untersucht werden, sondern im Gegenteil der Kontext (v. a. im Bezug auf den Ort) eine fundamentale Rolle bei der Ausdeutung von kommunikativen Funktionen spielt. Um dieser Komplexität und kontextuellen Spezifität dennoch einen geordneten Rahmen für die Interpretation zu geben, wurden zu Beginn dieser Arbeit (siehe DEFAULT) analytische Basiskategorien auf Basis von Jakobsons Kommunikationsmodell erfasst und hinsichtlich der Forschungsfrage und des Untersuchungsgegenstandes definiert. Zusammengefasst lassen sich diese wie folgt beschreiben (siehe DEFAULT bis DEFAULT bzw. DEFAULT):
- KommunikationsteilnehmerJAK, d. h. potentielle Scritta-Produzenten sowie potentielle und intendierte Rezipienten.
- KontextJAK, wobei hier die ortsspezifischen Daten und zeitlichen Aspekte gemeint sind, mit deutlichem Schwerpunkt auf den Standorten der Scritte.
- KontaktJAK, d. h. die Materialität und Medialität betreffend.
- KodeJAK, im Sinne von semiotischen Ressourcen.
- MitteilungJAK, als zentrale Analysekategorie mit der Unterscheidung nach übermittelter Information (und somit paradigmatischen und syntagmatischen Merkmalen) und der entscheidenden Nachricht, im Sinne von Kommunikationsfunktion.
Offensichtlich sind diese Kategorien eng miteinander verwoben und zwar nicht nur in den tatsächlichen Kommunikationsprozessen, sondern auch auf theoretischer Ebene. Dies bedeutet, dass die Interpretation der prototypischen Daten zu einer dieser Basiskategorien ordnungshalber getrennt erfolgt, jedoch nicht als isoliert verstanden werden darf, sondern global gesehen werden muss. Entscheidend ist daher die letzte Kategorie der MitteilungJAK und dabei die Interpretation der Nachricht, welche auf Basis der Findungen zu den vorangegangenen Kategorien die Gesamtbotschaft – also dominante(n) Kommunikationsfunktion(en) – der Genres zu interpretieren sucht. In diesem Sinne folgt nun die Auslegung der Funktionalitäten der Scritte je nach Domäne und hinsichtlich der analytischen Basiskategorien. Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass es aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, auf alle Aspekte einzugehen und eine erschöpfende Darstellung der Funktionsweisen zu geben, und ich mich daher auf die aus meiner Sicht zentralen Daten und Analysekategorien, die von Domäne zu Domäne bzw. Genre zu Genre unterschiedlich ausfallen können, beschränken muss.
7.1. Funktionalität der POLITIK-Scritte
7.1.1. Kommunikationsteilnehmer – POL
7.1.1.1. Produzenten -POL
Wie in Kapitel festgehalten wurde, gelten bei der Bestimmung der Autorenschaft für Scritte Murali drei grundlegende Annahmen: erstens bleibt immer ein gewisser Grad an Anonymität für die Öffentlichkeit erhalten352, zweitens verweist jede Scritta indexikalisch auf den Produzenten und drittens sind innerhalb der generell anonymen Masse an potentiellen Erstellern verschiedene Abstufungen von komplett anonym bis explizit individualisiert möglich. Wie zu vermuten war, kommt es in dieser Domäne nur äußerst selten zu einer Angabe der Produzenten im Sinne von bspw. Signaturen, wie dies im Beispiel der Scritta in Abb. 114 der Fall ist.
Um nun ableiten zu können, wer als Produzent der Scritte – zumindest für einen Teil der Scritte – gelten kann, besteht die Möglichkeit das Korpus nach bestimmten morphosyntaktischen Merkmalen zu durchsuchen. Eine Abfrage nach den Endungen der ersten Person für Singular und Plural -o und -iamo353 zeigt, dass gerade einmal 25 der insgesamt 374 (aus allen Händen) Verbformen in der ersten Person (Singular oder Plural) geschrieben wurden. Dies und die Tatsache, dass (finite) Verben lediglich zwischen 6 und 8 % der verwendeten Wortarten ausmachen, lässt darauf schließen, dass sich die Autorenschaft nicht anhand dieses Kriteriums ableiten lassen. Auch die Suche nach Personal- oder Possessivpronomina sowie Klitika zeigt spärliche Ergebnisse: gerade einmal 3 % aller (Hand 1) Token innerhalb der 1116 Scritte werden von diesen Wortarten gebildet. Lediglich ein Drittel davon beziehen sich auf den Autor der Texte. Es müssen also alternative Kriterien für die Herleitung der Produzenten in den Texten gefunden werden. Besonders auffällig an Texten der politischen Domäne ist der (typischerweise) hohe Einsatz von bildgraphischen Zeichen und dabei ganz besonders von Ideogrammen,354 wie z. B. <<Keltisches Kreuz>>, <<Hammer und Sichel>> oder <<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>>. Diese Zeichen referieren nicht nur auf (extrem-) politische Frames, sondern dienen gleichzeitig als Erkennungszeichen politischer Gruppierungen355 oder sogar als Gruppenbezeichnung, wie dies bei letztgenanntem Beispiel (<<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>>) explizit genannt wird. Die Verfasser der Texte scheinen demnach Teil einer politischen Gruppierung zu sein (oder sich als Teil einer solchen zu verstehen) und in ihrem Namen die Scritte in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Diese Annahme wird auch dadurch bestärkt, dass bis auf drei Ausnahmen in allen Scritte, in denen das Token noi auftritt, ein weiteres Token (vornehmlich politische Symbole oder Wörter mit eindeutiger politischer oder Gruppen-Referenz) erscheint, welche auf den politischen Frame verweist. Das Gruppenverständnis der Produzenten wird also auch hier eindeutig markiert. Weiterhin lässt sich dieses Verständnis anhand der Listen von verwendeten Eigennamen ableiten, da fast die Hälfte der 55 häufigsten Eigennamen der Domäne Gruppenbezeichnungen darstellen, die direkt oder indirekt auf links- oder rechtsextreme Hintergründe verweisen. Genannt seien etwa die Gruppierungen NO TAV, Azione Giovani, Banda Noantri, NES – Nihil Est Superius, Torpedos oder FGC – Fronte della Gioventù Comunista. Dieses Gruppenverständnis der erstellenden Akteure zeigt sich übrigens auch in einigen Scritte, die Verben in der dritten Person Singular zeigen, bspw. in godot OCCUPA CASA <<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>> (siehe Abb. 119). Weitaus häufiger und typischer ist jedoch der Gebrauch von bildgraphischen Zeichen bzw. politischen Symbolen, die neben den Gruppenbezeichnungen (in Form von schriftsprachlichen Zeichen) wie eine Art Signatur bzw. Logo verwendet werden, um indexikalisch Hinweise zur Autorenschaft zu hinterlassen. Dabei funktionieren diese Logos (sowohl in Form von Gruppenbezeichnungen als auch politischen Symbolen) ähnlich wie bei Werbeanzeigen. Der Produzent bietet durch symbolische Zeichen nicht nur zentrale Deutungsschlüssel für das Textverstehen seitens der Rezipienten (vgl. Diekmannshenke 2011b, 159)356, sondern ‘lotst’ die Aufmerksamkeit des Rezipienten beim Textverständnis, indem auf (politische) Gruppierungen als Urheber verwiesen wird, wie dies in der Werbung ebenfalls durch die Indexikalität der Logos oder Markenzeichen geschieht (vgl. Nöth 2000, 511). Dass sich hinter den politischen Symbolen eine Art von Signatur verbirgt, dafür spricht auch die Positionierung der Zeichen in der Sehfläche (vgl. Schmitz 2011). Betrachtet man die Heatmaps zu den politischen Symbolen in Kapitel , so ist eine deutliche Priorisierung der Zeichenanordnung auf der rechten Seite zu erkennen. Dies entspricht in Leserichtung (von links nach rechts) dem Ende der Aussage, die in Schriftsprache verfasst ist, und somit wird eine Art Autor – i. S. v. ‘Diese Aussage stammt von…’ – suggeriert.357 Ein weiteres Indiz für das zentrale Moment der Gruppenidentifikation findet sich bei genauerer Betrachtung der Eigennamen: Wird auf Gruppenmitglieder aus den eigenen Reihen referiert (bspw. auf Valerio Verbano oder Paolo di Nella) so geschieht dies in erster Linie durch Verwendung des Vornamens – möglicherweise um Nähe und Verbundenheit zu demonstrieren. Kommt es zu Beleidigungen oder Diffamierungen von Personen, wird oftmals entweder der vollständige Name oder der Nachname der anvisierten Person genannt. Dies geschieht wahrscheinlich um Distanz zu schaffen und um die Person zu spezifizieren und explizit anzuprangern. Diese Beobachtung wird für die Genre der Domäne ULTRAS noch deutlicher (s. u.).
Von einer kompletten Anonymität kann produzentenseitig für diese Domäne also nicht die Rede sein, erst recht nicht wenn man bedenkt, dass sich die Produzenten an den Orten ‘einschreiben’, da sie die symphysische Verbindung von Zeichen und Träger an einem bestimmten Ort herstellen und somit Kommunikations- und v. a. Lebensräume schaffen und (mit)gestalten. Innerhalb dieser Lebensräume – in denen sich auch die Rezipienten bewegen – spielen die Gruppierungen demnach eine aktive Rolle, was wiederum bedeutet, dass die Gruppenmitglieder auf anderen Ebenen (d. h. außerhalb der SM) innerhalb dieser sozialen Räume nicht anonym sind.358 Diese fundamentale Verbindung von Produzent/Rezipient – Ort – Werkzeug/Träger wird in den entsprechenden Kapiteln weiter unten genauer beschrieben (siehe DEFAULT und DEFAULT). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Produzenten von Texten dieser Domäne hauptsächlich aus einer Gruppenidentifikation heraus schreiben und darauf in erster Linie durch das Angeben von politischen (Gruppen-) Symbolen und/oder Gruppenbezeichnungen verweisen.
Im Rahmen der kleineren Forschungsarbeit im Jahr 2014 wurde neben der SM-Dokumentation im Bereich der Verkehrswege längs der Metrolinien A und B (siehe DEFAULT) ein ca. 75-minütiges Interview mit G. Petrella, einem damals 25-jährigen aktiven Anhänger der autonomen Szene der sog. autogestiti in und um Tufello, geführt. Das Interview,359 das nach unzähligen Überredungsversuchen und Geduldsproben schließlich stattfand, ist v. a. für die Analyse der Kommunikationsfunktionen der politischen SM von großem Wert, da Petrella nicht nur über eine langjährige Erfahrung in diesem Milieu verfügt, sondern besonders ausführlich auf gezielte Fragen zu Inhalt(en), Aktionen und Reaktionen sowie stilistischen Aspekten antwortete. Die Antworten und Aussagen Petrellas, der zum damaligen Zeitpunkt seit mindestens 10 Jahren aktiv an Hausbesetzungen, Demonstrationen (bspw. im Zuge der NO TAV-Bewegung), sonstigen Engagements des CSA360 Astra 19 und auch dem Erstellen von SM aktiv beteiligt war, helfen dabei Bezüge zwischen den Analysekategorien für das Genre der Domäne POLITIK herzustellen und eine Gewichtung der Faktoren zu etablieren sowie Thesen zu stützen oder Interpretationen auszuschließen. Selbstverständlich sei daran erinnert, dass es sich hier um die Aussagen eines Aktivisten aus der linken Szene handelt und daher nicht allgemeingültig sein müssen.361 Dennoch wird sich zeigen, dass sich die Beschreibungen Petrellas deutlich mit den Interpretationen der Prototypendaten decken und diese stützen. Aus diesem Grund werden Petrellas Aussagen in den entsprechenden Kapiteln miteinbezogen und kommentiert. Bereits für die Kategorie der TeilnehmerJAK bzw. Produzenten ergibt sich eine erste interessante Beobachtung aufgrund von Petrellas Aussage, da dieser im Laufe des Interviews fast ausschließlich aus der ‘Wir-Perspektive’ sprach – die beschriebene Gruppenidentifikation ist also bereits hier erkennbar. Diese Gruppierung bezeichnet Petrella grundlegend als autonomi, die auf Basis der auto-organizzazione agieren und dabei niemals Unterstützung seitens der Regierung suchen, da eine solche angeblich nicht existiere. Petrella stellt diese „fascia autonoma“ in den historischen Kontext der autonomia operaia und distanziert sich von Bezeichnungen wie comunisti oder anarchici, da diese Termini in der Vergangenheit bereits Gruppen bezeichneten und somit bestimmte (teils problematische) Konnotationen in sich tragen (vgl. Petrella 2014, 00:00-01:56)362. Einen deutlichen Hinweis auf Feindbilder und bereits eine erste Erklärung für die frequente Verwendung von Lexemen, wie Antifa oder fascista, gibt Petrella, wenn er festhält „e sicuramente ci definiamo antifascisti“ (vgl. Petrella 2014, 01:57-01:59). Petrellas Aussagen decken sich mit den Beobachtungen, dass in den letzten Jahren zunehmend neue Strömungen im Bereich der (extremen) politischen Bewegungen festzustellen sind, die zwar eindeutig Gemeinsamkeiten mit ‘traditionellen’ Bewegungen zeigen, sich aber gleichzeitig – oft aufgrund von historischen Ereignissen – von diesen distanzieren oder zumindest ideologisch unterscheiden. So sieht Petrella, für sich sprechend und somit aus der Gruppenidentifikation heraustretend, in der Bezeichnung comunista (ein Ausdruck, der ebenfalls in den Texten der SM zu finden ist) keine Beleidigung, würde sich selber jedoch nicht so bezeichnen. Trotz einigen Elementen des Kommunismus, die Petrella faszinieren und denen er ideologisch nahesteht, distanziert er sich von den Kommunisten in der Tradition Lenins oder Mao Tse Tungs, da der Kommunismus im letzten Jahrhundert vielen Menschen das Leben gekostet hat (vgl. Petrella 2014, 02:00-03:45). Diese Tatsache ist auch für die Analyse der politischen SM von Belang, da durch Unterscheidungen, wie sie bei den Subdomänen angesetzt wurden, nach POLITIK LINKS und RECHTS der Anschein erweckt werden könnte, dass eine klare Trennung nach linken und rechten Strömungen i. S. v. ‘Kommunisten gegen Faschisten’ bestehe, was keinesfalls der Realität entspricht. Laut Petrella existiert für die in und um Tufello ansässige linksextreme Gruppierung keine spezifische Bezeichnung, sondern die Gruppe wird geläufig als „movimento autonomo“ oder „CSOA/CSO/CSA“ und ihre Mitglieder als „centro-socialari“ bezeichnet, wobei es den Anschein erregt, dass diese Bezeichnungen eher für Außenstehende eine Rolle spielen würde, nicht jedoch für die Gruppe selbst (vgl. Petrella 2014, 03:54-05:00). Einer der zentralen Stützpunkte für Petrellas Gruppe ist das C.S.A. Astra 19 (Abb. 121), welches sich im Kerngebiet Tufellos befindet. Scritte Murali sind für die Gruppierung des Astra 19 übrigens nur einer der Kommunikationskanäle, wie Petrella angibt. So werden etwa Ankündigungen und Verlautbarungen auch häufig über das Internet und sog. Blogs verbreitet. Interessant ist, dass hier – so Petrella – auch auf besonders relevante Scritte verwiesen wird (vgl. Petrella 2014, 50:27-50:50).
Die stereotypische Annahme, dass es sich bei den Produzenten von Graffiti fast ausschließlich um männliche Jugendliche handelt, welche eine Form des Selbstausdrucks in dieser Form des Vandalismus suchen, trifft nach der Aussage Petrellas nur sehr bedingt auf politische Scritte zu. Mitglieder der politisch aktiven Gruppierung finden sich zumeist in größeren Gruppen zusammen, um die konkrete Aktion des „attacchinaggio“ (Erstellen von Scritte bzw. Anbringen von Tazebao) durchzuführen, wobei jedes Gruppenmitglied je nach seinen Fähigkeiten und Ressourcen eine Aufgabe zugewiesen bekommt. Petrella gibt an, dass der männliche Anteil dieser Gruppen normalerweise tatsächlich überwiegt, aber dass dies erstens darin begründet liegt, die körperliche Sicherheit der Mitglieder zu gewährleisten (dazu weiter unten noch genaueres), und zweitens, dass auch immer Frauen unterschiedlichen Alters anwesend sind. Von 15 bis teilweise 60 oder 70 Jahre sind dann alle Altersklassen vertreten (vgl. Petrella 2014, 49:29-50:09). Jugendliche und novizi werden dabei nicht nur schrittweise in das Vorgehen eingewiesen, sondern auch über die Inhalte ‘erzogen’. Neulinge nähern sich zunächst freiwillig der Gruppe an und werden dann nach dem Prinzip der auto-formazione ‘gebildet’, wobei sie nach und nach aus dem Hintergrund treten und an die handelnde Front der Gruppe und ihrer Aktionen gelangen. Sowohl das ‘Was’ wie auch das ‘Warum’ der Aktionen, zu denen auch das Erstellen der SM zählt, wird so erlernt. Die Teilnahme an der Produktion, wie auch Reaktion in Form von Modifikationen oder außersprachlichen Handlungen, basiert somit auf Erfahrungen (vgl. Petrella 2014, 20:48-20:50). Bei den aktiven Personen aus Tufello, die sich nicht nur am Erstellen der SM beteiligen, sondern auch bei Demonstrationen, Hausbesetzungen oder sonstigen (politisch und/oder ideologisch motivierten) Aktionen mitwirken, handelt es sich meist um Personen aus dem „ambiente popolare“, d. h. Personen, die nicht der „borghesia“ angehören, sondern „dal basso“ stammen und sich eine Stimme verschaffen wollen (vgl. Petrella 2014, 37:11-38:00). Diese Aussage deutet bereits eine der Funktionen von linkspolitischen Scritte Murali an, zumindest wenn man davon ausgeht, dass die Aussagen Petrellas generell für linke Szene gültig ist: Scritte Murali sind ein Sprachrohr für eine Bevölkerungsgruppe, die sich bewusst dieser Kommunikationsform bedient, wobei nicht nur die Inhalte von Bedeutung sind, sondern die Wahl der Kommunikationsform an sich. Darauf werde ich im Verlauf der folgenden Kapitel noch zurückkommen. Petrellas Aussagen bestätigen somit die oben dargestellte Interpretation, dass die Produzenten von politischen Scritte grundsätzlich nicht anonym sein müssen, da die Gruppenmitglieder aktiv an der Mitgestaltung des sozialen und lebensweltlichen Raumes beteiligt sind und dadurch mit Sicherheit in dieser Welt auch namentlich bekannt sind.
7.1.1.2. Rezipienten – POL
Kommunikationstheoretisch kann die Rezipientenkonstellation nach den Grundlagen, wie sie in der Medienlinguistik dargestellt wird, differenziert werden. Gestalten sich die Kommunikationsabläufe bei Massenmedien (wie Fernsehen, Radio usw.) doch ganz anders, als bei Scritte Murali, so lässt sich doch die Unterscheidung zwischen Personen, welche die Scritte wahrnimmt – nicht von Belang ist dabei, ob dies bewusst, zufällig, nebenbei oder gezielt geschieht – und jenen, die vom Produzenten „explizit oder implizit anvisiert“ werden (Burger/Luginbühl 2014, 11). Diese vom Sender intendierte Rezipientengruppe wird als Adressat bezeichnet; als „effektive“ Rezipienten dagegen, all jene, welche die Scritte generell wahrnehmen (vgl. Burger/Luginbühl 2014, 11). Parallel zur grundlegenden Anonymität der Produzenten von SM, liegt auch der Rezipientenseite ein gewisser Grad an Anonymität zugrunde. Um ein deutliches Bild der Rezipienten (wie auch der Perzeptionsprozesse) zu erhalten, bedarf es weiterer Studien unter anderen methodischen Rahmenbedingungen, die im Zuge dieser Arbeit nicht stattfinden konnten. Analysiert man zunächst die sprachlichen Zeichen nach Verbendungen, Personal- und Possessivpronomina sowie Eigennamen hinsichtlich direkt adressierter Rezipienten erhält man spärliche Ergebnisse: nicht einmal 50 Verben (bei 1116 Scritte) sprechen in der zweiten Person direkt Rezipienten oder Rezipientengruppen an, wobei in den allerwenigsten Fällen die intendierte Person oder Personengruppe durch Eigennamen oder Nomen spezifiziert wird, wie dies im Scrittatext in Abb. 122 angedeutet wird. In den meisten Fällen wird jedoch eine nicht weiter eingeschränkte Person oder Gruppierung angesprochen, exemplarisch dargestellt in den Scritte aus Abb. 123 und Abb. 124.
Auf sprachlicher Ebene lassen sich also nur geringfügig Informationen zu den Rezipienten ableiten. Diese Neutralität hinsichtlich der Adressaten, deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Produzenten die breite Masse als Rezipienten ansteuert und nicht Einzelpersonen.363 Weder die Frage, welche Adressaten die Produzenten tatsächlich anvisieren wollen, noch ob diese tatsächlich erreicht werden, kann allein auf der Analyse der vorliegenden Texte in dieser Arbeit endgültig beantwortet werden. Dennoch lassen sich verschiedene Merkmale für Scritte Murali und diese (sowie weitere) Domäne(n) festhalten, wobei sowohl die Adressaten als auch die effektiven Leser von Bedeutung sind. Offensichtlich wenden sich die Produzenten an Minoritäten, d. h. mehr oder weniger klar definierte Rezipientengruppen, mit dem Bewusstsein, dass eine wahrscheinlich weitaus größere Zahl an Personen die Scritte (effektiv) liest. Entscheidend ist, dass es keine klare Trennung zwischen Adressaten und effektiven Rezipienten gibt, sondern Abstufungen und verschiedenste Konstellationen möglich sind.364 Die Rezipienten erkennen auf Basis ihres sozio-kulturellen und lebensweltlichen Hintergrundwissens und anhand bestimmter Merkmale, ob der Text für sie relevant ist oder nicht. Zu den Merkmalen zählen u. a. das Vokabular, Sprachregister und semiotische Aspekte der Scritte. Personen, welche die Hinweise aus diesen Bereichen nicht entschlüsseln können, sind von der Kommunikation – zumindest was die sprachlich-informative Ebene betrifft – ausgeschlossen. Dennoch wird letztlich allen effektiven Lesern (gleichgültig, ob sie zur Menge der intendierten Rezipienten gehören oder nicht) etwas kommuniziert und zwar durch die Wahl dieser Kommunikationsform an sich (siehe dazu DEFAULT) und auch über die Informationen der Mitteilungen (Wortwahl, Inhalte usw.). So schaffen die publizierten Aussagen zu bestimmten Sachverhalten und politischen oder ideologischen Ansichten in Verbindung mit der Angabe von Gruppenzugehörigkeit seitens der Produzenten Hintergrundwissen bei den effektiven Lesern. Durch eine Scritta wie Fascio impara la P8 spara! <<Hammer und Sichel>> (siehe Abb. 125) wird den effektiven Rezipienten die Abneigung seitens einer bestimmten Personengruppe (signalisiert durch die das politische Symbol, welches auf eine linkspolitische Gruppierung schließen lässt) gegenüber einer antagonistischen Personengruppe (signalisiert durch das Lexem fascio/fascista) durch extreme Gewaltbereitschaft (nämlich Waffengewalt gegenüber diesen Personen als ‘Lehrmittel’ zu verwenden) kommuniziert. Nun ist es unerheblich, ob der Rezipient zur Adressatengruppe gehört oder eben ‘nur’ ein effektiver Rezipient ist – diese (vermeintliche) Gewaltbereitschaft wird in Verbindung mit den Produzenten, in deren Namen die Scritta erstellt wurde, gebracht.
Die Frage, ob bei einer solchen Botschaft nun tatsächlich faschistische Gruppierungen oder die Öffentlichkeit als Adressaten anvisiert werden, lässt sich in erster Linie dann beantworten, wenn man die Ortsgebundenheit als integralen Faktor mitberücksichtigt. Erstens lässt sich so die potentielle Menge an effektiven Rezipienten einschränken (nämlich jene, die sich am Standort der Scritta bewegen) und zweitens wird dann deutlich, dass die Faschisten wohl nicht (ausschließlich) als primäre Adressaten verstanden werden, da sich diese konkrete Scritta in einem Gebiet befindet, welches v. a. in sozio-kultureller und politisch-geschichtlicher Hinsicht als klar linkspolitische gesehen und verstanden wird. Die Wahrscheinlichkeit, dort besonders viele Faschisten zu erreichen, ist nicht besonders hoch. Somit muss bei der Beschreibung der Rezipientenprofile grundsätzlich der Standort der Scritte betrachtet werden. Dies geschieht weiter unten in Kapitel . Abschließend kann festgehalten werden, dass eine Ableitung der intendierten Adressaten und der effektiven Rezipienten für dieses Genre ausschließlich im Verbund mit der Ortsgebundenheit stattfinden kann und dies letztlich ganz grundlegend die (prototypische/n) Kommunikationsfunktion(en) der politischen SM mitbestimmt.
7.1.1.3. Exkurs – Modifikationsroutinen – POL
Beim Versuch Graffiti texttypologisch zu beschreiben, wird oft davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine unidirektionale Kommunikationsform handelt, bei der es nicht möglich ist, sich „aktiv ein- oder auszuschalten“ (Schmitz 2016, 336). Dies ist allerdings nur dann gültig, wenn man Graffiti und v. a. SM als eine Art face-to-face-Kommunikationsform versteht.365 Es ist wohl richtig, dass ein Großteil der SM unidirektional erscheinen, da keine schriftlich-kommunikative Reaktion erkennbar ist, aber es existieren sehr wohl Scritte, die direkte Reaktionen im Sinne von „sich einschalten“ zeigen und zwar in Form von Modifikationen des/der Urtexte/s. Bei politischen SM gilt dies sogar für ein Viertel aller Texte. Diese Modifikationen sollen an dieser Stelle beschränkt auf die Kommunikationsteilnehmer interpretiert werden.366
Drei Aspekte der Modifikationsroutinen sind für die Analysekategorie der TeilnehmerJAK von Bedeutung: erstens die Anzahl und Anteile der modifizierenden Hände, zweitens die Modifikationstypen und -bewertungen und drittens die primär anvisierten Zeichen beim Modifikationsprozess. Aus den Daten zu den beteiligten Händen (siehe DEFAULT) lässt sich erkennen, dass über 95 % der Modifikation durch maximal drei weitere Hände (d. h. Personen) geschieht, wobei die Modifikationen zu 66 % durch eine weitere Hand geschieht. In Verbindung mit der generellen Modifikationsrate von etwas über 25 % in dieser Domäne, bedeutet dies, dass bestimmte Rezipienten auf jede vierte politische Scritta direkt auf dem Träger schriftlich bzw. visuell (bspw. durch Elision oder Rasur) reagieren und dabei in über der Hälfte der Fälle die schriftliche Auseinandersetzung nach einer schriftlichen Reaktion (also Hand) beendet ist. Etwas verschoben zeigen sich die Werte für die Domäne ULTRAS, wo Modifikationen aus Hand 2 ‘nur’ noch 52 % einnehmen und die Anteile für die Hände 3 und 4 im Vergleich höher sind. Der Drang zu modifizieren ist seitens der Rezipienten bei ULTRAS-Texten also noch höher.367 Besonders deutlich sind die Daten zur Rezipienten-Haltung gegenüber den Urtexten bei modifizierten Texten: Die fünf häufigsten Modifikationsbewertungen (entspricht 71 %) sind Negationen, gleichgültig ob es sich um Elisionen, Substitutionen, Additionen, Kommentare oder Graph-Rasuren handelt. Affirmationen (gleich welchen Typs) treten lediglich achtmal in dieser Domäne auf. Dies zeugt von einer klar aversiven Haltung der reagierenden Rezipienten gegenüber den Botschaften der Produzenten des Ursprungtextes. Interpretiert man schließlich die Daten bzgl. der primären Modifikationsziele, werden die Ableitungen der in den vorangegangenen Kapiteln zu den Teilnehmern bestätigt. Die mit Abstand am häufigsten modifizierten Token sind politische Symbole, Nomen und Eigennamen, die direkt oder indirekt mit dem politischen Frame assoziiert werden (können) sowie Substantive, die zur Wertung der eben genannten politischen Nomen und Eigennamen verwendet werden, wie etwa Eigenname/Nomen + boia. So werden besonders häufig Keltische Kreuze, Hammer und Sichel-Symbole oder Hakenkreuze durch Elision oder Rasur entfernt oder durch (der politischen Gesinnung nach) konträre Symbole substituiert. Bspw. wird das Symbol <<Hammer und Sichel>> negierend durch Zeichen, wie <<Keltisches Kreuz>> oder <<Hakenkreuz>>, substituiert oder umgekehrt. Dadurch dass es v. a. gruppenbezogene Zeichen sind, die modifiziert werden und dies oftmals anhand ebenfalls gruppenbezogener Zeichen, die sich lediglich auf semantischer Ebene von den Zeichen im Urtext unterscheiden, wird die zentrale Bedeutung der oben beschriebenen Gruppendynamik unterstrichen, was darauf schließen lässt, dass produzenten- und rezipientenseitig ein starkes Gruppenverständnis zugrunde liegt, aus dem heraus die Scritte erstellt und verstanden werden und auf dem die Reaktionen fußen. Die Beispiele in Abb. 128, Abb. 126 und Abb. 127 verdeutlichen, dass die Informationen in Form von sprachlichen Zeichen dabei in den Hintergrund rücken können oder sogar geteilt werden und der Verweis auf politische Grundausrichtungen (links- oder rechtsextrem) und die damit verbundene Gruppenzugehörigkeit entscheidender ist. In den Palestina libera Beispielen ist der Text identisch, die Angabe der politischen Lager dagegen ausschlaggebend und sinnstiftend für die Texte. Dies wird (u. a.) durch die gezeigten politischen Symbole (<<Hammer und Sichel>> sowie <<Keltisches Kreuz>>) erreicht.368 Im Text von Abb. 128 wird sogar nur das politische Symbol der Hausbesetzer (<<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>>) durch ein keltisches Kreuz ersetzt. Diese fundamentale Bedeutung des Gruppenverständnisses, die für die Kommunikationsteilnehmer generell gilt, hat außerdem drastische Auswirkungen auf die Funktion der politischen Scritte allgemein, da sie im Verbund mit der Verteilung im Stadtgebiet dafür spricht, dass es sich um Territorialmarkierungen seitens politisch aktiver Gruppierungen durch Scritte Murali handelt. Darauf werde ich im nächsten Kapitel noch genauer eingehen.
Perzeption spielt bei der Kommunikation durch SM eine besonders zentrale Rolle und Modifikationen (wie auch Nicht-Modifikationen) resultieren dabei als Teilergebnisse der komplexen Perzeptionsprozesse. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, für jeden Teilbereich der Genres die perzeptionsbezogenen Besonderheiten herauszustellen und diese Abläufe gleichzeitig von großer Bedeutung innerhalb der Kommunikationsstrategien sind, möchte ich an dieser Stelle die Perzeptionsprozesse an einem Beispiel skizzieren. Während der Erhebung im Gebiet Tufello ist mir schon damals eine großformatige Totenscritta bzw. -mural ganz besonders aufgefallen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinerlei Analysen durchgeführt, sondern hatte lediglich einen Großteil des Gebietes Tufello abgelaufen. Die besagte Scritta (Abb. 131) erschien mir schon damals atypisch, obwohl sie auf formaler und inhaltlicher Ebene alle Eigenschaften eines Totenmurals zeigte. Nachfolgend möchte ich kurz erklären, wie ein möglicher Perzeptionsprozess in diesem Zusammenhang aussehen könnte und weshalb die Scritta atypisch ist.369
Bei der Beschreibung des Perzeptionsprozesses orientiere ich mich am Arbeitsmodell von Purschke (2011), welches sich in seinen Grundlagen ebenfalls auf das Kommunikationsmodell von Jakobson (1979) bezieht und mit „mentalen Kategorisierungsroutinen“ (etwa Prototypen) arbeitet (2011, 48-49). Das in Abb. 130 gezeigte Schema der größtenteils automatisierten Perzeptionsprozesse ist eine Adaption von Purschkes Parametern der „ungestörten Kommunikation“ (2011, 76), welches ich für eine Reaktion ‘Modifikation’ bzw. ‘Nicht-Modifikation’ angepasst habe.
Ob die Kommunikation „im Hinblick auf die Bewältigung von situativen Erfordernissen“ erfolgreich ist, „hängt dabei direkt von individuell-kognitiven Prozessen ab“ (Purschke 2011, 50), wobei hier v. a. das Hintergrundwissen der Teilnehmer und die Aufmerksamkeit der Rezipienten ausschlaggebend sind. Zentral bei Purschkes Modell sind vier Parameter: Situation (Kontext), Perzeption (Aufnahme), Kognition (Verarbeitung) und Projektion (Ausgabe). Die Parameter umfassen dann verschiedene konstitutive Faktoren, die grundlegend als dynamische und komplexe Prozesse verstanden werden müssen und wie folgt zusammengefasst werden können:370
-
- Situation/Kontext (vgl. Purschke 2011, 51-54)
Purschke beschreibt die Situation bzw. den Kontext „als Ausschnitt individueller lebensweltlicher Systeme […], der sich einerseits durch eine spezifische Struktur von Objekten, Sachverhalten und Subjekten auszeichnet und andererseits interaktionell durch die subjektive Interpretation und intersubjektive Aushandlung im Hinblick auf spezifische Handlungsziele definiert wird“ (Purschke 2011, 53). Das Parameter betrifft also für die Teilnehmer perspektivisch wichtige Fragen zu ‘Wo?’, ‘Wann?’, ‘Wer?’, ‘Was?’ und ‘Wozu?’ (also Verfasstheit, Konstellation, Intentionalität und Interpretation), beim Erstellen und Verstehen der Scritta. - Perzeption (vgl. Purschke 2011, 57-71)
Das Parameter der Perzeption ist als physiologischer, psychologischer und sozial bedingter Prozess zu begreifen, da er sensorische Prozesse und die Fokussierung betrifft, wie z. B. die Auffälligkeit von Reizen, die Erfahrung über die Wahrscheinlichkeit von Reizmustern in spezifischen Kontexten, die Erwartung über Verläufe von Handlungsmustern und die Bedeutung von Reizen an sich. Dies betrifft also einerseits bottom-up– (Sensorik) und andererseits top-down-Prozesse, wenn die Reize nach der sensorischen Aufnahme über (persönliche) Erfahrungen, Hintergrundwissen und sozio-kulturelle Hintergründe zu Perzepten integriert werden. Dabei werden jedoch auf keinen Fall alle Reize integriert, sondern dieser Schritt des Wahrnehmungsprozesses „unterliegt […] vielfältigen Einflüssen, etwa durch Erwartungen, Konzentration, Suche und selektive Aufmerksamkeit“ (Purschke 2011, 58). Diese Interpretation der Reize („Integration von Perzepten“, Purschke 2011, 62) wird von aktivierenden Prozessen (Aktivierung) bedingt, was v. a. das „komplexe Zusammenspiel von Emotionen, Motivationen und Einstellungen“ meint und damit die Fokussierung bzw. Aufmerksamkeit betrifft (Purschke 2011, 62-63). Schließlich ist auch das (Vor-) Wissen in diesem Teilprozess der Perzeption von entscheidender Bedeutung, d. h. das dynamische lebensweltliche Wissen der Teilnehmer, basierend auf der kontinuierlichen und situativen Interaktion in der Welt und den sozio-biographischen Umständen. Prototypen sind hier, wie auch bei der Kognition (3., s. u.) ganz entscheidend. - Kognition (vgl. Purschke 2011, 73-75)
Dieser Teilprozess umfasst kategorisierende Abläufe der Informationen zu Klassen, Konzepten, Heuristiken und prototypisierten Schemata sowie die Kombination dieser Informationen zu Hypothesenbildung. Diese Hypothesen werden dann gerahmt, d. h. es kommt zur Abwägung möglicher Entscheidungsvarianten, welche schließlich evaluiert werden, um (eine) passende Variante(n) auszuwählen. - Projektion (vgl. Purschke 2011, 55-57)
Zusammengefasst ist damit der dynamische Prozess der „intentionale[n] Veräußerung eines spezifischen Teils der Innenwelt in die Außenwelt unter Zuhilfenahme geeigneter Mittel“ gemeint, bei dem Informationen als Produkt dieses Prozesses zwischen „Selbst und Umwelt“ vermittelt werden (Purschke 2011, 55-56). Wie diese Information strukturiert ist und welche Form und Gehalt sie hat, ist von Gegenstand der Interaktion, der gewählten Dimension (geschriebene oder gesprochene Sprache), der Anforderung sowie der Konfiguration des Informationsträgers abhängig. Die beiden letztgenannten Bedingungen würden im Fall des hier betrachteten Beispiels bedeuten, ob ein Modifikationstyp als Bewältigungsstrategie in Frage kommt (Anforderung) und – wenn ja – wie die Modifikation aussehen könnte, also ob sie auf Satz-, Token- oder Graphebene stattfinden sollte (Konfiguration).
- Situation/Kontext (vgl. Purschke 2011, 51-54)
Wie man sehen kann, erscheinen hier verschiedene Aspekte, die im Rahmen der theoretischen Vorarbeiten der vorliegenden Arbeit als wesentliche Bedingungen beschrieben wurden (siehe DEFAULT und besonders DEFAULT). Der typisierte Ablauf der Interaktion mit den eben beschriebenen Parametern kann nun auf die SM übertragen werden und letztlich die Reaktion (Nicht-Modifikation) als Produkt des Leserurteils für das konkrete Beispiel der erwähnten Scritta (Abb. 131) interpretiert werden, woraus sich allgemeine Beobachtungen für die Kommunikationsstrategien der (politischen) Scritte ableiten lassen.371
Zu 1. Situation/Kontext:
Von höchster Bedeutung ist hier die Verfasstheit der Scritta, d. h., wo befindet sich ihr Standort und auch wann sie erstellt wurde. Das Totenmural befindet sich im Kerngebiet von Tufello, das zu den von Linksautonomen dominierten Gebiete zählt (s. u.), und wurde bereits 1998 erstellt,372 d. h., bei der Erfassung 2016 bestand es bereits seit 18 Jahren. Außerdem von Belang für die Situation ist die Konstellation oder wer die Produzenten sind und was in der Scritta als Gesamtprodukt zu sehen ist. Laut dem Bericht auf repubblica.it (Caccia 1998) sind die Produzenten des Textes ultra-rechtsextreme Freunde und Bekannte von Fabio Losacco gewesen, die bewusst bei der Erstellung als Gruppe aufgetreten sind, was bereits darauf hinweist, dass die Aktion seitens der dominanten Ortsgruppe alles andere als erwünscht war. Zu sehen ist ein Totenmural zu Ehren von Fabio Losacco, der mit nur 23 Jahren erschossen wurde. Die Intentionalität, also das ‘Wozu?’, kann als ‘Ehrung des und Erinnerung an den Verstorbenen’ verstanden werden. Besonders wichtig ist, dass sich die Scritta in unmittelbarer Nähe des ursprünglichen Wohnortes des Verstorbenen befindet. Der Ort wurde also bewusst gewählt.
Zu 2. Perzeption:
Hinsichtlich der Fokussierung ist nun bedeutungsvoll, dass die Scritta aufgrund ihrer Größe und Gestaltung für den Rezipienten besonders salient ist, wobei nicht einmal die einzelnen Elemente, die in der Scritta gezeigt werden, rezipientenseitig bekannt sein müssen (Namen, emblemartiges Zeichen mit den Farben der italienischen Flagge, subdomänenspezifische Lexik usw.), sondern bereits die Abwesenheit von Symbolen aus dem linkspolitischen Bereich oder der Ultraszene ist hier auffällig, da solche Symbole (wie auch Inhalte und sonstige Elemente) für dieses Gebiet als Norm begriffen werden können (s. u.). Aus Sicht der Anwohner (und damit der primären potentiellen Rezipienten) ist die Wahrscheinlichkeit, eine faschistische Scritta – dazu gleich mehr – an diesem Standort anzutreffen, erfahrungsgemäß äußerst gering, was eine Modifikation durch die ortsansässige, antifaschistische Gruppe erwartbar macht. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass potentielle Interaktionsteilnehmer aufgrund des Kontextes eine Modifikation anstreben würden. Man kann hier davon ausgehen, dass den Anwohnern des Gebietes zu einem Minimum der Zweck solcher Totenbilder bekannt sein dürfte, da eine besondere, aber auch typische Form der politischen Scritte die Totenscritte sind und v. a. in diesem Gebiet eine hohe Anzahl an solchen Totenehrungen zu finden sind. Zum Vor- und lebensweltlichen Wissen gehört aber auch, dass die hier verwendete Lexik sowie die italienische Flagge (s. u.) als Senderkennungen für eine rechtsextreme Produzentengruppe begriffen und somit als Feindbild verstanden wird. Außerdem wird vielen der Todesfall von Fabio Losacco und die Umstände dazu bekannt sein und ebenso Teil des Wissens der Rezipienten.
Zu 3. Kognition:
Bei der Kategorisierung sind etwa die Lexik (eroe, eletto, dinastia und pretoriani)373 und die Nationalflagge in Form eines Emblems für die Rezipienten ausschlaggebend, da beides eindeutig einen Verweis auf rechtspolitische Kategorien gibt (siehe DEFAULT und DEFAULT). Auch alle weiteren Elemente und Wissensbestände (Wissen über Fabio, den Standort und das Gebiet, die verschiedenen politischen Gruppen und deren Vergangenheit usw.) fließen in die Kategorisierung ein und werden über Schemata, Konzepte oder prototypische Strukturen klassifiziert und zu Hypothesen kombiniert. Demnach müsste die Scritta aufgrund der (faschistischen) Sendergruppe in diesem Gebiet übermalt/modifiziert werden. Gleichzeitig handelt es sich jedoch um eine Totenscritta, die – wie ein Blick auf die Statistik zeigt – nie modifiziert werden, wohl auch weil sich die Teilnehmer über die Konsequenzen einer solchen Modifikation, die etwa als Entehrung des Toten interpretiert werden könnte, bewusst sind. Dass die Scritta während des Tages in aller Öffentlichkeit und im Schutze einer größeren, vermutlich gewaltbereiten Gruppe erstellt wurde, muss zusätzlich beim Abwägen berücksichtigt werden, da die Sendergruppe im Falle einer Modifikation sicherlich entsprechend reagieren würde. Letztlich läuft die Rahmung also auf zwei grundlegende Entscheidungsmöglichkeiten hinaus: Erstens, die Scritta wird modifiziert, was mit großer Wahrscheinlichkeit einen ernsthaften und eventuell gewalttätigen Konflikt mit der Sendergruppe zur Folge hätte und außerdem eine Totenscritta ‘entehren’ würde, was vermutlich als nicht hinzunehmender Tabubruch verstanden werden würde. Zweitens, wird der Text nicht modifiziert, was bedeutet, dass die ortsansässige Gruppe einen nicht zu übersehenden Text ihres größten Erzfeindes im eigenen Gebiet dulden müssten. Die zweite Möglichkeit ist, wie man im Verlaufe des Kapitels sehen wird, eigentlich ausgeschlossen. Darauf basierend findet dann die Evaluation statt und, wie zu sehen ist, kam es auch nach 18 Jahren zu keiner Modifikation. Die Feinheiten, die schließlich zur Entscheidung geführt haben, können natürlich nicht endgültig bestimmt werden, lassen sich aber in ihren Grundzügen vermuten, wobei ein Vergleich mit den anderen politischen Scritte als Raster dient. Zu diesen Feinheiten zählt zunächst die Tatsache, dass bestimmte Elemente (Lexik, Typographie und Flagge) zwar eindeutig auf rechtspolitische Sender verweisen, dies aber nicht auf für faschistische Gruppen typische Weise tun. Typischerweise wäre die Scritta nämlich mit rechtsextremen Symbolen (etwa keltisches Kreuz) versehen, wie dies z. B. bei der Paolo Di Nella-Scritta (s. o.) der Fall ist. Auch auf typographischer Ebene ist die faschistische Markierung nur in stark abgeschwächter Form zu erkennen, da hier zwar Ansätze des Fascio-Fonts zu erkennen sind, aber bei weitem nicht in dem Maße, wie für rechtsextreme Totenscritte zu erwarten. (Siehe Abb. 133 bis 136 für einen Vergleich.) Eine weitere Feinheit, die sich zwar an dieser Stelle nicht erklären lässt, aber in den Statistiken deutlich erscheint, ist, dass Totenscritte kaum durch gegnerische Gruppen modifiziert werden (dürfen) und erst recht keine Totenmurales in dieser Größe. Man kann also davon ausgehen, dass die Modifikation eines Totenmurales weitaus größere Folgen hätte, als das Übermalen anderer Texte. Und schließlich darf die Tatsache, dass Fabio Losacco zwar bekanntermaßen rechtsextreme Einstellungen oder zumindest Freunde hatte, dennoch ein Anwohner des Viertels war, nicht unberücksichtigt bleiben. Hinzu kommt, dass Totenmurales in dieser Größe an spezifischen Orten erstellt werden, die von herausragender Stellung im Leben des Verstorbenen waren, etwa dem Wohnort, der Ort an dem die Person zu tode kam oder an speziellen Orten des Wirkens. Auch dies dürfte den Teilnehmern bekannt sein, wodurch (dies gilt für beide Seiten) die Wahl des Standortes seitens der faschistischen Freunde Fabios nicht zwangsläufig als Provokation verstanden werden muss, sondern sich durch diesen Usus der Ortswahl erklären lässt.
Zu 4. Projektion:
Wie in der Abbildung der Scritta zu sehen ist, wurde der Text nicht modifiziert, was also letztlich die Veräußerung der ortsansässigen Gruppe gegenüber der Sendergruppe darstellt. Das geeignete Mittel ist das Nicht-Modifizieren, was in diesem Kontext – also v. a. hinsichtlich des Standortes – besonders aussagekräftig ist.
Auch wenn diese qualitative Analyse in Bezug auf die Perzeption lediglich in ihren Grundzügen umrissen wurde, lassen sich letztlich für beide Teilnehmerseiten folgende Rückschlüsse ableiten. Die Produzenten sind sich der komplexen Perzeptions- und Kognitionsprozesse der effektiven Rezipienten bewusst und haben v. a. die kontextuellen Faktoren – an erster Stelle die standortsbezogenen Bedingungen – im Blick, wofür bspw. das Auftreten in einer verteidigungsfähigen Gruppe beim Erstellen spricht. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren, wählen sie sozusagen eine ‘Lightversion’ eines Totenmurales, welches zwar den Toten ehrt und auch ausreichend deutlich die politische Gesinnung kommuniziert, dabei aber gleichzeitig nicht zu provokativ erscheint und diesbezüglich von der eigenen Norm bzw. Prototypikalität der rechtsextremen Totenmurales abweicht. Die Rezipienten sind sich ihrerseits bewusst, dass die Produzenten diese abweichende Form gewählt haben, was ihnen (den Rezipienten) kommuniziert, dass die Rechtsextremen die Perzeptionsprozesse berücksichtigt haben. Hinzu kommt, dass die Reaktion auf ein modifiziertes Totenmurales in dieser Form drastische Konsequenzen nach sich ziehen würde.
7.1.2. Kontext (Ort, Zeit) – POL
7.1.2.1. Ort
Die Basiskategorie KontextJAK ist einer der grundlegendsten Faktoren bei der Sinnstiftung und Funktionalität der Scritte Murali generell und somit auch für die Domäne POLITIK. Dabei ist es ganz besonders der Ort, der mit den Scritte Murali in einer dynamischen Wechselwirkung steht: Scritte Murali existieren erst durch die Erstellung an einem konkreten Standort und schaffen gleichzeitig durch ihre Existenz kommunikative Räume in bestimmten Gebieten der Stadt. Die Orte werden dabei von den Produzenten nicht zufällig gewählt, wie die Betrachtung der Koordinaten in Karte IK 29 bestätigt, – dies gilt ganz besonders für politische Scritte.
IK 29: Standorte der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige
Zunächst ist die Verteilung der 1117 Scritte in den Erhebungsgebieten auffällig. Offensichtlich konzentrieren sich die Produzenten dabei auf bestimmte Stadtgebiete und meiden zentrumsnahe Gebiete, wie die Funde (bzw. ‘Nicht-Funde’) entlang der Metro-Linien zeigen. Längs der Metro-Linien nehmen die Scritte drastisch ab, je näher man der Hauptstation Termini und den zwischen Termini und der Vatikanstadt gelegenen Touristenzentren kommt. An den Hauptverkehrsadern entlang der Zugverbindung Metro B374 sind gerade einmal 12 Scritte zu finden, wobei die Form der meisten dieser Scritte ebenfalls für die Unpopularität der Gebiete spricht. Es handelt sich nämlich um entfernte oder überstrichene Scritte (siehe bspw. Abb. 137 oder Abb. 138) sowie scheinbar ad-hoc erstellte, kleinformatige Scritte auf Plakaten375 (siehe z. B. Abb. 139). Lediglich vier Scritte heben sich bei diesen formalen Merkmalen ab, sprich, es handelt sich um Scritte, die näher an den prototypischen POLITIK-Scritte liegen. Zwei befinden sich auf einem Sicherungskasten etwas abseits des Colosseums, zwei weitere liegen abseits der Hauptverkehrswege. Nichtsdestotrotz zeigen die Inhalte politische Parolen, die teilweise appellativ fungieren und/oder auf politische Gruppen verweisen. Erst ab der Station Via Ostiense (Metro B) bzw. dem Gebiet San Giovanni – d. h. in einiger Entfernung zu den touristischen Hauptattraktionen – treten vermehrt Scritte auf (siehe interaktive Karte oben).
Dieses Nichtvorhandensein von politischen Scritte an solch hochfrequentierten Orten ist besonders für die Domäne POLITIK auffällig, da man vermuten würde, dass die politisch aktiven Gruppen ihre Parolen und Appelle aus Propagandazwecken möglichst vielen Rezipienten kommunizieren möchten. Jedoch zeigt sich das genaue Gegenteil. Die Scritte finden sich am häufigsten in Gebieten, die vornehmlich Wohngebiete bilden und keinesfalls als Touristenzentren gelten. Dies zeigt sich an den nördlichsten Untersuchungsgebieten376, wo die Konzentration mit 694 Scritte deutlich am höchsten liegt. Die nächsthöheren Frequenzen finden sich in den Szenevierteln San Lorenzo und Pigneto sowie im bekannten Garbatella. Besonders San Lorenzo und Pigneto sind nicht nur für die vielen Bars und das Nachtleben bekannt, sondern eben auch für die zahlreichen Scritte Murali. Dies lässt sich auch in der Qualität der Scritte erkennen: es sind dort zunehmend großformatige, farbenreiche und aufwendigere Scritte zu finden, die teilweise als Street-Art (siehe DEFAULT und Abb. 142-143) bezeichnet werden können. Die Scritte dort stehen oftmals in scharfem Kontrast zu den recht plump erscheinenden Parolen-Scritte in Tufello, obwohl sich die Inhalte auf sprachlicher Ebene stark ähneln. Diese Konzentration der Scritte auf Wohn- und Lebensräume der Stadtbewohner und die Meidung der touristenüberlaufenen Zonen zeigt sich deutlich, wenn man das Untersuchungsgebiet Vatikanstadt-Prati betrachtet. Im Gebiet um den Haupteingang des Peterdoms (Richtung Via della Conciliazione) finden sich überhaupt keine Scritte. Diese tauchen erst auf, wenn man sich den westlich und nördlich der Vatikanstadt gelegenen Wohngebieten nähert. Diese Gebiete sind trotz der geographischen Nähe zum Petersplatz bei weitem nicht so stark von Touristen frequentiert, zeigen aber zunehmend politische Scritte.
Dass das städtische Zentrum und den Touristenattraktionen, die eine große Menge an potentiellen, effektiven Rezipienten bieten würde, dabei jedoch kaum politische Scritte aufweisen, liegt – bezogen auf linkspolitische Scritte – laut Petrella daran, dass die Scritte in diesen Gebieten innerhalb kürzester Zeit entfernt werden und die Gefahr aufgrund der hohen Polizeipräsenz bei der Aktion erwischt zu werden relativ hoch ist, was Geldstrafen von ca. 1500 € nach sich zieht. Die juristischen Konsequenzen stehen dabei jedoch weniger im Vordergrund, da sich die autonomen Aktivisten regelmäßig in zahlreiche riskante Situationen begeben, die körperliche Schäden oder Strafverfahren nach sich ziehen können. Vielmehr ist das unmittelbare Entfernen der Texte durch offizielle Stellen ausschlaggebend, dass das Zentrum gemieden wird, da die Parolen und Phrasen somit nicht bei den Rezipienten ankommen (vgl. Petrella 2014, 35:49-37:05).
An dieser Stelle möchte ich kurz auf das Nicht-Vorhandensein von SM bzw. Graffiti generell eingehen. Arbeiten, die sich mit Sprache im öffentlichen Raum beschäftigen – meist zusammengefasst unter der Disziplin des Linguistic Landscape –, befassen sich fast ausschließlich mit der Präsenz, d. h. „the emplaced, material existence“ (Herv. im Orig.; Karlander 2019, 199), von (Sprach-) Zeichen im Raum, nicht jedoch mit der Nicht-Existenz von solchen Zeichen. Gerade für die Untersuchung der Ortsabhängigkeit von SM muss jedoch auch das Nicht-Vorhandensein von Texten in bestimmten Gebieten mitberücksichtigt werden, wie auch die Aussage von G. Petrella bestätigt. Dabei muss grundlegend zwischen dem Entfernen von SM oder Graffiti und dem produzentenseitigem Verzicht auf das Erstellen differenziert werden. Beide Aspekte bedingen sich wechselseitig, da das regelmäßige Entfernen von SM eben bewirkt, dass Scritte-Produzenten schließlich vom Erstellen solcher Texte absehen. Dies gilt – nach Aussage von G. Petrella und wie dies auch die Funde im Erhebungsgebiet bestätigen – nicht für alle Stadtgebiete gleichermaßen. Speziell für entfernte Scritte, d. h. übermalte, anhand von gewissen Chemikalien entfernte oder im Falle von Tazebao abgerissenen Plakaten, gilt, dass das Entfernen an sich eine semiotische Aktion ist, die nicht ‘Nichts’ hinterlässt, sondern im Gegenteil selber ein Zeichen schaffen indem sie Zeichen entfernen, wie David Karlander treffend zusammenfasst:
Rather, the lack of graffiti in a certain place at a certain time is a fragile, and often transparent, practical achievement – a momentary realisation of an officialised vision of space and semiosis. In line with this view, it is clear that the nonexistence of graffiti is not the same thing as a lack of semiosis, but a form of semiosis in its own right. […] [P]rofessedly anti-semiotic practices of graffiti erasure do not produce voids, but extends and modifies semiosis. Inadvertently enacting a semiotic double bind, they create signs by eradicating signs.(Karlander 2019, 211)
Das Entfernen von Graffiti und SM ist die materialisierte (oder zumindest sichtbare) Manifestation eines, wie es Karlander bezeichnet, „anti-graffiti regime“ und das Fehlen oder auch der sichtbare Versuch des Entfernens377 von Graffiti ist ebenso ein semiotischer Akt, wie das Erstellen von Graffiti es auch ist (2019, 213). Diese Akte verweisen in erster Linie indexikalisch auf eine normalerweise offizielle, höhere Instanz. Wenn nämlich im Auftrag der Regierung oder der Eigentümer der Trägerobjekte SM entfernt werden (könnten) und dies den Kommunikationsteilnehmern bewusst ist – wovon ausgegangen werden kann – so müssen die Produzenten diese Tatsache bei der Ortswahl mitberücksichtigen und dahingehend ihre Entscheidung treffen, wie dies Petrella angibt. Somit ist die theoretisch freie Wahl von Standort auf praktischer Ebene entscheidend eingeschränkt. Noch grundlegender jedoch ist, dass die Aktion des Erstellens an sich ein funktionaler Akt ist, wie ich bereits zu Beginn der Arbeit erwähnt habe. Die Kommunikationsteilnehmer wissen, dass es sich um transgressive, also letztlich illegale, Akte handelt, die bewusst gewählt wurden, um eine Botschaft zu senden, wobei diese Grundlage die Perzeption seitens der Rezipienten entscheidend beeinflussen kann. Dies schlägt sich nicht zuletzt in Begriffen wie Geschmiere oder Vandalismus in Bezug auf SM nieder. Gleichzeitig bedingt das Nicht-Vorhandensein, gleich ob dies aus dem Nicht-Erstellen oder durch das Entfernen von Graffiti resultiert, dass ein Kontrast zwischen Orten, an denen SM sichtbar und solchen an denen sie nicht sichtbar sind, entsteht. Für Touristen, die sich hauptsächlich in den ‘sauberen’ Zonen der Attraktionen bewegen, mag das weniger deutlich sein, aber die Stadtbewohner von Rom (oder auch jeder anderen Stadt in Europa oder sogar weltweit) bilden ihr Hintergrundwissen auf Basis der SM-Standorte. Das bedeutet, dass die (starke und dauerhafte) Präsenz von SM in bestimmten Zonen u. a. kommunizieren, dass die Produzenten in diesen spezifischen Räumen auf gewisse Weise dominant sind, da ihre transgressiven Akte nicht sanktioniert werden. Ob dies am Mangel von finanziellen Mitteln liegt, da das Entfernen i. d. R. äußerst kostspielig ist, ist dabei zunächst unerheblich. Letztendlich kann dies auch dafür sprechen, dass SM und die dahinter stehenden Gruppierungen (im Falle von politischen Scritte) in bestimmten Zonen mindestens geduldet sind oder sogar als integraler, sozio-kultureller Bestandteil verstanden werden. Bezogen auf die Kategorie des Ortes, sind es demzufolge in Tufello oder San Lorenzo die politischen Gruppierungen, die ihre Dominanz (auch gegenüber dem italienischen Staat) durch die SM demonstrieren, indem sie sich durch die Texte in den Raum einschreiben und dies durch die hohe Frequenz der Scritte unterstreichen. Dies gilt ganz besonders für Stadtviertel wie San Lorenzo, da sich die teilweise aufwendigen Murales nur schwerlich unbemerkt und somit ohne rechtliche Konsequenzen erstellen lassen.
Die Aktivisten des C. S. A. Astra 19 halten im Sozialraum Tufello einen besonders hohen Stellenwert inne und erfahren daher große Akzeptanz bei den Einwohnern. Nicht nur die oben beschriebene Heranführung von Jugendlichen an die ideologischen und politischen Ansichten des C.S.A., sondern auch die omnipräsenten politischen Scritte spielen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Wertesystemen innerhalb dieses Sozialraumes. Klee unterstreicht die Bedeutung von Sozialräumen bei der Bildung von Wertesystemen und politischen Ansichten sowie die Beteiligung von politischen Graffiti in diesem Zusammenhang:
Die Strukturen des Sozialraums umfassen diverse sozialisatorische Familienmilieus und -traditionen, nachbarschaftliche Bezüge und Mitgliedschaften in religiösen, kulturellen, sportlichen, politischen, freizeitbezogenen oder soziokulturellen Zuordnungsgruppen, die Kindertagesstätten und Schulen sowie sozialisationsunterstützende Institutionen bis hin zur betrieblichen Sozialisation und Traditionspflege […]. […] [Es] entwickeln sich hierbei häufig auch spezifische Werte- und Sanktionssysteme und entsprechende Ritualisierungsformen, sowie diverse Formen von Arrangements bzw. interner Abgrenzungen. […] Graffiti können dabei als Artefakte sozialräumlicher Identifikation verstanden werden.(Klee 2010, 116-117)
Laut G. Petrella sind die SM nicht nur fester Bestandteil von Tufello, sondern ortsansässige Personen suchen bestimmte Informationen eher „sui muri della città“ als in den Zeitungen (vgl. Petrella 2014, 27:55-28:42). Politische Gruppen können nach einiger Zeit eine solche Dominanz und Akzeptanz innerhalb ‘ihres’ Gebietes – siehe dazu weiter unten – erlangen, dass keiner der Anwohner die Polizei verständigt oder gar einschreiten würde, selbst wenn das Verfassen von Scritte vor ihren Augen geschieht. Laut Petrella schreitet nicht einmal mehr die Polizei selber ein, wenn sie Aktivisten bei den Sprühaktionen antrifft (vgl. Petrella 2014, 55:55-56:46). Ob dies tatsächlich an der Akzeptanz und Duldung der Gruppe oder eventuell an der proklamierten Gewaltbereitschaft der extremen Gruppierungen liegt, sei dahingestellt.
Neben den Verteilungsmustern im Erhebungsgebiet auf makrostruktureller Ebene, zeigen sich auch auf mikrostruktureller Ebene typische Muster. Nimmt man bspw. das Gebiet Tufello in welchem die Konzentration von politischen Scritte besonders hoch ist, zeigen sich verschiedene Muster bei der Ortswahl für die Texte: Bestimmte Inhalte und Formen werden an vielfrequentierten Verkehrspunkten erstellt, andere dagegen an eher verkehrsberuhigten Punkten. Zu den vielfrequentierten Ortspunkten zählen sowohl Punkte, die mobil (z. B. mit dem Auto oder zu Fuß) angesteuert oder passiert werden, etwa Kreuzungen von Hauptstraßen oder Knotenpunkte, wie Einkaufsläden, U-Bahn-Stationen oder Schulen. Ruhigere Zonen dagegen sind meist reine Wohngegenden, die nicht direkt an Durchfahrtsstraßen oder größeren Verkehrsadern liegen. Eine Momentaufnahme (Abb. 144) der interaktiven Karte für die Gegend von Val Melaina-Tufello-Monte Sacro, welche Informationen zum durchschnittlichen Verkehrsaufkommen bietet, markiert von vornherein lediglich die vielbefahrenen Straßen. Vergleicht man diese mit der interaktiven Karte der Standorte von politischen Scritte (siehe oben), so zeigt sich, dass die Texte generell eher in frequentierten Bereichen erstellt wurden, wie z. B. um die Via delle Isole Curzolane (in Abb. 145 der rote Bereich der Heatmap).
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Besonders die Kreuzung der Via delle Isole Curzolane und der Via di Valle Melaina zeigt eindrucksvoll, dass bei den formalen und inhaltlichen Aspekten auf den spezifischen Standort eingegangen wird: In Abb. 146 ist ein fast schon offiziell anmutender Begrüßungstext zu sehen, welcher prominent an einer der Hauptzugänge zum Stadtviertel erstellt wurde. Dieser meta-referenzielle Text würde wenig Sinn ergeben und auch an Wirkkraft verlieren, wäre er an einer Hauswand mitten im Viertel in einem wenig(er) frequnetierten Teil erstellt worden. Abb. 147 zeigt einen typischen Text, der in solch einer reinen, wenig frequentierten Wohngegend zu finden ist. Sowohl Inhalt als auch Form heben sich deutlich vom ausgearbeiteten, großformatigen Begrüßungstext ab. Diese bewusste Ortswahl für bestimmte Scritte und v. a. Murales zeigt sich auch in den verwendeten Erstellungswerkzeugen und Farben: Wandfarben und Farbkombinationen werden eher für solch großformatige Scritte an vielfrequentierten Punkten verwendet. An verkehrsberuhigteren Orten dagegen, kommen meist Spraydosen in einer Farbe zum Einsatz. Ein weiteres Beispiel dafür ist in Abb. 148 zu sehen. Der mit Wandfarbe in meterhohen Lettern verfasste Gruß an den verstorbenen Antonio Piccinino wurde auf den Aurelianischen Mauern im Stadtviertel San Lorenzo erstellt,378 wobei der Standort nicht nur von der gesamten Via dei Volsci einsehbar ist, sondern sich außerdem auf dem Weg zur nächstgelegenen U-Bahn-Station befindet. Weitere Beispiele für die gezielte Ortswahl wären die Texte Lotta Studentesca (Abb. 149) und Blocco Studentesco (Abb. 150), die auf rechtsextreme Schüler- und Studentenorganisationen verweisen und nicht zufällig an einer Schule erstellt wurden.
Statistisch gesehen sind großformatige und ausgearbeitete Scritte, wie sie oben beschrieben wurden, relativ selten. Wie gesagt, gilt zwar allgemein, dass an vielfrequentierten Punkten mehr Scritte regelmäßig erstellt werden,379 aber dennoch ist der Großteil der politischen Scritte mehr oder weniger gleichmäßig über ganze Zonen verteilt, wobei sich der Inhalt und die Form oft stark ähneln (siehe dazu Unterkapitel zu Information in und DEFAULT). Welche funktionalen Unterschiede diesbezüglich abgeleitet werden können, wird in Unterkapitel zu Nachricht in erläutert. Die objektiven Ortsdaten der politischen Scritte können in Bezug auf die im vorigen Kapitel beschriebenen Kommunikationsteilnehmer interpretiert werden. Hilfreich ist dabei die in Kapitel erläuterte Differenzierung nach Nahbereich – Areal – Territorium (vgl. Krefeld 2019). Bezogen auf die objektiven Ortsdaten gilt die Stadt Rom als institutionalisiertes Territorium, die Nahbereiche sind jene geographischen Bereiche, in denen sich die Kommunikationsteilnehmer – mit Fokus auf den effektiven Rezipienten – regelmäßig, dauerhaft und über einen längeren Zeitraum bewegen, und schließlich die Areale (oder arealen Zonen), in welchen sich die Kommunikationsteilnehmer ebenfalls regelmäßig, aber seltener oder nur sporadisch aufhalten. Wie bereits erwähnt, lässt sich ganz deutlich eine starke Konzentration der Scritte in Wohngebieten und eine gleichzeitige Abnahme bis hin zur völligen Absenz in den zentrumsnahen und hochfrequentierten Gebieten erkennen. Aus diesen objektiven Standortdaten lassen sich nun subjektive Kommunikationsräume (aus Sicht der Kommunikationsteilnehmer) ableiten: Im institutionalisierten Territorium – also die Stadt Rom – wird ein kommunikativer Raum geschaffen, innerhalb dessen sich zwei Teilnehmergruppen gegenüber stehen, nämlich einmal die potentiellen Produzenten, die willens sind, diese transgressive Kommunikationsform zu wählen und auf der anderen Seite die Obrigkeiten der Stadt380, die durch das Entfernen und Sanktionieren dieser Kommunikationsakte ebenfalls semiotische und kommunikative Akte vollziehen. Durch die krassen Kontraste zwischen den Scritta-losen Touristengegenden und den Wohnvierteln mit vielen Scritte können die Kommunikationsteilnehmer subjektiv ableiten, dass innerhalb dieses Raumes (auf territorialer Ebene) gravierende Unterschiede in der Akzeptanz der Kommunikationsform und den Konsequenzen für die Produzenten bestehen. Ganz einfach zusammengefasst, kommuniziert die Stadtregierung, dass in zentrumsnahen Gebieten keine Scritte Murali toleriert werden, und gleichzeitig, dass diese Akte in bestimmten Wohnvierteln eher geduldet wird. Die Produzenten kommunizieren gleichzeitig, dass sie indexikalisch bestimmte Gebiete für sich beanspruchen (zumindest in Bezug auf diese Kommunikationsform im öffentlichen Raum). Besonders deutlich wird diese letztgenannte Annahme, wenn man Scritte, wie die Begrüßung in Tufello (Abb. 146), betrachtet. Interessanter ist die Bedeutung der Daten in Bezug auf die Nahbereiche und die Areale. Einerseits sind die oben beschriebenen großformatigen und ausgearbeiteten Scritte zu finden und andererseits formal einfacher gestaltete Scritte, mit oft rekurrentem und informationsärmerem Inhalt. Entscheidend für eine Zuordnung zu Nahbereich oder Areal sind die intendierten Rezipienten (siehe DEFAULT). Dabei wurde bereits festgestellt, dass nur in den wenigsten Fällen Einzelpersonen explizit adressiert werden. Somit scheint es plausibel, dass durch politische Scritte in erster Linie Areale gebildet werden, die weiter gefasst sind als der Nahbereich von Einzelpersonen. Innerhalb dieser arealen Kommunikationsräume werden schließlich größere Rezipientengruppen anvisiert. Das grundlegende Moment der Öffentlichkeit als potentielle Rezipientengruppe wird dadurch drastisch eingeschränkt, da sich die Botschaften zuerst an ortsansässige Personen richtet, die sich in diesem Raum regelmäßig bewegen, und erst danach an Rezipienten, die sich nur sporadisch oder ausnahmsweise in diesem Raum wiederfinden. Touristen zählen dazu nur in absoluten Ausnahmefällen, Bewohner der umliegenden Stadtviertel dagegen müssen hier hinzugerechnet werden. Im Abgleich mit den übergeordneten institutionalisierten Territorien und den anderen Arealen des Stadtgebietes und natürlich anhand der Merkmale der konkreten Scritta-Texte (wie z. B. Wortschatz, Symbole, Farbe usw.) entstehen bei den Kommunikationsteilnehmern auf diese Weise kommunikative Räume auf subjektiver Ebene. Die in der interaktiven Karte gezeigte Verteilung (Heatmap) der politischen Scritte zeigt solche Räume, die – in diesem Fall – von politischer Kommunikation geprägt sind. Der Nahbereich der Rezipienten spielt in dieser Domäne lediglich eine untergeordnete Rolle: einerseits deckt er sich zu bestimmten Teilen mit den Arealen und geht schließlich in diesem auf, andererseits sind kaum Scritte erkennbar, die Einzelpersonen adressieren und der Standort demnach als im Nahbereich dieser Rezipienten interpretiert werden müsste. Für diese Interpretation sprechen auch die Korpusdaten zu den verwendeten Erstellungswerkzeugen. In der Domäne POLITIK wurden 7 % der Texte anhand von (Filz-) Stiften erstellt; Spraydosen liegen mit 74 % an erster, (Wand-) Farbe mit 10 % an zweiter Stelle. Anhand von Filzstiften erstellte Scritte sind eher für den Nahbereich der intendierten Rezipienten geeignet und erreichen vergleichsweise wenige effektive Rezipienten, da die Größe durch das Werkzeug lediglich kleinformatige Scritte erlaubt. Der Rezipient muss sich also über einen längeren Zeitraum am Erstellungsort aufhalten und der Produzent muss sich relativ sicher sein, dass sich die anvisierte Person auch tatsächlich an diesem Ort aufhalten wird, um die Botschaft zu erhalten (siehe dazu auch DEFAULT). Spraydosen und v. a. Wandfarben dagegen ermöglichen das Erstellen von großformatigen Scritte, die leichter perzepiert werden können und somit geeigneter ist, größere Gruppen von effektiven und intendierten Rezipienten zu erreichen. Dies zeigt sich auch deutlich, wenn man die Daten mit jenen der Domäne EXPRESSIVITÄT vergleicht (siehe DEFAULT). Die dort prototypischen Liebesscritte sind oftmals direkt an Einzelpersonen adressiert und man kann davon ausgehen, dass sie im Nahbereich der Rezipienten erstellt werden. Mit über 36 % Anteil ist die Verwendung von Filzstiften in dieser emotionszentrierten Domäne um ein Vielfaches höher, als in der politischen Domäne.
In einem weiteren Schritt müssen für die ortsspezifische Ebene der Areale unbedingt die ermittelten Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS (siehe DEFAULT) berücksichtigt werden. Stellt man die Heatmaps der Standorte beider Subdomänen gegenüber, so wird eminent, dass innerhalb der geographischen Gebiete nicht nur ‘politische Kommunikationsareale’ geschaffen und erhalten werden, sondern vielmehr die beiden Subdomänen ihre jeweils eigenen Areale halten. Welches Gebiet als rechts- oder linksextremes Areal gilt, lässt sich problemlos anhand der Gruppencluster und der Heatmap ablesen. Es zeigt sich, dass in den Stadtvierteln Tufello, San Lorenzo, Pigneto, Università La Sapienza und Garbatella linkspolitische Kommunikationsareale bestehen; rechtspolitisch dagegen ist das Quartiere Africano, Prati, das östliche Gebiet der Piazza Bologna/Nomentano, die südlichen Gebiete um die Vatikanstadt, Conca D’Oro/Prati Fiscali und Monteverde. Diese Funde leiten sich nicht nur an den tatsächlich vorliegenden Scritte der jeweiligen Subdomäne ab, sondern auch das Nicht-Vorhandensein von Scritte aus dem widerstreitenden Lager sowie der durch Negation modifizierten Scritte dieser gegensätzlichen Gruppierungen. Exemplarisch lässt sich das passend am Beispiel des Erhebungsgebietes Prati, nördlich der Vatikanstadt erkennen. Erstens zeigen die Screenshots der Verteilung in diesem Gebiet (Abb. 151 und Abb. 152) ein deutlich höheres Aufkommen von rechtspolitischen Scritte (23) im Vergleich zu linkspolitischen Texten (4) und zweitens wurden drei der vier linken Texte durch rechtsextreme Inhalte modifiziert und ein vierter Text (siehe hier) ist kaum leserlich.
Diese Situation ist auch für alle weiteren, oben beschriebenen rechts- und linkspolitischen Areale gültig und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: erstens ist ein deutliches Übergewicht an Scritte für jeweils eine Subdomäne in den entsprechenden Untersuchungsgebieten zu finden, zweitens kommt es vergleichsmäßig selten zu Modifikationen von Texten durch das jeweils feindlich gesinnte Lager im ‘eigenen’ Gebiet381 und falls es zu solchen Modifikationen kommt, dann favorisiert das Endresultat des Gesamttextes nie eindeutig das jeweils antagonistische Lager,382 und drittens kommt es ebenso selten zur Erstellung von Scritte des jeweils anderen Lagers in den subdomänenspezifischen Gebieten (also bspw. linke Texte in rechten Gebieten und umgekehrt) und bei den wenigen Ausnahmen werden diese meist visuell deutlich durch Elision, Substitution oder Rasur entfernt. Zentral ist dabei der perzeptive Aspekt, d. h., es scheint für die Teilnehmer entscheidend zu sein, welches Endprodukt visuell erkennbar ist. Die jeweils dominante Gruppierung legt augenscheinlich besonderen Wert darauf, dass die eigenen Inhalte bzw. Zeichen salienter erscheinen, als die gegnerischen. Werden also eigene Texte modifiziert, so kommt es (mindestens) zu einer weiteren Modifikation durch die eigenen Gruppierungen. Die wenigen Fälle, in denen tatsächlich divergente Inhalte dominieren oder stehenbleiben, zeigen, dass es sich um Scritte handelt, die entweder kaum leserlich sind oder an Wänden platziert sind, auf denen derart viele Scritte und Modifikationen erstellt wurden, dass keine der Schriften direkt lesbar sind. Beispiele für typische Modifikationen bzw. antagonistische Scritte in ‘feindlichem’ Gebiet finden sich in den Abb. 153-156.
Zusätzlich lassen sich zwei weitere Auffälligkeiten bzgl. der ortsbedingten Modifikationen erkennen: Die Domäne ULTRAS spielt eine nicht unbedeutende Rolle. Knapp zehn Prozent der politischen Scritte zeigen unscharfe Grenzen zur Domäne ULTRAS und es sind wiederholt modifizierte Scritte zu finden, die den Eindruck erwecken, dass es sich bei den Modifikationen zuerst um eine Auseinandersetzung zwischen gegnerischen Ultras-Gruppierungen handelt und weniger um eine politisch basierte Konfrontation (siehe bspw. Abb. 154). Die zweite Auffälligkeit bezieht sich auf die imaginäre Grenzziehung zwischen den Gebieten. So lassen sich bei den politischen Arealen teilweise Grenzgebiete erkennen. Betrachtet man das Gebiet Pigneto, das aus oben genannten Gründen eindeutig als linkspolitisches Areal zu verstehen ist, so sind zwei rechte Scritte erkennbar, die – nebenbei gesagt – auch ULTRAS-Hinweise enthalten und deren politische Inhalte modifiziert wurden. Diese zwei Texte befinden sich nicht im Kerngebiet von Pigneto, sondern im südlichen Teil des Viertels in Richtung des Stadtgebietes San Giovanni, welches (acht) rechtspolitische SM zeigt, die bei der Untersuchung der Metrolinie A erfasst wurden. Die Verteilung der Scritte und die Modifikationen scheinen also mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Gebiete zu zeigen. Neben den genannten Untersuchungsgebieten, die eine klare Dominanz des einen oder anderen Lagers zeigen, sind auch ‘Kampfzonen’ erkennbar – etwa das Gebiet Val Melaina/Serpentara und Sacco Pastore. Im kleineren der beiden Erhebungsgebiete Sacco Pastore, das zwischen dem eindeutig linkspolitischen Gebiet Tufello und dem eindeutig rechtspolitischen Gebiet Quartiere Africano liegt, scheinen zwar die linkspolitischen Scritte zu überwiegen, gleichzeitig lassen sich jedoch Texte finden, deren rechtspolitische Inhalte/Zeichen verhältnismäßig salient sind (bspw. Abb. 157).
Im Gebiet Val Melaina dagegen scheinen rechtsextreme Scritte zu überwiegen, wobei allerdings keine klar begrenzten Areale erkennbar sind, sondern von beiden Lagern gleichermaßen modifiziert wurde. Gleichzeitig ist die aus den anderen Gebieten bekannte Konstanz bei der Modifikation von divergenten Texten hier nicht erkennbar, da solche Texte teilweise unberührt bleiben, obwohl sie in unmittelbarer (geolokaler) Nähe von gegnerischen Scritte liegen. Ein Vergleich der Heatmaps scheint eher Dominanzen auf Mikroebene zu zeigen, d. h., Strassenzüge oder stark begrenzte Lokalitäten (etwa Vorplätze von Wohnblocks) scheinen eher von einem der beiden Lager dominiert zu sein. Doch auch hier zeigen die vielen Modifikationen, dass von Etablierung einer der beiden Lager nicht die Rede sein kann.
Dass die Gruppierungen, die hier als Produzenten bzw. Kommunikationsteilnehmer generell gelten können, bestimmte Gebiete als ‘ihr Hoheitsgebiet’ verstehen, wie sich dies eben an der Verteilung der SM im Raum ausdrückt, verdeutlich eindrücklich der 2017 auf dinamoPress erschienene Online-Artikel Raid neonazista di „Roma ai Romani“ nei quartieri di Tufello e Montesacro (siehe hier). Die Verfasser des Artikels auf der einschlägig linkspolitischen Plattform sprechen von ‘unseren Stadtvierteln’ und die Attacken („raid“), von denen hier die Rede ist, sind Scritte Murali mit rechtsextremen Inhalten, die in Tufello und Montesacro –nach den SM-Verteilungen zu schließen, beides linksdominierte Gebiete – erstellt wurden:
[…] [I] nostri quartieri sono stati aggrediti da un gruppo di neonazisti che, quando le nostre strade erano deserte, sono andati in giro ad attaccare gli spazi sociali della solidarietà e del mutualismo (il Csa Astra e il Lab! Puzzle), e a deturpare le scritte che rappresentano il patrimonio di lotta e antifascismo dei nostri quartieri. […] Tuteleremo i nostri spazi e le strade dei nostri quartieri, mentre invitiamo le forze democratiche e antifasciste a tenere alta l’attenzione e le istituzioni a condannare quanto accaduto.(Dinamopress 2017)
Generell sind die (visuelle) Dominanz sowie die erwähnten Attacken (oder allgemeiner das ‘schriftliche Eindringen’ in gegnerische Areale) der Lager in den jeweiligen Gebieten unter Berücksichtigung der weiteren Analysekategorien entscheidend für eine Interpretation der Funktionalität der politischen Scritte, wie in Kapitel erläutert wird. Es sei jedoch bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass eine der Hauptfunktionen politischer Scritte die Markierung von geographischen Gebieten zu sein scheint, wobei weniger die kommunizierten Inhalte von Bedeutung sind, sondern eine ‘Labelung’ des Gebietes stattfindet, wodurch letztlich kommunikative Räume geschaffen und erhalten werden. Angriffe sind dann weniger als ernsthafte Übernahmeversuche der jeweils gegnerischen Gebiete zu verstehen, sondern eher als Machtdemonstration und Kommunikationsverfahren allgemein, bei denen eine Gruppierung ihre Existenz und Stärke provokativ zur Schau stellt. Dieses Schema verläuft letztlich parallel zum Machtkampf mit den institutionellen Obrigkeiten: Produzenten erstellen vereinzelt politische Scritte in den Touristenzentren, wobei die Stadtverwaltung ihrerseits reagiert und die Scritte entfernt (wie gesagt, auch eine Form der Modifikation). Dieses Eindringen kann nicht als ernsthafter Übernahmeversuch der visuellen Flächen in diesen Gebieten seitens der politisch motivierten Scritte-Produzenten verstanden werden, sondern eher als Kommunikation an die Obrigkeiten und die Öffentlichkeit, also ebenfalls eine Machtdemonstration und Existenzhinweis. Schlussendlich werden diese zentrumsnahen Gebiete als Hoheitsgebiet der offiziellen Stadtregierung akzeptiert, wie das Nicht-Vorhandensein von Scritte faktisch belegt. Setzt man den Fokus auf die subdomänenspezifischen Gebiete (Tufello, Quartiere Africano usw.) so verschiebt sich dieses Machtgefüge, da nun die politischen Gruppierungen zumindest visuell ihre Macht in ‘ihren’ Hoheitsgebieten demonstrieren und ebenfalls ‘Eindringungsversuche’ von gegnerischen Lagern unmittelbar beseitigen. Dies gilt sowohl für Scritte aus gegensätzlichen politischen Lagern, die durch Rasur, Elision, Substitution usw. modifiziert oder gelöscht werden, als auch für von der Stadt entfernte Scritte, da die durch das Entfernen entstandenen freien Flächen direkt wieder beschrieben werden. Terminologisch gesehen wäre es daher konsequenter bei diesen bisher als Areale bezeichneten Gebieten von Territorien zu sprechen, da sie sozusagen einen institutionellen Status auf inoffizieller, sozio-kultureller Ebene innehalten und der Charakter von Herrschafts- oder Hoheitsgebiet deutlicher wird.
Aus wissenschaftstheoretischer Sicht bewirkt die subdomänenspezifische Dominanz gleichzeitig, dass sich die in Kapitel beschriebenen Prototypen verschieben. Abhängig von den objektiven Standorten der Scritte gelten unterschiedliche Prototypen für bestimmte geographische Bereiche, sprich, der Prototyp einer politischen Scritta in Tufello unterscheidet sich vom Prototyp einer politischen Scritta im Quartiere Africano. Diese abstrakten Prototypen erlauben den Kommunikationsteilnehmern die kommunikativen Räume subjektiv zu interpretieren und die Kommunikate dementsprechend zu erstellen oder zu verstehen (siehe dazu die Perzeptionsanalyse zum Fabio Losacco-Totenmural in DEFAULT). Die Ortsspezifität bewirkt also für diese Domäne, dass auf mikrostruktureller Ebene (im Sinne der Areale bzw. der inoffiziellen Territorien) die Subdomänen von größerer Bedeutung sind, als der übergeordnete Prototyp von allgemein politischen Scritte. Die Basiskategorie ist innerhalb der Areale auf Subdomänen-Ebene zu suchen und weniger auf der übergeordneten Ebene. Demzufolge ist der in Kapitel beschriebene Prototyp der Subdomäne POLITIK LINKS für die Gebiete Tufello, Garbatella, San Lorenzo, Pigneto und die Università La Sapienza ‘prototypischer’, als der Prototyp der übergeordneten Domäne POLITIK. Gleiches gilt analog für den Prototyp der Subdomäne POLITIK RECHTS für die Gebiete Prati, Monteverde, Quartiere Africano, Nomentano, Vatikanstadt und Conca D’Oro/Prati Fiscali.
Abschließend möchte ich kurz auf einen weiteren Aspekt eingehen, der direkt auf der Ortsspezifität der Scritte basiert. Es treten Fälle auf, in denen keine (eindeutigen) Hinweise auf eine Zuordnung zur politischen Domäne zu finden sind, was theoretisch eine Markierung zur Domäne DIVERSES plausibler erscheinen lässt. Dass die SM dennoch als politische Scritte erfasst wurden, hängt direkt und in erster Linie mit dem Standort der Scritte zusammen: die Texte wurden nämlich in geolokaler Nähe zu Scritte erstellt, die eindeutig dem politischen Lager entstammen und oft mit diesen Scritte bestimmte Elemente (bspw. einzelne Lexeme oder ganze Wortfolgen, aber auch typographische Elemente oder ähnliches) Teilen. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass eine Scritta, die zwar keine eindeutigen Hinweise auf die politische Domäne zeigt, aber gleichzeitig in einem (links- oder rechts-) politischen Kommunikationsareal zu finden ist, (u. a.) aufgrund ihres Standortes der Domäne POLITIK zugeordnet werden kann. Praktisch zeigt sich das an ausgewählten Beispielen. Im Kerngebiet von Tufello finden sich vier Scritte (Abb. 158 bis 161), die an den Eingangsbereichen zweier Schulen erstellt wurden, und sich in unmittelbarer Nähe verschiedener bildender Einrichtungen befinden.
Die Inhalte geben auf den ersten Blick keine eindeutigen Hinweise darauf, dass es sich um linkspolitische Scritte handelt, und auch die materiell-formale Beschaffenheit (ausgearbeitete, gut lesbare, nicht-modifizierte und mit Wandfarbe erstellte Graphen) stehen in deutlichem Kontrast zu den gesprühten linkspolitischen Scritte im Gebiet. Dass die Texte trotzdem als ‘?linkspolitisch’ markiert wurden, ist das Resultat zweier Abgleichsprozesse. So zeigt sich etwa die Lexik und v. a. jene Token auffällig, die als Deutungsschlüssel oder Frameidentifikatoren für die vertexteten Inhalte fungieren. Neben Lexemen, wie bambino, vita oder infanzia, die in den Kontext von Schule, Bildung oder Kindheit fallen und auf bestimmte Art erwartbar sind, treten Nomen auf, welche weniger erwartbar sind: repubblica, diritto, governi, ordine economico, ostacoli, garantire und libertà personale. Auch die Scritta Tutti i bambini odiano la guerra scheint trotz des zweifelfreien Wahrheitsgehaltes der Aussage stilistisch gesehen etwas fehl am Platz und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, da sich die Texte auf einem Primarschulgelände befindet. Die hier evozierten Wortfelder sind gleichzeitig wohl passend für den Frame der linkspolitischen Subdomäne383 und die Aussagen tragen das typische Moment der politischen Parolen in sich. Eine Interpretation wäre, dass die Kommunikationsabsicht hinter diesen Texten politisch motiviert ist und gewisse Forderungen an Staat und Gesellschaft stellen, wobei die Kinder und ihre Eltern mit dieser Form von Propaganda geformt werden sollen. Eines der Kommunikationsziele der ortsansässigen Autonomen-Bewegung um das C.S.A. Astra 19 ist es eben, ihre politischen und ideologischen Anschauungen in der Öffentlichkeit zu verbreiten und dadurch Überzeugungsarbeit zu leisten, wie dies auch Petrellas Aussagen suggerieren und mit Klee übereinstimmt, wenn er feststellt, dass Wort-, Symbol- und Parolengraffiti eine „Form des Protests“ darstellen, die „Empörung und Engagement zum Ausdruck“ bringt, „verbunden mit dem Effekt öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen“ und dabei die Verantwortung anderer anmahnt (2010, 118). Entscheidender ist jedoch die Tatsache, dass sich diese Scritte inmitten einer der am stärksten von der linkspolitischen/autonomen Szene geprägten Gebiete von Rom befindet. Da diese Szene allgemein den Kultur- und kommunikativen Raum in diesem Gebiet entscheidend mitgestaltet, werden auch diese vier Scritte mit dem linkspolitischen Kontext verbunden und durch ihn bedingt, was eine Zuordnung zur linkspolitischen Subdomäne nahelegt. Befänden sich fragliche Scritte in einem rechtspolitischen Gebiet oder würden sie in einem kontextneutralen Zusammenhang kategorisiert werden, so würde in erstem Fall eine Zuordnung zur rechtspolitischen Subdomäne in Erwägung gezogen werden (selbst wenn die Inhalte etwas atypisch für diese Subdomäne sind) und im zweiten Fall sicherlich POLITIK als eine der zentralen Domänen gewählt werden.
Dieses Phänomen lässt sich anhand zwei weiterer Beispiele verdeutlichen: Der Scritta Text Onore al popolo palestinese! (Abb. 162) kann relativ sicher der politischen Domäne und der linkspolitischen Subdomäne zugeordnet werden, wenn man Standort (sowie Lexik, Typographie, Erstellungswerkzeug und Farbe) berücksichtigt, da er sich nur wenige Meter von den Scritte in Abb. 163 befindet, die durch das Symbol <<Hammer und Sichel>> eindeutig dem linkspolitischen Lager zugeordnet werden können. Vergleicht man zusätzlich die Lexik (Palestina), Farbe und Typographie, so kann in diesem Fall sogar davon ausgegangen werden, dass es sich um den gleichen Produzenten handelt. Tatsächlich gibt es zwei Scritte mit ähnlichem Inhalt (Palestina libera), welche zusätzlich eindeutig rechtsextreme Hinweise zeigen (siehe hier und hier). Da die Scritte einige Kilometer entfernt im rechtsextremen Quartiere Africano liegen, ist eine Zuordnung der Scritta in Abb. 162 zur rechtsextremen Subdomäne weniger sinnvoll, als die Zuordnung zur linksextremen Subdomäne aufgrund der geolokalen Nähe zu linken Texten.
Im Fall der Scritta Valerio vive (Abb. 164) lässt der Standort der Scritta – die Scritta liegt zentral im Kerngebiet von Tufello – keinen Zweifel, dass es sich um Valerio Verbano handelt und die Scritta eindeutig der linkspolitischen Subdomäne zugeordnet werden kann. Die geolokale Nähe zu anderen Scritte spielt dabei nicht nur für die politische Domäne eine zentrale Rolle bei den Kategorisierungs- und Verstehensprozessen, sondern ist allgemein für die Kommunikationsform der Scritte Murali ein zentraler Faktor.
G. Petrella gibt während des Interviews interessante Einblicke über den Ablauf der „uscite per scrivere“ und besonders in Hinblick auf die Ortswahl der linkspolitisch-autonomen Gruppierung aus Tufello.384 Laut Petrella hängt die Ortswahl stark vom thematischen Inhalt der Scritte ab. Handelt es sich etwa um politische Phrasen oder Slogans, bleiben die Akteure in Tufello bzw. in einem „territorio amico“. Dabei steht in erster Linie die eigene Sicherheit der Gruppenmitglieder im Vordergrund, da sich die autonomen Anhänger bewusst sind, dass sie jemandes Antagonisten sind und sie körperliche Konflikte möglichst vermeiden wollen. Petrella vertritt die unter Autonomen gängige Meinung, dass faschistische Gruppen auf ihre körperlichen Aggressionen reduziert werden können und keine ‘Gefahr’ auf kommunikativer Ebene von ihnen ausgeht: „[i fascisti] non hanno forza, non hanno potenza nel loro modo di comunicare, non c‘è tutta questa pericolosità, ma c’è invece una pericolosità data dalla loro violenza e dal loro modo di operare sul territorio” (vgl. Petrella 2014, 32:05-33:49). Gleichzeitig gibt Petrella zu verstehen, dass auch auf Seiten der linksextremen Gruppierungen die Bereitschaft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen durchaus vorhanden ist: „se si tratta di andare a fare azioni violenti […], ci servono le braccia, perché non possiamo andare avanti soli armati di tanti bei ragionamenti e tante belle idee“ (Petrella 2014, 24:30-24:56). An dieser Stelle sei auf die oben erwähnten Anschläge auf das C.S.A. Astra 19 verwiesen, die an die blutigen Auseinandersetzungen der Anni del piombo erinnern. Die beidseitige Gewaltbereitschaft, die regelmässig zu gewalttätigen Handlungen führen, verdeutlichen die Ernsthaftigkeit der proklamierten Gewaltandrohungen und -verherrlichung, die in den Scritte zu finden ist. Darüber hinaus wird das Risiko für die Akteure, die in ‘feindlichen’ Territorien Texte erstellen, evident, wobei es sich eben nicht einfach um ‘jugendliches Geschmiere’ handelt, sondern um ernstzunehmende Akte, die sogar körperliche Gewalt nach sich ziehen kann. Wie ernst territoriale Verletzungen durch SM gesehen werden, unterstreicht Petrella, wenn er über Modifikationen, die bestimmten, szeneinternen Regeln folgen, spricht. Zwei Faktoren sind demnach ausschlaggebend, ob eine Scritta belassen oder modifiziert wird: erstens der Inhalt der Scritta (‘Was’ wurde geschrieben?) und zweitens – dies ist besonders interessant – die Typographie der Scritta. Laut Petrella ist also zumindest für die linkspolitische Subdomäne im Gebiet Tufello ein sekundäres Attribut von eminenter Bedeutung für den Modifikationsprozess. Die spezielle, von Petrella indizierte Typographie ist der bisher mehrmals angesprochene sog. Fascio-Font. Problematisch dabei ist, dass diese Schriftart auch von Ultras verwendet wird, was eine Identifikation der Produzenten für die autonomen Kommunikationsteilnehmer erschweren kann. Kommt es zu tatsächlich zu einer Grenzverletzung durch rechtsextreme Akteure im Territorium der Autonomen, so wird die Schrift unverzüglich entfernt bzw. modifiziert und sollte es sich um eine direkte Provokation einer bekannten Gruppe handeln, so wird eine Aktion im Revier dieser gegnerischen Gruppe in Erwägung gezogen (vgl. Petrella 2014, 38:18-39:30). Interessant sind Petrellas Berichte über die „battaglia di scritte“, bei dem territoriale Vorherrschaftskämpfe im Vordergrund standen und die auf „muri contesi“ ausgetragen wurden. Bis ca. 2008/ 2009 wurden besonders viele neofaschistische Parolen- und Phrasengraffiti im quadrante um Tufello erstellt, wobei es die Autonomen als ihre Aufgabe (Petrella spricht sogar von Arbeit, „lavoro“) sahen, die faschistischen Scritte zu übermalen oder zu entfernen. Wie zu erwarten, gibt Petrella an, dass dieser Kampf in bestimmten Gebieten zugunsten der autogestiti entschieden wurde. Aufschlussreich ist der Ablauf solcher schriftlichen Auseinandersetzungen, die über längere Zeit andauern können und von denen auch die dokumentierten ‘Kampfwände’ im Korpus (v. a. in Grenzgebieten) zeugen. Die Konflikte konzentrieren sich auf Trägerflächen an Standorten innerhalb bestimmter Gebiete, wobei sich jene Gruppe als dominant erweist, die nicht nur über einen längeren Zeitraum auf die Schriften des Gegners reagiert, sondern dies direkt und unverzüglich macht. So etabliert sich die eine oder andere Gruppe innerhalb eines umstrittenen Gebietes, wenn sie eine gegnerische Schrift nicht einmal für eine Nacht unberührt lässt. Laut Petrella konzentrieren sich autonome Aktivisten dabei immer wieder auf die gleichen Flächen und nutzen diese hauptsächlich für antifaschistische Texte. In solchen Fällen können sogar fremde Schriften, die vom Inhalt her mit jenen der ortsansässigen (oder streitenden) Gruppe im Einklang stehen, entfernt werden, da es problematisch ist, wenn die Betrachter (gemeint sind letztlich die effektiven und v. a. ortsansässigen Bewohner des betreffenden Gebietes) erkennen, dass es sich bei der Scritta nicht um die ortsansässige dominante Gruppe handelt (vgl. Petrella 2014, 40:18-44:21). Sollen Scritte, Tazebao oder Striscioni außerhalb des eigenen Gebietes erstellt oder angebracht werden, so wird die Aktion meist in größeren Gruppen durchgeführt, wie oben bereits erwähnt wurde. Besonders in feindlichen Territorien wird die Sicherheit der Gruppe durch die Gruppengröße und einen höheren Anteil männlicher Akteure gewährleistet. Nur in Ausnahmefällen und auf sicherem Gebiet werden solche Schreibaktionen in kleineren Gruppen vorgenommen, wobei sich auch diese dann normalerweise zur Wehr setzen könnten, sollte es zur körperlichen Auseinandersetzung kommen. Laut Petrella geschehen diese Aktionen nicht im Verborgenen, sondern meist in den Abendstunden, da die Autonomen bewusst ihre Präsenz demonstrieren wollen: „Noi non ci piace nasconderci, noi ci piace invece mostrare il nostro volto alle persone, per farli sapere chi siamo, cosa facciamo, […] quali sono i nostri interessi, perché lo facciamo” und nur schärfere Provokationen auf Feindesgebieten werden nachts durchgeführt, wobei hier – so die Behauptung – die Sicherheit der Anwohner ausschlaggebend ist, da diese dann nicht ungewollt in eine Auseinandersetzung gezogen werden können (vgl. Petrella 2014, 48:35-49:21). Selbst in diesen Situationen legen die autogestiti Wert auf den öffentlichen Charakter und vermeiden das heimliche Handeln, ihrer Meinung nach ein Zeichen der Schwäche und Feigheit, das den Neofaschisten zugeschrieben wird.385 So ist es ihnen wichtig in einer größeren Gruppe in jenen Territorien aufzutreten, in denen sie unerwünscht sind, und sich zu zeigen, während sie dort operieren. Sollte es dann zu einer Auseinandersetzung kommen, so ist es die Schuld der Rechtsextremen, die dann als „aggressori“ auftreten, wogegen die Linksextremen sich selbst als „aggrediti“ sehen, die nicht „dalla parte del torto“ stehen (vgl. Petrella 2014, 39:40-40:16).
7.1.2.2. Zeit
Neben der Ortsspezifität der Scritte Murali ist die Zeit ein weiterer kontextueller Faktor, der für die Analyse von Bedeutung sein kann, obwohl er bei der Bedeutungsgenerierung der Scritte (für die Kategorie des KontextesJAK) eine sekundäre Rolle einnehmen mag. Nachfolgend möchte ich die wichtigsten Aspekte der zeitlichen Faktoren für die Funktionalität der politischen Scritte zusammenfassen. Wie in Kapitel erwähnt, muss zunächst perspektivisch zwischen dem Zeitpunkt und der Zeitspanne unterschieden werden. Hinsichtlich des Zeitpunktes lässt sich offensichtlich nicht feststellen, wann genau eine der Scritte erstellt wurde, außer, dass dies vor der fotographischen Erfassung der Scritte geschehen sein muss. Auf diesen Punkt möchte ich allerdings nicht weiter eingehen, sondern einen Blick auf den Zeitaspekt an der Textoberfläche der Scritte werfen. Gerade einmal 25 Token wurden in dieser Domäne mit dem POS-Tag ‘Date’ markiert, wobei sich zwei Arten von Zeitreferenz ausmachen lassen. Erstens wird anhand von Daten auf Ereignisse referiert, die im Zusammenhang mit Fußball und somit auch der Domäne ULTRAS stehen, und zweitens werden Zeitangaben von politisch relevanten Ereignissen gemacht. Bei Zeitangaben der ersten Art tritt das Datum 26. Mai 2013 auffällig oft auf. Dies liegt daran, dass an diesem Tag das Fußball-Derby A.S. Rom gegen S.S. Lazio ausgetragen wurde, aus welchem der Verein S.S. Lazio siegreich hervorgegangen ist. Da eine besonders hohe Rivalität zwischen den Anhängern der beiden Vereine besteht, wird seitens der Lazio-Ultras gerne an den Sieg der eigenen Mannschaft und die einhergehende Schmach der Roma-Ultras erinnert. Das Siegtor schoss damals übrigens Senad Lulic in der 71. Minute. Die Wortkombination Lulic 71 wird derart häufig von den Lazio-Ultras synonym für diesen Sieg verwendet, dass er sich sogar in den statistischen Werten der Mehrwort-Kombinationen deutlich zeigt (siehe DEFAULT). Neben diesem Verweis auf das bedeutungsvolle Ereignis tauchen außerdem die Zahlen des Gründungsjahres der beiden Vereine Lazio (1900) und Roma (1927) auf. Die zweite Art von Zeitangaben verweisen auf politische Ereignisse und zwar einerseits auf aktuelle (d. h. zeitnahe) Veranstaltungen, etwa der Hinweis auf politische Demonstrationen (z. B. 15/10 c’eravamo tutte), und andererseits auf in der Vergangenheit liegende Ereignisse, wie z. B. das Todesjahr einer Person (bspw. Dedicated to Bobby Sands 1954 – 1981).
Bedeutender für die Funktionalität der politischen Scritte ist jedoch der Aspekt der Zeitspanne oder -dauer und dabei in Bezug auf zweierlei Kategoriekomplexe: hinsichtlich der Rezipienten, der Materialität und des Standortes sowie hinsichtlich der Produzenten und der Materialität. Wie oben bereits beschrieben wurde, ist der Standort in Verbindung mit den Eigenschaften der Erstellungswerkzeugen (bzw. den daraus resultierenden semiotischen Merkmalen) von zentraler Bedeutung. Abhängig von der anvisierten Rezipientengruppe muss der passende Erstellungsort gefunden werden, welcher wie gezeigt wurde ganz unterschiedlich gewählt werden kann. Der Produzent muss dabei auch die Rezeptionszeit berücksichtigen, da Personen, die bspw. an einer Bushaltestelle warten, mehr Zeit zum Studieren der Scritta haben, als Personen, die an einer Scritta im Auto vorbeifahren. Ebenso wichtig ist materiell-formale Zustand der Scritta, da Token in unpassender Farbe (etwa helle Farbe auf hellem Untergrund) oder mit kleinformatigen Zeichen (meist anhand von Filzstiften erstellt) sowie verblichene Texte eine weitaus höhere Lektürezeit in Anspruch nehmen als klar erkennbare Token. Das gleiche gilt für Texte, die besonders komplex und lang sind, zu viele semiotische Ressourcen aufweisen, zu häufig modifiziert wurden oder sich in unmittelbarer Nähe von vielen weiteren Texten befinden. Indirekt – d. h. mit Fokus auf den Ortsfaktor – wurden dazu bereits ausreichend Beispiele gezeigt. Ein weiteres Beispiel dafür wäre die Wand mit einer besonders hohen Quantität an Scritte in Abb. 165.
Ich gehe davon aus, dass unter den genannten Kriterien besonders jenes der Textlänge von Bedeutung ist und dieses gleichzeitig bei der Interpretation der für die Texte des gesamten Korpus geltenden Kürze (Tokenzahl) der Scritte hilft. Dies wiederum greift direkt in den zweiten genannten Komplex Produzent-Materialität. Eine der Hauptfunktionen von politischen Scritte ist meiner Auffassung nach die Markierung von Gebieten oder Territorien, wie ich sie bereits oben angedeutet habe. Diese Markierung oder ‘Labelung’ von Territorien geschieht anhand der Erstellung von visuellen Zeichen innerhalb eines geographisch definierten Gebietes, wobei diese Zeichen von den Rezipienten in kurzer Zeit erfasst und gelesen bzw. verstanden werden müssen. Die intendierten Rezipienten decken sich dabei letztlich mit den effektiven Rezipienten, d. h. alle Personen, welche die Scritte generell wahrnehmen. So wird den ortsansässigen Personen eine Vormachtstellung in diesem Gebiet kommuniziert, völlig unabhängig davon, ob diese Personen politisch interessiert sind oder nicht.386 Da ein breites Publikum adressiert wird und ein nicht unerheblicher Teil davon eventuell gar nicht an politischen Inhalten (bzw. ‘diesen’ politischen Inhalten) interessiert ist, müssen diese speziellen Scritta-Inhalte kurz und knapp gehalten werden, um eine schnelle Rezeption und verkürzte Lektürezeit zu gewährleisten. Die kurz gehaltenen Texte fungieren wie eine Art Logo, wie ich weiter oben bereits beschrieben habe. An dieser Stelle ist die Rezeptionszeit der Empfänger von Bedeutung, welche von den Produzenten bewusst geringgehalten werden muss, damit die territoriale Markierung erfolgreich ist. Das von Graffitiforschern wiederholt genannte ‘Gesetz der Kürze’, welches besagt, dass Graffiti kurzgehalten werden, da den Produzenten aufgrund der Illegalität nur wenig Zeit für den Erstellungsvorgang zur Verfügung steht (vgl. bspw. Kreuzer 1986, 116), gilt meiner Meinung nur bedingt für die politischen Scritte. Wie bereits gezeigt, existieren in bestimmten Gebieten nicht nur besonders viele Scritte Murali, sondern auch längere und aufwendig zu erstellende Texte und Murals (man denke z. B. an das oben gezeigte Ciao Anto‘-Beispiel), welche teilweise tagsüber in aller Öffentlichkeit angebracht werden.387 Der ausschlaggebende Katalysator für die Kürze der politischen Texte ist also nicht die Illegalität dieser Kommunikationsform, sondern die Rezeptionsdauer in Bezug auf die Kommunikationsintention bzw. -funktion. Diese Annahme wird auch durch die Aussagen G. Petrellas, die bisher dargestellt wurden, bestätigt, da Petrella eindeutig die Rezeption an sich als ausschlaggebendes Moment angibt und nicht die Illegalität.388
7.1.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – POL
Der bei Jakobson als „physischer Kanal“ bezeichnete Kommunikationsfaktor KontaktJAK (1979, 88) bezieht sich auf die Attributsklassen Träger und Erstellungswerkzeug, d. h., anhand welchen Materials oder Medium (i. S. v. Hilfsmittel) werden Zeichen auf einer Trägerfläche geformt. Anders ausgedrückt: werden die Scritte mithilfe einer Sprühdose, Wandfarbe usw. auf einer Hauswand, einem Handgeländer, dem Boden usw. erstellt. In den beiden vorangegangenen Kapiteln zu den Kommunikationsteilnehmern und dem Kontext wurde bereits auf die Bedeutung dieser Kontakt-bezogenen Attribute ErstellungswerkzeugATTclass und TrägerflächenATTclass verwiesen und zwar unter verschiedenen Aspekten. Die in Kapitel erwähnten Beschreibungen von Bateman müssen an dieser Stelle rekapituliert werden, da die Funde und Analysen einen entscheidenden Faktor zutage gebracht haben. Bateman spricht von den canvas als „possible bearers of meaningful regularities” (2017, 87), wobei zunächst davon ausgegangen wurde, dass die Träger – also bspw. Hauswände – erst durch das Beschriften auffällig werden. Domke bemerkt richtig, dass Gebäude „[d]urch symphysische Kommunikate […] kommunikativ zum Bestandteil eines Kulturraumes [werden], der dadurch immer wieder als solcher und somit als Teil des kommunikativen Gedächtnisses […] wahrnehmbar und lesbar […] wird“ (2014b, 218). Nun haben wir gesehen, dass unter bestimmten Umständen auch das Nicht-Vorhandensein von Scritte eine Auffälligkeit und somit zur Kommunikationssituation werden kann (siehe DEFAULT). Dies ist fest an den Faktor der Ortsabhängigkeit gebunden, da nicht-existierende Scritte dann auffällig sind, wenn der geolokale Kontext verglichen oder abgeglichen wird. Konkret bedeutet dies, dass das Nicht-Vorhandensein von Scritte im Stadtzentrum Roms dann auffällig wird, wenn einem bewusst ist, dass es Gebiete wie Tufello oder San Lorenzo gibt, die eine besonders hohe Konzentration von Scritte Murali aufweisen. Ebenso kann die Nicht-Existenz der Scritte, also ‘nackte Wände’, in einem Stadtviertel wie Tufello besonders auffällig, eventuell sogar auffälliger sein, als beschriebene Flächen. Das Entfernen von Scritte oder das Nicht-Erstellen von Scritte ist also, wie oben beschrieben, ebenso als kommunikativer Akt zu verstehen, wie die Scritte Murali an sich, wenn man die Ortsspezifität und geolokalen wie kulturellen Kontexte berücksichtigt.
Grundlegende Bedingung für die subsidiären Klassen TrägerATTclass und ErstellungswerkzeugATTclass sind die ortsbezogenen und zeitlichen Faktoren, um für die Kommunikationsteilnehmer sinnstiftend zu werden. Es müssen an dieser Stelle nicht alle Auswertungen aus den vorangegangenen Kapiteln wiederholt werden, sondern es reicht eine Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte. Die Produzenten wählen Träger in geographisch begrenzten Gebieten, um anhand der Erstellungswerkzeuge die Scritte zu erstellen. Welche Träger gewählt werden hängt zunächst davon ab, welche Träger in diesem Gebiet vorhanden sind389 und wie ihre Beschaffenheit ist, d. h., ob das Material (Farbe, Filzstift usw.) dort überhaupt und wie lange haften bleibt. Danach wählen die Produzenten die Trägerflächen nach den in Kapitel beschriebenen Kriterien aus. Auch Modifikationen – sowohl das Entfernen von offizieller Seite als auch das Modifizieren durch weitere Hände – werden durch die von Hand 1 verwendeten Materialien und die Trägerfläche mit bestimmt.390 Welche Hilfsmittel konkret verwendet werden, wurde oben ebenfalls bereits angesprochen. Mit am bedeutendsten für die Wahl der Träger und Werkzeuge ist der Kommunikationszweck: wer soll auf Rezipientenseite anvisiert werden und welche Inhalte sollen übermittelt werden? Wie oben beschrieben, werden an vielfrequentierten Standorten eher ausgearbeitete und großformatige Scritte erstellt, wozu geeignete Träger vorhanden sein müssen und die Rezeptions- oder Lektürezeit berücksichtigt werden muss. Dies schlägt sich auch in den prototypischen Werten wieder. Vergleicht man die Prototypen-Werte der Domäne POLITIK mit jenen der ULTRAS und EXPRESSIVITÄT, so zeigt sich, dass erstens Tazebao domänenspezifisch sind, d. h. fast ausschließlich bei politischen Scritte verwendet werden, zweitens ist der Anteil von mit Wandfarbe erstellten (also großformatige) Texten bei politischen Scritte weitaus höher als in den anderen Domänen, drittens liegen die Werte beim Filzstift weit hinter jenen der Domäne EXPRESSIVITÄT und viertens zeigt sich im Vergleich ein erhöhtes Aufkommen von Stencils391 bei politischen Scritte. Letztgenannte Beobachtung wird besonders interessant, wenn man die Ortsspezifität und Subdomänenverteilung dieser Stencil-Scritte betrachtet: Rechtspolitische Scritte werden überhaupt nicht anhand von Stencils erstellt und innerhalb der linkspolitischen Subdomäne zeigt sich ein klares Ungleichgewicht zwischen den Erhebungsgebieten, wenn man die Anzahl der jeweils erfassten Scritte berücksichtigt. v. a. San Lorenzo, aber auch die Gebiete Pigneto und Garbatella weisen relativ gesehen mehr Stencils auf als Tufello. Die Inhalte und verwendete Lexik der Texte sind dabei gebietsübergreifend zu großen Teilen deckungsgleich, aber das allgemein ‘schicker’ wirkende Pigneto wirkt, was die formal-materiellen Aspekte betrifft, ästhetisch ansprechender als die Scritte in Tufello. Die Korpusdaten sind demnach als Indiz für die durch SM unterschiedlich geschaffenen kommunikativen und Kulturräume zu werten. Auf klassische Ansätze übertragen, könnte man die Attribute der Erstellungswerkzeuge und teilweise der Träger (sowie semiotische Ressourcen wie etwa Farbe oder Typographie) als Merkmale des Sprachregisters bezeichnen.
Einige Aussagen G. Petrellas beziehen sich auf Aspekte, die mit der Analysekategorie KontextJAK in Verbindung stehen und die ich nachfolgend kurz zusammenfassen möchte. Petrella gibt an, dass längere Texte generell weniger erstellt werden – was nebenbei bemerkt die statistischen Daten der linkspolitischen Subdomäne bestätigt – und falls dies doch der Fall ist, so werden sie auf Tazebao erstellt, da die Wahrscheinlichkeit, dass direkt auf die Wand gesprühte Scritte, v. a. an bestimmten populären Standorten, in kürzester Zeit übersprüht werden recht hoch ist, was bei Tazebao anscheinend nicht der Fall ist. Laut Petrella ist das auch der Grund für die längeren Texte seitens der rechtsextremen Gruppierungen, da diese ihre Texte lange Zeit unberührt lassen, im Gegensatz zu den Autonomen, die häufiger Texte erstellen und somit auch ihre eigenen überschreiben (vgl. Petrella 2014, 01:04:34-01:07:24). Die statistischen Auswertungen der Funde für die politischen Subdomänen belegen diese Aussagen nur teilweise. Es gelten zwar für beide Subdomänen, dass ca. 80 % aller erfassten Scritte zwischen einem und sechs (links) bzw. einem und fünf (rechts) Token aufweisen, wobei allerdings bedacht werden muss, dass insgesamt mehr links- als rechtspolitische Scritte vorliegen und v. a. bei solch verkürzten Scritte der Kommunikationszweck wahrscheinlich nicht darin liegt, Inhalte zu verbreiten, sondern Gebiete zu markieren. (Ein Blick auf die n-Gramme und häufigsten POS-Tags in den folgenden Kapiteln wird darüber weiter Auskunft geben.) Dennoch ist eine generelle Priorisierung von längeren Texten bei der rechtspolitischen Subdomäne nicht zu erkennen, zumindest nicht für die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Gebiete und nicht auf alle Träger und Erstellungswerkzeuge bezogen. Bestätigt werden kann dagegen die Tendenz, dass linkspolitische Gruppe eher auf das Medium Tazebao zurückgreifen als Rechtsextreme und dass diese plakatähnlichen Scritte-Formen für längere Texte verwendet werden: lediglich sechs auf Tazebao erstellte Scritte können der rechtspolitischen Subdomäne zugeordnet werden, 18 dagegen der linkspolitischen, wovon tatsächlich nur fünf Exemplare sechs Token oder weniger zeigen, 13 dagegen zwischen sieben und 19. Die Bilder der Tazebao zeigen, dass an einigen Standorten anscheinend regelmäßig Tazebao angebracht werden, da Rückstände von älteren Tazebao erkennbar sind (Abb. 170, 171 und 172).
Generell sind die Texte auf Tazebao feiner ausgearbeitet, sprich, die Anordnung ist ausgeglichener, die Farbpalette breiter und die Typographie meist weniger ‘handschriftlich’. Besonders auffällig ist die Wahl des Standortes, da keines der Tazebao an schlecht einsehbaren oder verkehrsberuhigten Punkten angebracht wurde. Der augenscheinliche größere Aufwand bei der Erstellung der Tazebao wird demnach nur für gut frequentierte Standorte auf sich genommen, wie U-Bahn Zugänge, Kreuzungen oder Plätze, bei denen man davon ausgehen kann, dass relativ viele Personen – und somit effektive Rezipienten – die Scritta wahrnehmen können. Abschließend möchte ich auf die Farbwahl aus materieller Perspektive eingehen. Die Daten der Farbwahl in den Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS zeigen, dass rote Farbe bei linkspolitischen SM weitaus populärer ist als dies bei rechten Texten der Fall ist.392 Diese Zahlen legen nahe, dass Farben bewusst nach ihren konnotativen Bedeutungspotentialen gewählt werden und somit Rot aufgrund der Nähe zu traditionell linkspolitischen Bedeutungsräumen eher von linkspolitischen Gruppen gewählt wird. Petrella bestätigt zwar eine solche affektive Bindung der Autonomen zur roten Farbe, betont jedoch gleichzeitig, dass dieses Kriterium sekundär sei. Die Aktivisten aus Tufello würden demnach die Farbe nach Deckungsgrad (im Vergleich zur Trägerfarbe) wählen, d. h., die Texte sollen einerseits gut lesbar sein und kräftig erscheinen und andererseits bereits vorhandene Scritte möglichst überdecken können (vgl. Petrella 2014, 01:00:00-01:02:00). Die materielle Seite des Attributs FarbeATTclass ist laut dieser Aussage von größerer Bedeutung als jene Kode-bezogene, die sich mit den konnotativen Bedeutungszuschreibungen beschäftigt. Tatsächlich sprechen die visuellen Daten des Gesamtkorpus für diese Grundbedingung bei der Farbwahl: bis auf wenige Ausnahmen wird ein möglichst großer Kontrast zwischen Oberflächenfarbe des Trägers und der aufgetragenen Farbe angestrebt, unabhängig vom Erstellungswerkzeug.
7.1.4. Kode – POL
Die Analysekategorie dieses Kapitels betrifft die kodalen Eigenschaften der SM des Genres POLITIK, wobei bereits in Kapitel darauf hingewiesen wurde, dass der Kode nach Jakobson den Kommunikationsteilnehmern ganz oder zumindest teilweise bekannt sein muss (vgl. Jakobson 1979, 88). Ebenso wurde diese Kategorie generell auf die semiotischen Ressourcen, die innerhalb der Scritte verwendet werden, bezogen und, wie in den theoretischen Vorarbeiten festhalten, gelten sprachlichen Zeichen grundlegend als dominantes Zeichensystem bei den Scritte. Dies gilt auch für politische Texte, wobei die prototypischen Attributswerte hinsichtlich der kommunikativen Teilhabe der Zeichensets und ihrer Merkmale interpretiert werden müssen. Für diese Kategorie sind für Zeichen (i. S. v. Token) in erster Linie die Attributsklassen der Tokenzahl pro ScrittaATTclass, FarbwahlATTclass der Token, sprachlicheATTclass und/oder dialektaleATTclass, typographischeATTclass und kürzendeATTclass Merkmale sowie die Frequenzen der WortklassenATTclass von Sprachzeichen, und schließlich typische ZeichenkonstruktionenATTclass mit Fokus auf den bildgraphischen Zeichen. Es sei daran erinnert, dass die Analysekategorien nicht trennscharf voneinander verstanden werden können, sondern immer eng mit den anderen Kommunikationsfaktoren der Basiskategorien synergetisch verwoben sind. Dies bedeutet auch, dass sich die nachfolgend behandelten Punkte auf vorangegangene Ausführungen und v. a. auf Aspekte der Kategorie MitteilungJAK-Inhalt (s. u.) beziehen werden, selbst wenn darauf nicht explizit verwiesen wird.
Bevor die Attributswerte der Prototypen interpretiert werden, muss zunächst auf Scritte Murali bzw. politische Scritte als Kode eingegangen werden. Scritte Murali an sich sind semiotische Artefakte (siehe DEFAULT) und müssen sozusagen im Gesamt als Kode verstanden werden, der den Teilnehmer bis zu einem gewissen Grad bekannt sein muss, damit eine (ungestörte) Kommunikation entstehen kann. Dies gilt ganz besonders für politische Scritte, die in ihren konkreten Ausprägungen verschiedene Kommunikationsfunktionen übernehmen können. Eine davon ist, wie bisher gezeigt wurde, die territoriale Markierung von Gebieten, wobei ein geographisch abgegrenztes Gebiet durch SM zunächst visuell geprägt und schließlich als kommunikativer Kulturraum geformt und erhalten wird. In diesem Sinne funktionieren SM als Bilder, die hauptsächlich Text beinhalten, bestimmte semiotische Ressourcen und Zeichensets verwenden, um Bedeutungsinhalte zu vermitteln, und somit eine Form symbolischer Kommunikation darstellen. Kommunikationsteilnehmer können diese Bilder als eine Art von Kode deuten und interpretieren, je nachdem wieviel Hintergrundwissen sie dazu besitzen. Da ein Großteil der Texte sprachliche Zeichen (eine Form von Kode) beinhaltet und die Gesamtscritta gleichzeitig bildhaftig wirkt, muss zwischen dem Kode, der innerhalb der Scritte (in Form von sprachlichen und bildgraphischen Zeichen) erscheint, und dem Kode in Form der SM selbst (i. S. v. Bildern) in der Öffentlichkeit unterschieden werden. Ulrich Schmitz differenziert in seiner Arbeit zur Seefläche (vgl. 2011) Art, Mittel und Zweck sowie Wahrnehmungsweise zwischen Texten und Bildern. Schmitz definiert Sehflächen als „Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden“, wobei diese Text-Bild-Kombinationen in der „umtriebigen, oft turbulenten, hektischen, entweder auf Geschwätzigkeit und/oder auf Effizienz angelegten Alltagswelt“ von heute ideal geeignet sind Informationen darzubieten (2011, 25). Der Autor bezieht sich dabei offensichtlich auf die Kombination von Bild und Text innerhalb dieser Flächen, was auch für einen Teil der SM relevant ist, aber das Konzept lässt sich problemlos auf SM als Gesamtbild übertragen – Scritte Murali prägen an erster Stelle das Stadtbild ganz unabhängig davon, ob dies den Bewohner gefällt oder nicht.393 Schmitz konstatiert weiter: „[Text-Bild-Kombinationen] ziehen Aufmerksamkeit auf sich, ermöglichen größte Informationsmengen auf kleinstem Raum, erlauben vielfältige Präsentations-, Strukturierungs-, Orientierungs- und Rezeptionsweisen und unterstützen den schnellen Blick“ (2011, 25-26). Ohne (erneut) auf die Unterschiede zwischen Text und Bild im einzelnen einzugehen, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich Texte eher zur Übermittlung von Inhalten eignen, da sie aufgrund der Ökonomie der doppelten Gliederung symbolische Zeichen zu sinnvollen Aussagen kombinieren können. Bilder dagegen eignen sich eher zum „Zeigen und Schauen“, da sie ikonisch funktionieren (Schmitz 2011, 31). Scritte Murali als bildhafter Kode zeigen also ikonisch etwas und verweisen zudem indexikalisch auf die Produzenten. Bei politischen Scritte ist dies eine fundamentale Funktion, da durch die Scritte ein bestimmtes Bild eines Stadtgebietes geschaffen und gleichzeitig indexikalisch auf die produzierenden (bzw. widerstreitenden) Gruppen verwiesen wird. Diese Funktion wird noch deutlicher, wenn man die Unterschiede der Perzeptionsprozesse bei Text und Bild berücksichtigt. Laut Schmitz werden Bilder zunächst als gestalterisches Ganzes optisch erfasst und dann ihre Einzelteile wahrgenommen. Dabei steuert dieser erste Eindruck der Gestalt des Gesamtbildes die Reihenfolge und Deutung der Einzelteile, „deren Wahrnehmung das Ganze teilweise aber auch modifizieren kann“ (Schmitz 2011, 31). Scritte Murali werden also zunächst holistisch wahrgenommen und dann eventuell erst die einzelnen Elemente – in erster Linie eben sprachliche Zeichen – gelesen. Straßner bezeichnet Bilder als „schnelle Schüsse ins Gehirn“, die sich dank der geringeren Anstrengung dazu eignen, „Empfänger mit geringem Involvement zu erreichen“ (2002, 42). Er bezieht sich zwar bei seiner Arbeit auf die Funktion von Bildern im Kontext der Werbung, die grundlegende(n) Funktion(en) der Bilder lässt/lassen sich jedoch problemlos auf die SM in ihrer Bildhaftgkeit übertragen, so auch die Aussage Straßners über die/eine Kommunikationsfunktion der Bilder innerhalb der Werbung: „Über das Bild sollen eine Firma, eine Marke, ein Produkt, eine Partei, ein Politiker usw. bekannt gemacht, im Gedächtnis der Zielgruppe, der Konsumenten oder Wähler verankert werden“ (Straßner 2002, 42). Erst recht für Gebiete wie Tufello, wo politische Scritte von großer Bedeutung sind und gleichzeitig eine besonders hohe Dichte solcher Scritte besteht, ist dies ein zentraler Faktor innerhalb der Kommunikationssituation. In solchen Gebieten müssen Produzenten sicherstellen, dass Rezipienten unter der Fülle von Scritte – die Texte, die nicht aus der Domäne POLITIK stammen, sind dabei noch gar nicht mitgerechnet – die Botschaft entschlüsseln können, da sonst die Scritta ihren Kommunikationszweck nicht erfüllen kann. Dabei spielen bereits auf dieser makro-strukturellen Ebene (Scritte Murali als bildlicher Kode auf der Großfläche des Stadtbildes) semantisch-kognitive Sinnbeziehungen (also letztlich eine Art von Kohärenz) eine entscheidende Rolle. Hier kommen die formalen Aspekte und der Standort der SM zum Tragen, wie man bereits bei den Ausführungen zu den Erstellungswerkzeugen und Trägerflächen sowie Standorten sehen konnte.394 Der enge Bezug zu den Bereichen der Kommunikationsteilnehmer, der Ortsspezifität, der materiell-medialen Bedingungen und der Gesamtnachricht (und damit der Funktion) von SM wird hier evident.
Richtet man den Blick nun tatsächlich auf die Textebene der Scritte, so spiegeln sich die eben genannten Voraussetzungen wider und es lassen sich die kodalen Merkmale weiter beschreiben. Neben den Standorten und materiell-medialen Aspekten bedienen sich die Produzenten von politischen Scritte bestimmter visueller und lektüresteuernder Hinweise, wie Typographie, Textlänge, bildgraphischer und ordnender Zeichen. Ein zentrales Attribut ist zunächst die Länge der Texte, d. h. die Tokenzahl pro Scritta. Sowohl für die Domäne POLITIK wie auch für die Subdomänen POLITIK LINKS und RECHTS gilt, dass mindestens 80 % der Scritte zwischen einem und sechs Token beinhalten (bei rechtspolitischen Scritte sind es sogar nur einer bis fünf Token), wobei die größte Konzentration bei Texten liegt, die lediglich einen (!), zwei oder drei Token zeigen. Mindestens die Hälfte dieser Scritte (d. h. zwischen 52 und 55 %) werden von Texten mit nur einem bis drei Token gebildet (siehe DEFAULT und DEFAULT). Die statistische Verteilung der verwendeten Wortklassen für diese kurzen Scritteformen zeigen eindeutig eine Priorisierung von Bildgraphischen Zeichen (in erster Linie politische Symbole), Eigennamen und Nomen: je kürzer die Scritta, desto eher werden diese drei Wortklassen verwendet, wobei 70 % (Scritte mit drei Token), 72 % (Scritte mit zwei Token) und sogar 97 % (Ein-Token-Scritte) von diesen Wort- bzw. Tokenklassen gebildet werden. Wie man im nächsten Kapitel sehen wird, sind die konkreten Zeicheninhalte relativ stark begrenzt, d. h., für bestimmte Gebiete ist eine hohe Rekurrenz von den immer gleichen politischen Symbolen und/oder Gruppensymbolen erkennbar. Dass Produzenten mit diesen kurzen Scritte die Rezipienten über politische Inhalte informieren wollen, ist äußerst unwahrscheinlich. Viel mehr zeigt sich hier klar die Markierung von Territorien, sprich, einem Gebiet wird ein Logo aufgesetzt oder eine Art Label zugeteilt. Dabei ist die oben beschriebene Sichtweise von Scritte Murali als kodale Bilder in Form von semiotischen Artefakten der zentrale Interpretationszugang. Produzenten bedienen sich bewusst der Bildhaftigkeit der Scritte mit ihren ikonischen und v. a. indexikalischen Eigenschaften und verknüpfen sie mit spezifischen sprachlichen (bzw. symbolischen) Zeichen, um gezielt Botschaften zu kommunizieren. Stöckls Ausführungen zu multimodaler Text-Bild-Lektüre zeigen u. a. die semiotischen und perzeptiv-kognitiven Unterschiede – wenn man so will Vor- und Nachteile – zwischen Bildern und sprachlichen Zeichensystemen (vgl. Stöckl 2011). Bilder werden hier auf der semiotischen Ebene als ikonisch und damit „wahrnehmungsnah“, Sprache dagegen als arbiträr und somit „wahrnehmungsfern“ beschrieben. Auf der Perzeptions-/Kognitionsebene werden die oben bereits angedeuteten Vorteile von Bildern für eine schnelle Perzeption deutlich: Bilder werden holistisch und v. a. schnell wahrgenommen, sind „gedächtnis- und wirkungsstark“ und „direkt emotionsverbunden“. Im Vergleich dazu ist Sprache von einer sukzessiven und linearen Wahrnehmung geprägt, die vergleichsweise langsamer verläuft, „gedächtnis- und wirkungsschwächer“ ist und „nicht direkt emotionsverbunden“ ist (Stöckl 2011, 48). Bucher beschreibt für die multimodale Rezeption, dass beim „Identifizierungs- oder Lokalisierungsproblem“ bei Verstehensprozessen, welches für multimodale Texte etwa lauten könnte „Wer ist Kommunikationspartner oder Autor des multimodalen Angebotes? Mit welcher Art von Kommunikationsangebot habe ich es zu tun?“, der Verstehensschlüssel in bestimmten Hinweisen zu finden ist. Bucher nennt hier als typische Mittel „Senderkennungen, Logos, Titel, aber auch Signalfarben oder eine bestimmte Typografie“ (Bucher 2011, 141). Bei den Kurz-Scritte im politischen Bereich geschieht genau das. Die Produzenten nutzen politische Symbole, Gruppenbezeichnungen (Eigennamen) und bestimmte Schlüsselwörter, aber auch Farbwahl und typographische Elemente, um einerseits die Identifikation der Produzenten zu ermöglichen und andererseits die Art des Kommunikationsangebots zu markieren. Die Symbole, Eigennamen und Schlüsselwörter fungieren eben als diese von Bucher genannten „Senderkennungen, Logos und Titel“.
Die bildhaften Eigenschaften und textuellen Elemente stehen dabei nicht autonom nebeneinander, sondern müssen in Kombination verstanden werden, wobei die „besonderen semiotischen Leistungen“ der beiden Bestandteile (Bild und Text) nicht einfach nur addiert werden, sondern sich gegenseitig potenzieren (Schmitz 2011, 34). Durch gezieltes Design auf der Sehfläche (s. o.) werden so Form und Funktion der Bild- und Textteile verändert und gehen in einer bedeutungsvollem Gesamtbotschaft auf (vgl. Schmitz 2011, 34). Dazu zählen natürlich auch die oben beschriebenen Techniken, wie die zweckgerichtete Verwendung von Stencils, Tazebao, Murales oder Striscioni, die bewusst im Raum und auf den Trägerflächen ‘angeordnet’ werden. Farben (und Typographie, s. u.) sind ebenfalls an diesem zweckgerichteten beteiligt und zwar nicht nur aus Sicht der materiell-medialen Aspekte (siehe DEFAULT), sondern auf die semantischen und pragmatischen Potentiale bezogen (kodale Ebene). Laut Petrellas Aussagen (s. o.) sind die konnotativen Bedeutungen von bspw. roter Farbe im Bereich der linkspolitischen Subdomäne sekundär und dennoch spielen historisch gebundene Konnotationen bei der Farbwahl eine Rolle (man denke z. B. an die bandiera rossa der kommunistischen Partisanen oder in der Bezeichnung i rossi für linkspolitische Akteure, wie in den Abb. 173 und 174). Dies belegen auch die statistischen Daten der politischen Subdomänen: der Anteil der Farbe Rot liegt bei linkspolitischen Scritte bei 22 %, bei rechtspolitischen dagegen bei lediglich 7 %.
Auf textinterner Ebene sind dann speziell für sprachliche Zeichen verschiedene, Kode-bezogene Attribute von Belang: die verwendete Sprache und der Einsatz von dialektalen Ausdrücken, Kürzungsverfahren und die Typographie. Statistisch gesehen sind die Ergebnisse der Sprachwahl eindeutig – 92 % der Sprachzeichen wurden in italienischer Sprache erstellt, wobei sich diese Werte auch in den Subdomänen halten. Dort sind es in POLITIK LINKS ebenfalls 92 % und sogar 94 % für POLITIK RECHTS auf Italienisch. Dennoch lohnt es sich kurz auf die Sprachwahl einzugehen und die statistischen Werte genauer zu betrachten. Die linkspolitischen Scritte zeigen nämlich nicht nur eine höhere Varianz an insgesamt verwendeten Sprachen (hier sind es 13 verschiedene Sprachen, im Vergleich zur rechtspolitischen Subdomäne, wo lediglich sieben Sprachen verwendet wurden), sondern auch die Frequenzen der einzelnen Sprache zeugen von unterschiedlichen Haltungen seitens der Produzenten. Die größere Vielfalt der linkspolitischen Sprachwahl, worunter sich kaum zu erwartende Sprachen wie Baskisch oder Esperanto wiederfinden, ist damit zu erklären, dass diese wenigen, aber speziellen, Scritte sich auf Personen, Ereignisse oder Zustände beziehen, welche außerhalb von Italien leben, geschehen sind oder gerade geschehen. So z. B. Solidaritätsbekundungen (Abb. 175) mit Bezugnahmen (Abb. 176) auf linkspolitische Aktivisten im Ausland.
Auf Seiten der rechtspolitischen Scritte dagegen wird die italienische Sprache noch etwas mehr verwendet, was möglicherweise den propagierten Nationalismus zusätzlich unterstreicht. Danach folgen Latein und Deutsch mit knapp 3 % bzw. 1 %. Wie man im nächsten Kapitel genauer sehen wird und was sich auch teilweise in der Typographie ausdrückt, ist die Sprache der rechtspolitischen Scritte von einer archaischen teils martialisch anmutenden Sprachwahl und Ordnung geprägt, was sich sowohl in den Bereichen der Lexik als auch der Anordnung der Texte auf der Fläche widerspiegelt.395 Durch die lateinische Sprache suchen die Produzenten auf das aus ihrer Sicht glorifizierte Bild des römischen Reiches zu verweisen, wobei aktuelle(re) Thematiken mit dieser Sprachform verbunden werden (wie z. B. in Abb. 177). Ausserdem beziehen sich auch rechtspolitische Produzenten auf historisch Personen und Ereignisse und somit auch auf den Nationalsozialismus in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie Parolen auf Deutsch der Art Sieg Heil oder Juden raus (Abb. 178) belegen. Ein interessantes Beispiel ist die Scritta in Abb. 179: hier imitiert ein linkspolitischer Schreiber in Garbatella den rechtspolitischen Stil und verfasst den Text in ‘Pseudolatein’ und Italienisch durch eine Eigenkreation mit Bezug auf das Englische. Die Sprachwahl scheint also für beide Subdomänen identitätsvermittelnde Aspekte zu übernehmen.
Dialekte Varianten spielen kaum eine Rolle bei politischen Scritte, wobei die Werte bei rechtspolitischen Scritte etwas höher liegen als bei linkspolitischen Scritte. Das liegt nicht nur daran, dass der gergo romano im Alltagsleben der Hauptstadtbewohner zwar äußerst verbreitet ist, sich aber gleichzeitig nur minimal in der Schriftsprache niederschlägt. Dies bestätigt auch G. Petrella, der als Beispiel das Graphem <j> (anstelle von <gli>) angibt, welches teilweise in den Texten auftaucht, etwa bei conijo (für coniglio). Laut Petrella werden ausserdem dialektale Elemente komplett vermieden, wenn es sich thematisch ernsthafte Inhalte handelt, da eine belustigende oder zwanglose Nuance unbedingt vermieden werden sollte. Die Aussage Petrellas, dass der Dialekt – wenn möglich – gerne verwendet wird („se si può, lo utilizziamo spesso e volentieri“, vgl. Petrella 2014, 01:10:08-01:11:40), lässt sich so in den statistischen Ergebnissen nicht erkennen, da die Werte von Dialektvarianten schlichtweg zu gering sind. Das mit Abstand häufigste Token in dialektaler Variante ist boia, welches im alltäglichen Sprachgebrauch in Rom häufig zu hören ist, wobei hier nicht die phonetisch-phonologische Ebene ausschlaggebend ist, sondern die Lexik. Innerhalb der Scritte wird dieses Lexem fast ausschließlich in kurzen Wortkombinationen der Art [Eigenname + boia] verwendet, um Personen oder Institutionen zu beschimpfen.
Eine weitere Klasse von Attributen der Prototypen, die für den Faktor KodeJAK relevant ist, sind die verwendeten Kürzungsverfahren innerhalb der politischen Texte (siehe DEFAULT und DEFAULT). Dabei wurde bei der Auswertung der Korpusdaten ersichtlich, dass ein Viertel der Scritte Kürzungsverfahren beinhalten und sich leichte Unterschiede zwischen den links- und rechtspolitischen Scritte zeigen: 22 % der linken Texte weisen Kürzungsverfahren auf, mit 61 % sind Akronyme der häufigste Typ, gefolgt von graphematischen Kürzungen (etwa nov für novembre oder w für viva) mit 27 %. Bei rechten Texten dagegen treten zu 31 % Kürzungen auf, wovon mit 92 % Akronyme deutlich die häufigste Form ist. Dies könnte an der oben erwähnten angestrebten ‘Ordnung’ der rechtsextremen Produzenten liegen, wobei graphematische Kürzungen eben nicht in die ordentliche Schreibweise der rechten Texte passen, da sie zu sehr einen umgangssprachlichen Ton suggerieren. Die beiderseits relativ häufig verwendeten Akronyme sind erwartbar, wenn man sich die konkreten Realisierungen und die bisherigen Erläuterungen der Senderkennungen vor Augen hält. Der Großteil dieser Kürzungen umfassen Token der Art TS für Trieste Salario, NES für Nihil Est Superius oder FGC für Fronte della Gioventù Comunista, d. h. Gruppen- oder Ortsbezeichnungen, wobei letztgenannte in der Regel in Kombination mit politischen Symbolen oder Gruppenbezeichnungen jeglicher Art (z. B. auch Antifa) auftreten. Akronyme, bzw. Kürzungsverfahren generell, dienen demnach als Hilfsmittel, um komplexere Zeichenkombinationen auf verdichtete Weise darzustellen, wie dies bspw. bei politischen Symbolen (s. u.) der Fall ist und ganz dem Sinn der oben beschriebenen Reduktion von visuell sichtbaren Zeichen steht, um eine kürzere Lektüre- bzw. Rezeptionszeit zu gewährleisten. Deutlich wird dies, wenn in einem Text, wie in Abb. 180 dargestellt, das Akronym TAV tatsächlich ausgeschrieben würde und der Text NO TRENO AD ALTA VELOCITÀ LIBERI lauten würde. Nicht nur würde der marken- oder logoartige Charakter der NO TAV-Bewegung verloren gehen, sondern die Lektürezeit dieses Textes würde sich erheblich erhöhen. Das Akronym NO TAV ist übrigens mit Abstand die häufigste Form von in linkspolitischen Texten verwendeten Akronymen.
Bevor ich auf die bildgraphischen Zeichen und ihre kommunikative Teilhabe eingehe, möchte ich noch kurz auf das (sekundäre) Attribut der Typographie396 eingehen. Jürgen Spitzmüller konstatiert in seinem Aufsatz Vom „everyday speech“ zum „everyday writing“ – (Anders-)Schreiben als Gegenstand der interpretativen Soziolinguistik, „dass nicht nur sprachliche, sondern auch skripturale Variation eine kommunikative Praxis ist, die gesellschaftlich relevant sein kann, zum Beispiel als Mittel sozialer Positionierung“ (2012, 118). Genau dies ist – zumindest für einen gewissen Teil – der Fall bei Scritte Murali. Entscheidend ist hier, dass die typographischen (wie auch allgemein graphischen) Elemente an sich erstmal keine Bedeutung tragen, sondern erst durch das Hintergrundwissen der Kommunikationsteilnehmer bzgl. der (typo)graphischen Elemente zugeschrieben wird (vgl. Spitzmüller 2012, 123). Spitzmüller definiert dieses ‘graphische Wissen’ folgendermaßen:
Von ‘graphischem Wissen’ kann man also etwa dann sprechen, wenn Kommunikationsakteure annehmen, eine gegebene graphische ‘Gestalt’ […] lasse auf einen Entstehungskontext, auf Werte und Einstellungen oder Kompetenzen des Verfassers, auf ein Genre, auf eine intendierte Lesart usw. rückschließen. Ob diese Schlussfolgerungen vom Textproduzenten de facto intendiert sind, ist sekundär (auch dann, wenn Intentionalität unterstellt wird).(Herv. im Orig., Spitzmüller 2012, 124)
Von Bedeutung ist für den Bereich der Typographie die Distinktheit, die durch die Wahl eines bestimmten typographischen Stils erreicht wird, da der Bedeutungsinhalt der Graphen (also der Bezug auf die Phoneme) sich in keiner Weise verändert (vgl. Stöckl 2004, 6). Dabei ist Typographie ein visuelles Stilmittel, das sozialen Sinn in der Kommunikation schafft und bei der Entschlüsselung der Gesamtbotschaft entscheidend mitwirkt. Den Textproduzenten ist es durch dieses gestalterische Hilfsmittel möglich, die Kommunikation mit Hinblick auf die anvisierte Rezipientengruppe zu lenken und neben soziokultureller Identität, Werte und Gesinnung der Autoren auszudrücken (vgl. Stöckl 2004, 7-8).
Für beide politischen Subdomänen wurde durch den Verfasser der Arbeit ein Anteil von elaborierter, d. h. bewusst gewählter, Typographie von 67 % (linkspolitisch) und 54 % (rechtspolitisch) erkannt. Besonders interessant ist, dass bei linken Scritte Typographien gewählt werden, die ortsgebunden einheitlich erscheinen. So sind bspw. im Raum Tufello viele Scritte erkennbar, die allesamt einen fast identischen Schreibstil in Bezug auf die Graphrealisierung zeigen. Auf den ersten Blick scheint diese Art von Typographie recht unspektakulär und fast schon willkürlich gewählt. Bewegt man sich in diesem Raum und vergleicht die Scritte untereinander, fällt diese simple, aber in großen Teilen immer gleiche Art von Typographie auf. Dies bestätigt auch die Aussage von Petrella, der angibt, dass die Typographie der Autonomen in Tufello zwar keinen speziellen Namen trage, aber genau definiert ist und bestimmte Erkennungszeichen trägt. Dabei ist der typographische Stil – so Petrella – abhängig vom thematischen Inhalt der Texte: z. B. werden einfache Druckbuchstaben („stampatello ordinario senza sfumature“) für politische Slogans und Parolen gewählt, um die Botschaft eindringlicher erscheinen zu lassen. Diese Herangehensweise hebt sich deutlich von jener der rechtsextremen Gruppierungen ab, die der Typographie und deren Einheitlichkeit eine größere Rolle beiordnen. Laut Petrella verwenden Autonome in ihren Texten in erster Linie (politische) Symbole, um den Wiedererkennungswert der Scritte zu sichern (vgl. Petrella 2014, 00:57:52-01:00:25).
Auffällig ist die Typographie der linksextremen Gruppierung Torpedos, die eine ganz besonders ausgearbeitete Schreibtechnik für ihre Texte bzw. ihren Gruppennamen verwendet (siehe z. B. Abb. 183 und Abb. 184) und die v. a. in den Gebieten San Lorenzo und Pigneto wiederzufinden ist. Durch die ausgearbeitete und unikale Typographie ist der Wiedererkennungswert besonders hoch. Das Auge der Rezipienten, die sich regelmäßig in Rom bewegen, wird dadurch recht schnell trainiert, Scritte, die in dieser Typographie erstellt werden, sofort der Gruppierung zuordnen zu können.
Interessanterweise erweckt der typographische Stil der Torpedos den Anschein, es handele sich um eine rechtsextreme Gruppierung, da der Stil für linkspolitische Gruppen atypisch, weil zu ‘geordnet’ und ausgearbeitet, ist.397 Nach oben beschriebener Manier müssten dann solche rechten Texte in den linksdominierten Territorien (San Lorenzo und Pigneto) direkt modifiziert werden, was jedoch nicht der Fall ist. Eine Internetrecherche zeigte dann, dass es sich bei den Torpedos um eine antifaschistische Gruppierung handelt, die europaweit agiert (siehe hier). Dieses Beispiel zeigt, wie sehr typographische Elemente identitätsverweisend sind und die Frage nach Autoren (und damit letztlich nach dem Kommunikationszweck) mit beeinflussen können.
Im Verlauf der Arbeit habe ich wiederholt auf den sog. Ultras liberi- oder Fascio-Font398 hingewiesen. Die Graphen werden dabei mit geometrischen Elementen modifiziert, wodurch ein einheitliches Bild besonders bei bestimmten Graphen des Alphabetes erreicht wird. Neben den gedruckten oder ausgearbeiteten Plakaten oder Tazebao/Striscioni, in welchen so ziemlich alle Graphen auf diese Weise geschrieben werden, sind die meisten Texte in einer etwas vereinfachten Variante des Fascio-Fonts geschrieben, die sich v. a. auf eine spezielle Realisierung von bestimmten Graphen konzentriert, etwa <A>, <B>, <E>, <N> oder <R>, wobei zwar immer wieder Abwandlungen in der Realisierung erkennbar sind, die Gemeinsamkeiten jedoch überwiegen und somit eine Assoziation mit der verbreiteten Typographie problemlos erfolgt. Dazu reicht bereits ein einzelner, in diesem Stil realisierter Graph aus, um diese Verbindung herzustellen. Ganz entscheidend ist dabei, dass die Assoziation ganz eindeutig bestimmten Produzenten(gruppen) zugeordnet wird und zwar rechtsextremen Produzenten oder Ultras. Das Anzeigen der Autorenschaft durch den Schreib- und Designstil sowie die identitätsstiftende Funktion der Typographie ist somit ein wichtiger Bestandteil beim Kommunikationsprozess der Scritte. Dass diese besondere Schriftart sowohl von rechtsextremen Gruppen wie auch Ultras genutzt wird, ist dabei für die territorialen Markierungen und Machtkämpfe problematisch, wie auch Petrella zu verstehen gibt. So solidarisieren sich autonome Anhänger aus Tufello nicht nur mit den tifosi und Ultras, sondern sind oftmals selbst Teil einer Ultras-Gruppierung. Aus Sicht Petrellas besteht die Solidarität v. a. darin, dass Ultras von Seiten der Politik schikaniert werden und nennt in diesem Zusammenhang die tessera di tifosi, die nicht nur den Ultras ein Dorn im Auge ist, sondern – weil sie ein Kontrollmechanismus ist und somit die Freiheit des Bürgers einschränkt – die Allgemeinheit betrifft. Somit kommt es dazu, dass der gleiche Akteur sowohl politische als auch Ultras-Texte in den Gebieten verbreitet und dabei nicht selten den Ultras liberi- bzw. Fascio-Font verwendet. Kommunikationsteilnehmer der ortsdominierenden Gruppe müssen dann (z. B. anhand des Inhaltes) herausfiltern, ob es sich um eine Ultras-Scritta oder einen rechtsextremen Text handelt und dementsprechend die Scritta modifizieren oder bestehen lassen (vgl. Petrella 2014, 13:00-14:58 und Petrella 2014, 38:18-39:30). Eine weitere Auffälligkeit ist die wiederholt auftretende Verwendung des Graphen <V> anstatt <U> bei rechtsextremen Texten, welche wahrscheinlich auf die Schreibweise im Lateinischen zurückzuführen ist und beim Leser den Eindruck des oben erwähnten archaischen Grundtones erwecken soll.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für linksextreme Gruppen typographisches Textdesign in erster Linie für die Übermittlung von thematischen Inhalten relevant zu sein scheint – d. h. klare Schrift, klare Botschaft – was sich v. a. im vergleichsweise wenig markanten und distinkten Schriftbild visuell zeigt. Dieser Interpretationsansatz wird nicht nur durch die Aussagen Petrellas (s. o.), sondern durch die Korpusdaten bestätigt. Auf Seiten der rechtspolitischen Produzenten dagegen, ist die Anzeige der Autorenschaft und die Übermittlung von Werten und Einstellungen vordergründig, unabhängig von den thematischen Inhalten, d. h., ‘Recht, Ordnung und Disziplin’ sollen bereits über typographische Aspekte zum Ausdruck gebracht werden.
Zuletzt muss im Rahmen dieses Kapitels auf die bildgraphischen Zeichen eingegangen werden, wobei bereits an verschiedenen Stellen auf die Funktionen und Aspekte dieser Zeichen verwiesen wurde. Wie in Kapitel und Kapitel anhand der Korpusdaten gezeigt wurde, treten bildgraphische Zeichen bei 72 % der politischen Scritte auf, wodurch sie ein typischer und integraler Bestandteil dieser Texte sind. Aussagekräftiger sind jedoch die Werte der Subdomänen: POLITIK LINKS zeigen zu 67 %, RECHTS zu 89 % (!) bildgraphische Zeichen, wovon auf linker Seite 74 % der Zeicheninhalte von sechs Typen gebildet werden399, auf rechter Seite 78 % durch gerade einmal drei Inhalte400 Grundlegend für die Interpretation ist, dass es sich bei diesen neun Typen bis auf zwei Ausnahmen in der linkspolitischen Subdomäne um politische Symbole handelt. Auf linker Seite werden ausserdem mit 12 % vergleichsweise öfter Ikone visualisiert, die auf rechter Seite (1 %) überhaupt keine Rolle spielen. Diese deutliche Dominanz von politischen Symbolen überrascht nicht, wenn man die oben getroffenen Ausführungen zu Produzentenmarkierungen und Ortsmarkierungen bedenkt. Sarcinelli fasst die Hauptfunktionen symbolischer Politik zusammen:
Unter Verwendung unterschiedlicher semiotischer Mittel und zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt sind drei Hauptfunktionen s[ymbolische]r P[olitik] zu unterscheiden: Der symbolische Ausdruck ermöglicht optisch, akustisch oder durch wahrnehmbare Handlungen eine Reduktion politischer Komplexität (1). S[ymbolische] P[olitik] zielt nicht nur auf die Benennung politischer Sachverhalte, sondern auch auf Deutungsmacht (2). Schließlich bietet s[ymbolische] P[olitik] Angebote zur Orientierung, Sinnvermittlung und Identitätsstiftung (3).(Sarcinelli 1998, 729)
Politische Symbole – wie auch alle weiteren Hilfsmittel, die Komplexität reduzieren, wie z. B. rote Farbe (s. o.) – tragen in den Scritte eben diese Funktionen. Politische Symbole werden in diesem Sinne also bewusst verwendet, um etwa auf die komplexen Frames Neo-FaschismusFRAME oder AntifaschismusFRAME durch ein einzelnes Zeichen zu verweisen, um die Rezeptionsprozesse zu lenken und auf Autorenschaft und deren Gesinnung(en) hinzuweisen. Wie die Tokenzahl pro ScrittaATTclass-Werte gezeigt haben, treten politische Symbole besonders bei kurzen Texten auf, was nur plausibel ist, da durch die Symbole eben kommuniziert werden kann, was ansonsten über lange Texte übermittelt werden müsste. Wie bereits oben zu den Kürzungsverfahren ausgeführt wurde, treten oftmals Kürzungen von Ortsnamen oder Gruppenbezeichnungen in Kombination mit politischen Symbolen auf. Dies gilt interessanterweise ausschließlich für rechtsextreme Scritte. Die Typographie im weitesten Sinne betreffend – d. h. die „graphische Gestaltung eines Schriftstückes“ im Gesamt (Stöckl 2004, 5) – ist in dieser Hinsicht die synergetische Komposition von Sprachzeichen und (politischen) Symbolen auf der Trägerfläche auffällig. Wie in den Beispielen Abb. 191 bis 199 deutlich wird, werden die gekürzten Orts- und Gruppenbezeichnungen immer an den gleichen Punkten um die Symbole angeordnet. So stehen T und S (für das Gebiet Trieste Salario), R und E (für Roma Est), T und L (für Tempo di Lottare), F und N (Fronte Nazionale) ausschließlich (in Leserichtung) links oben und rechts unten. Zusätzliche Zeichen können dann scheinbar frei um dieses wappenartige Zeichenkonstrukt angeordnet werden, wobei jedoch immer auf die oben beschriebene Ordnung und Symmetrie geachtet wird. Diese typische Zeichenkonstruktion sind ausschließlich bei rechten Scritte zu finden und treten meist so und nicht anders auf.401 Rechte Gruppierungen scheinen also auch diese Text-Bild-Kombinationen ganz bewusst als Identifikationswerkzeug zu nutzen. Nicht zufällig werden emblem- oder wappenartige Designs gewählt, da diese den Bezug zu alten Traditionen und Militarismus herstellen, was durch moderne Logodesigns nicht gegeben wäre. Die Heatmaps in den Prototypenkapiteln haben bereits gezeigt, dass die Anordnung von Symbolen in der Sehfläche generell bei politischen Scritte einem festen Schema folgt und zwar werden Symbole in Kombination mit Schriftzeichen rechts und mittig angeordnet. Einzig der Fünfzackige Stern und das Anarchiezeichen weichen von diesem Muster etwas ab. Den schriftsprachlich übermittelten Inhalten wird so eine Art ‘Label’ zugeschrieben und zusätzlich die Autorenschaft markiert, was bei rechten Scritte durch die gekürzten Gruppenbezeichnungen noch verstärkt wird. Gekürzte Ortsbezeichnungen verweisen zusätzlich metareferenziell auf das Gebiet in welchem sich der Standort der Scritte befindet, wodurch die territoriale Markierungsfunktion dieser (meist kurzen) Scritte potenziert wird.
Inhaltlich sind die rechtspolitischen Symbole weniger variabel als die linkspolitischen. Bei rechtspolitischen Texten treten insgesamt nur 28 verschiedene Zeicheninhalte auf, wovon bis auf fünf Typen alle den Ideogrammen oder Gruppensymbolen angehören. Die fünf Typen sind ein Pfeil als intratextueller Verweis, eine nicht identifizierbares Zeichen, Flaggen und die beiden einzigen Ikone stellen bezeichnenderweise ein Schwert und einen salutierenden römischen Legionär dar. Bei linkspolitischen Texten sind es dagegen 80 verschiedene Inhalte, die neben Ideogrammen auch Ikone, Logogramme und gestalterische Grundformen (Sterne) umfassen. Auch bei den Anteilen der einzelnen Inhalte lassen sich subdomänenspezifische Unterschiede erkennen: das häufigste Symbol bei linksextremen Schriften ist <<Hammer und Sichel>> (23 %), gefolgt vom Symbol der Autonomen <<Movimento Autonomi e Autoorganizzati>> (18 %). Neofaschistische Texte dagegen zeigen in fast der Hälfte aller Fälle das Keltische Kreuz402 (48 %) oder (mit jeweils 15 %) Hakenkreuze und das Fascio Littorio. Die Ikone in den linkspolitischen Scritte, welche meist anhand von Stencils erstellt werden (s. o.), können ausschließlich unter Berücksichtigung der bildlichen und textuellen Bestandteile verstanden werden. Da Bilder weitaus deutungsoffener sind als sprachliche Zeichen, erhalten sie ihre aktuelle Bedeutung erst durch die verbundenen schriftsprachlichen Teile. Die verwendeten Bilder können dabei nach Diekmannshenke als sog. politische Schlag- oder Schlüsselbilder bezeichnet werden, wobei „der mit dem Bild korrespondierende Text (oder der in seinem Kontext stattfindende Diskurs) in diesem Prozess interpretationssteuernd“ wirkt (2011b, 166). So werden schriftsprachliche Inhalte verbildlicht und umgekehrt, wobei die oben erwähnte Potenzierung der jeweiligen Teile voll zum Tragen kommt. Die oben gezeigten Darstellungen einer Flüchtlingsfamilie mit dem mittlerweile europaweit bekannten Slogan Refugees welcome, ein brennender Schnellzug mit dem Zusatz Sabotare è giusto oder die ikonische Abbildung von Valerio Verbano oder sonstigen politischen Persönlichkeiten in Kombination mit politischen Parolen sind eindrückliche Beispiele dafür.
7.1.5. Mitteilung – POL
Der letzte Kommunikationsfaktor nach Jakobson (1979) ist die MitteilungJAK, wobei in Kapitel festgehalten wurde, dass für den Untersuchungsgegenstand Scritte Murali zwischen übermittelter Information, die über sprachliche und bildgraphische Zeichen auf der Textoberfläche erscheint, und Mitteilung im Sinne der Gesamtbotschaft des Textes differenziert werden muss. Dazu gehe ich zunächst auf die Informationen, die auf syntagmatischer und paradigmatischer Ebene geteilt werden, ein und schließe die Analyse der politischen Scritte mit der Zusammenfassung der Funktionalitäten des Genres, welche auf den bisher gezeigten Attributen innerhalb der einzelnen Kommunikationsfaktoren basieren. Die Kommunikationsfunktion konstituiert sich somit aus der kommunikativen Teilhabe der Einzelaspekte und entspricht letztlich der Gesamtbotschaft der Scritte.403
7.1.5.1. Mitteilung – Information – POL
Die für diesen Faktor relevanten prototypischen Korpusdaten stammen aus den Attributsklassen, welche die sprachlichen und bildgraphischen Zeichen betreffen, also in erster Linie die Lexik und Inhalte der bildgraphischen Zeichen. Dabei sind die verwendeten Wortfelder und Eigennamen, die Verteilung der Wortarten, die Wort- bzw. Tokenkombinationen (n-Gramme) sowie die Tokenzahl pro Scritta von höchster Bedeutung. Die Analyse der Daten konzentriert sich hierbei auf die inhaltlichen (also semantischen) Aspekte, wobei nötigenfalls auf bedeutende Aspekte der vorangegangenen Kapitel eingegangen wird und sowohl paradigmatische als auch syntagmatische Auffälligkeiten berücksichtigt werden sollten. Grundlegend müssen alle Faktoren aus der Perspektive der Ortsabhängigkeit interpretiert werden. Dies führt dazu, dass die Prototypen der Subdomänen methodischer Ausgangspunkt sind, da diese ortsspezifisch sind und die eigentliche Basiskategorie innerhalb der Domäne POLITIK repräsentieren (siehe DEFAULT).
Lexik (und erweitert auch die Semantik der bildgraphischen Zeichen) ist dabei „diejenige sprachliche Ebene, auf der sich die Sprache politischer Gruppen am sichtbarsten manifestiert“ (Kämper 2018, 447-448). Bei der Auswertung der Prototypen wurden jeweils autosemantische Wortarten berücksichtigt, unter denen auch jene Token zu finden sind, die beim Verstehensprozess als sog. Frame-Identifikatoren fungieren. Damit sind zunächst einmal die Token gemeint, die bei einer konkreten Scritta als Deutungshinweis der übermittelten Information dienen. Der Wortschatz der Domäne POLITIK zählt mit 709 verwendeten Lemmata404 zu den größten des Korpus und das nicht nur, weil diese Domäne die größte des Korpus ist. Erkennbar wird dies im Vergleich mit der zweitgrößten Domäne ULTRAS, die gerade einmal 391 Lemmata aufweist und sich die Frequenzen der Token auf eine weitaus geringere Menge von Lexemen beschränkt. Ausserdem auffällig sind die Werte des Kernwortschatzes: die konkret vorliegenden Token der Scritte werden zu 65 % durch nicht einmal ein Viertel (23 %) der insgesamt verwendeten Lemmata gebildet. Da es im Rahmen dieser Arbeit unmöglich ist auf alle Lemmata einzugehen, muss der Fokus auf den frequentesten Wörtern liegen (siehe Tabelle 76). 53 % der in rechten Scritte vorkommenden Lexeme werden von gerade einmal 36 Lemmata gebildet, wobei bereits acht (!) der Einheiten 25 % ausmachen. In der linken Subdomäne ist die Varianz etwas höher – hier bilden 68 Lemmata 52 % der Einheiten, wovon bereits elf Einheiten 24 % ausmachen.
Linke Subdomäne |
Rechte Subdomäne |
vivere no essere libero fascista antifa antifascista lotta mai sempre occupare sciolto cagna rabbia rosso fascismo boia stato ribelle libertà novembre sgombero comunista ACAB viva più donna merda infame casa femminista trattativa anche quartiere ora meno amoroso moroso onore marzo qui assassino votare ore cuore ciao strada esplodere volscevico resistere partigiano benvenuto siempre hasta corteo amore carogna mondo tornare anarchia odiare guardia combattere via amare per morire lottare stesso |
Ultras vivere banda lotta merda essere romanista studentesco libero onore viva laziale dux blocco est Heil Sieg ebreo rubagalline rosso fascista sacro meticcio bastare amare tempo agire pensare combattere prato zingaro accoltellare caricare monte camerata avanti |
Der Unterschied des Informationsgehalts bzw. der Wortfelder zwischen den Subdomänen wird recht schnell deutlich, wobei sich die grundlegenden ideologischen und politischen Weltanschauungen der jeweiligen Gruppen abzeichnen und gruppenkonstituierende und –anzeigende Einheiten auftreten (vgl. Kämper 2018, 448). Schröter unterscheidet bei politikspezifischer Lexik zwei wesentliche Teilbereiche: erstens ein „eher von politischen Experten an politische Experten gerichteten, institutionsspezifischen und institutionsinternen Bereich“ (= Lexik der politischen Fachwelt) und zweitens einen Bereich der politischen Kommunikation in der Öffentlichkeit, „in der politische Experten sich vor allem an politische Laien richten, um für ihre Position zu werben“ (= Lexik der politischen Auseinandersetzung) (Schröter/Carius 2009, 16). Trotz dieser grundlegenden Teilung, ist es nicht möglich von einem klar umgrenzten Wortschatz der Politik auszugehen,405 sondern das Mischungsverhältnis von fach- und allgemeinsprachlichen Wörtern ist für die politische Fachwelt ausschlaggebend, wobei die Spektren der Wortbedeutungen406, des Kommunikationsbereiches, des Sachgebietes und der Fachsprachen diese Mischungsverhältnisse bedingen (vgl. Schröter/Carius 2009, 16-17). Auch für den Kontext der politischen Scritte Murali sind die Spektren der von den Kommunikationsteilnehmern geteilten Wortbedeutungen und des Kommunikationsbereiches von Bedeutung, wobei letztgenannter Bereich i. S. v. Kommunikationsanlass zu verstehen ist und bei den SM durch die besondere Kommunikationsform (transgressiv, öffentlich, ortsgebunden usw.) geprägt ist. Es kann zunächst also festgehalten werden, dass erstens politikspezifische Fachsprache bei beiden Subdomänen nur selten auftaucht, was sich an den Wortlisten deutlich zeigt. Linkspolitische Texte weisen dabei etwas mehr solcher Fachtermini auf – etwa trattativa, sgombero, contributo, autonomia, magistrato, solidarietà – welche jedoch mit einer niedrigen Frequenz auftreten (meist nur einmal). Gleichzeitig zeigen diese Wörter, dass es sich fast ausschließlich um Lexeme handelt, die zwar im politischen Kontext eine Rolle spielen, aber auch von der Allgemeinheit zu großen Teilen verstanden werden, ohne über besondere politische Fachkenntnisse zu verfügen. Der Kommunikationsanlass bzw. die Kommunikationsform des SM-Genres POLITIK greift also kaum auf fachsprachliche Lexik zurück und verwendet fast ausschließlich Wörter, die allgemeinsprachlich verständlich sind, maximal fächer- und bildungssprachliche Elemente enthalten und sich auf öffentlichkeitsrelevante Diskurse beziehen (vgl. Schröter/Carius 2009, 18-19). Diese Priorisierung von themenbezogenem Diskurswortschatz ist der zweite grundlegende Punkt bei der Betrachtung der Inhaltsseite von politischen Texten, wobei bedacht werden muss, dass es sog. Teilöffentlichkeiten gibt, da „verschiedene Personen und Organisationen über unterschiedlich gute Voraussetzungen verfügen, sich in der Öffentlichkeit eine Stimme zu verschaffen und wahrgenommen zu werden“ (Schröter/Carius 2009, 20). Innerhalb dieser Teilöffentlichkeit werden politische SM zu verschiedenen Zwecken genutzt und dementsprechend wird auch die Lexik angepasst. Für die Kommunikation sind sog. Schlagwörter von Bedeutung, mithilfe derer die Programme, Ideen, und Vorstellungen der produzierenden Gruppen zum Ausdruck gebracht werden (Schröter/Carius 2009, 20). Die Wortlisten und v. a. die n-Gramme zeigen, dass der Meinungsgehalt – also die Bewertung von politischen und gesellschaftlichen Zuständen – hinsichtlich der ideologischen Wertevorstellungen dieser Gruppen in der Auseinandersetzung mit gegnerischen Gruppen das grundlegende Moment ist.
Betrachtet man die Lexik bzw. Wortfelder genauer, so lässt sich für die rechtspolitische Subdomäne feststellen, dass hier die unscharfen Grenzen zur Domäne ULTRAS besonders deutlich werden. Nicht nur ist die Einheit Ultras die häufigste, sondern es lassen sich weitere szenenspezifische und -bezeichnende Begriffe finden, wie etwa romanista oder laziale. Auch die Einheit banda, welche in der festen Verbindung mit Noantri eigentlich als Eigenname verstanden werden muss, bezieht sich auf das Milieu der Ultras, wobei die hohe Frequenz darin begründet liegt, dass die Ultrasgruppierung deutlich rechtsextreme politische Gesinnungen propagiert und besonders aktiv SM erstellt (v. a. im Gebiet um die Piazza Bologna). Dass auf beiden Seiten hohen Werte des Verbes vivere wie auch des Adjektives libero zu sehen sind, liegt an der verbreiteten Praxis der Totenehrungen und Solidaritätsbekundungen mit Personen, welche Anhänger der jeweils gleichen Großideologien sind oder waren. Des Weiteren treten in der gesamten Lexik eine nicht unerhebliche Menge an Einheiten auf, die zur Bildung von Gruppenbezeichnungen verwendet werden, wobei hier die ideologischen Gesinnungen und/oder programmatische Inhalte plakativ kommuniziert werden: Blocco Studentesco, Fiamma Tricolore, Nihil Est Superius, Fronte Nazionale usw. Am deutlichsten jedoch sind es Begriffe der Art lotta/lottare, onore, agire, combattere, camerata, caricare, welche die Werte und ideologischen Anschauungen in Form von Schlüsselwörtern kommunizieren und sich in Wortfeldern über die gesamte Lexik niederschlagen. So werden martialisch-kämpferische Werte und Attribute glorifiziert (onore, risorgere, guerra, vigilare, fronte, lottare, eroe, legionario, morte, offensiva, valore, dux/duce, avanti, impero usw.) und Gewalt verherrlicht (accoltellare, ammazzare, strage, rogo, (mettere al) muro, sparare, bruciare usw.). Leitwörter, die oftmals in Kombination mit weiteren Einheiten (bspw. politischen Symbolen) realisiert werden, tragen insbesondere eine sendermarkierende Funktion. Wie oben gezeigt wurde, wird diese Funktion durch kodale (z. B. sprachliche und typographische) Hinweise verstärkt und drückt sich Einheiten wie Sieg, Heil, Dux oder fascista aus. Die Funktion einer besonders großen Menge an Lexemen lässt sich erst mit Blick auf die syntaktische Ebene erklären. Dazu zählen Ausdrücke wie merda, ebreo, rubagalline, zingaro, boia, verme, bastardo, zecca, negro, oder Jude. Diese Begriffe werden von rechtsextremen Gruppen in den Scritte dazu verwendet, um Personen oder Gruppen zu beleidigen, wobei Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als grundlegende Einstellung veräußert wird.
Die Lexik der linkspolitischen Subdomäne ist hinsichtlich der kommunikativen Teilhabe und Funktion ähnlich aufgebaut, wenn sie auch etwas breiter aufgestellt ist. Auffällig ist, dass die Verbindung zur ULTRAS-Domäne weitaus weniger deutlich ist, was auch damit erklärbar ist, dass (zumindest im Erhebungsgebiet) weniger ULTRAS-Gruppierungen aktiv sind, die explizit eine linkspolitische Basis vertreten. Die Wertvorstellungen und ideologischen Haltungen lassen sich in dieser Subdomäne noch deutlicher aus der Lexik ablesen, auch aufgrund der Tatsache, dass mehr Lexeme verwendet werden. Die Semantik verweist z. B. auf ideologische Grundwerte der linkspolitischen (libero/libertà, resistenza, popolare/popolo, ribelle, lotta di classe oder pubblico) oder praxeologische Elemente der Gruppen (occupare, combattere, lottare, sabotare, boicottare, rompere usw.). Auch die grundlegende Appell- und Anklagefunktion der Texte lässt sich nicht nur an explizit deontischen Einheiten (etwa dovere, lottare/lottare, resistere usw.), sondern an der Semantik der Tokenfolgen erkennen: (ne) sgomberi (ne) trattive, (lo stato) assassino, ridare usw. Die bei linkspolitischen Scritte verwendeten Einheiten, die im Kontext von Beleidigungsakten auftreten, wie merda, infame, ACAB, assassino, bastardo oder carogna, zeigen erwartunggemäss nicht die rechtsextreme Fremdenfeindlichkeit. Dass linkspolitische Scritte im Vergleich weniger Gewaltbereitschaft oder -verherrlichung zeigen, mag zwar auf den ersten Blick so wirken, aber bei genauere Betrachtung der gesamten Lexemliste sind auch hier ausreichend Belege zu finden, die Zerstörung und umstürzlerisches Verhalten thematisieren, Gewalt euphemisieren und als legitimes Mittel für eigene Zwecke darstellen: occupare, (la) rabbia esplode, anarchia, odiare, morire, lottare, sabotare, rompere, sparare, accendere, uccidere usw. Feindbilder werden deutlicher und häufiger benannt, als bei rechten Texten, etwa bei stato, chiesa, fascio/fascista, razzismo oder guardia. Gruppenindizierende und identitätsanzeigende lexikalische Einheiten fehlen auch in linken Texten nicht und werden v. a. durch Token der Art antifa/antifascista, ribelle, femminista, partigiano oder compagno markiert. Unter den frequentesten Einheiten ist schließlich auch der kombinierte Eigenname cagne sciolte, der nicht nur die weibliche Grundlage der Mitglieder anzeigt, sondern sowohl das rebellische als auch das strassennahe Selbstverständnis der Gruppe ausdrückt.
Begreift man die Einheiten mit höheren Frequenzen (mind. 3) als Schlagwörter, so zeichnet sich bereits bei den Wortlisten ab, dass erstens wenige Elemente umstritten sind,407 d. h., dass wenige Wörter von beiden Seiten verwendet werden und dabei von den jeweiligen gegnerischen Gruppen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden. Ein Beispiel dafür wäre das Wort libertà, das von beiden Seiten verwendet wird (links achtmal, rechts nur einmal) und bei dem davon ausgegangen werden kann, dass ‘Freiheit’ bei Rechtsextremen anderes konnotiert ist als bei linksextremen Aktivisten. Schon die völlig ungleiche Verwendungshäufigkeit zeigt, dass der Freiheitsgedanke für linkspolitische Gruppen von programmatischer Natur ist, was für rechte Gruppen augenscheinlich nicht der Fall ist. Die auf beiden Seiten häufig verwendeten Wörter vivere, essere oder merda sind offensichtlich keine Schlagwörter, sondern müssen im Kontext ihrer syntaktischen Verwendung interpretiert werden. Zweitens wird in den Wortlisten angedeutet, dass nur wenige Hoch- und Unwertwörter408 und wenige Stigmawörter409 als Schlagwörter verwendet werden. Ein zentrales Element der politischen Scritte ist die Konfrontation, Beleidigung und Gewaltandrohung der Produzenten gegenüber den politischen Kontrahenten, wobei dies weniger auf lexikalischer Ebene durch Schlag- und Unwertwörter (etwa rossi für linkspolitische Aktivisten) geschieht, sondern eher durch Modifikationen, das Absprechen von vermeintlichen Machtansprüchen (v. a. in Gebieten) und einfachen Mehrworteinheiten, wie fascista/antifascista + merda/infame. Die Ansicht der aus Hand 2 und höher stammenden Wörter der linkspolitischen Subdomäne bestätigen diese Annahme: es finden sich eine Vielzahl an Schimpfwörtern, wie z. B. infame, merda, boia, cazzo, coglione, leccare, coniglio, verme, frocio usw.. Feindbilder werden also generell benannt, aber ohne diese mit Unwert- oder Stigmawörtern in Verbindung zu bringen. Die Verwendung von Stigmawörtern, wie es in Abb. 204 der Fall ist, bleibt die Ausnahme. Als Fahnenwörter – also gruppengebundene Ausdrücke zur positiven Selbstdarstellung (vgl. Schröter/Carius 2009, 24-25) – dienen die oben genannten Einheiten, die auf die ideologischen Einstellungen und Werte verweisen. Deutlich wird hier für beide Seiten eine oft extreme oder radikale Haltung, da z. B. klar kommuniziert wird, dass beim Kampf um politische Forderungen (lottare, combattere usw.) auch und gerade radikale Handlungen als legitim gesehen werden (sabotare, sparare, occupare usw.) (siehe Abb. 203). Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Wahl der transgressiven Kommunikationsform SM, die – wie oben gezeigt wurde – symbolisch als Schlagbilder dienen können. Die positive Selbstdarstellung dieser extremen Gruppen weicht in vielen Teilen davon ab, was die Gesellschaft vermutlich als ‘positiv’ bewerten würde. Exemplarisch darstellen lässt sich dies an der eindrucksvollen Scritta in Abb. 205, welche verschiedenste semiotische Ressourcen nutzt und im Kerngebiet Tufellos liegt. In diesem Text, der ganz offensichtlich zur positiven Selbstdarstellung erstellt wurde und über Text und Bild die Gesinnung der linksautonomen Aktivisten kommuniziert,410 wird auf geschichtliche und aktuelle Hintergründe verwiesen. Die zentralen Schlüsselwörter der unteren Textblöcke – chiamare, banditi, partigiani, teppisti, antifascisti – demonstrieren einerseits das Bewusstsein der Linksextremen, wie sie von der Gesellschaft in Vergangenheit (banditi, partigiani) und heutzutage (teppisti, antifascisti) bezeichnet wurden und werden. Dabei lässt sich zwar auf gewisse Art eine Verteidigungshaltung erkennen (‘Wir werden Banditen und Bandenmitglieder genannt, sind aber eigentlich Partisanen und Antifaschisten’), aber es scheint ebenso sehr, dass sich die Gruppen auch über diese Schlagwörter definieren. Banditi und Teppisti würden generell als Unwertwörter gelten, erhalten jedoch seitens der linksextremen Gruppierungen den Status von Fahnenwörtern. Zusammenfassen lässt sich diese Selbsteinschätzung durch das Schlagwort ribelle, welches zu einer der frequenteren Einheiten zählt und nicht zufällig am Eingang von Tufello in der oben gezeigten Scritta (BENVENUTE E BENVENUTi AL TUFELLO QUARTIERE LIBERO RiBELLE) erscheint.
Innerhalb der verwendeten Eigennamen lassen sich für beide Subdomänen vier Typen erkennen, wobei sich beiderseits gültige Funktionen ausmachen lassen, die sich teilweise überschneiden. Die erste Gruppe sind Vornamen, die besonders bei linken Scritte häufig auftreten. Valerio (Verbano) führt die Frequenzliste der Eigennamen (linke Subdomäne) sogar an, weitere Beispiele wären, Nunzio, Carla (Verbano), Carlo oder Matthias. Domänenspezifisch ist ausserdem die Verwendung von Spitznamen bei linkspolitischen Texten, etwa Dax oder Lotto. Bei rechtspolitischen Scritte treten Vornamen insgesamt weniger häufig auf, wobei Namen wie etwa Paolo, Francesco oder Gabriele trotzdem zu den häufigsten Eigennamen gerechnet werden können. (Der ernsthafte und kämperische Grundton rechtsextremer Scritte lässt die Verwendung von Spitznamen eventuell nicht zu.) Vor- und Spitznamen werden zu zwei Hauptzwecken verwendet: erstens treten sie in Solidaritätsbekundungen auf, meist in der Kombination mit libero/a, da es sich um inhaftierte Gleichgesinnte handelt, und zweitens sind sie Teil von Totenehrungen in Wortkombinationen des Typs [NPR vive]. Dass dabei v. a. Vor- und Spitznamen verwendet werden ist plausibel, da sie typischerweise Nähe ausdrücken, im Gegensatz zu Nachnamen, die hier Distanz zum Referenten ausdrücken sollen. Wie wir weiter unten sehen werden, sind diese beiden Konstruktionen ([Eigenname vive/libero]) eine der typischsten Mittel bei politischen Scritte und tragen spezifische Funktionen. Diese Kombinationen werden fast ausschließlich anhand von Vornamen erstellt und Nachnamen dann meist in Verbindung mit dem Vornamen angegeben werden (etwa Valerio Verbano + vive). Die zweite Gruppe wird von Nachnamen gebildet, auf linker Seite z. B. Salvini, Marino, Renzi oder Alemanno, auf rechter Seite sind erneut weniger zu finden, etwa Schiavulli oder Losacco. Für linkspolitische Texte ist dabei klar, dass einerseits die Distanz zu den politischen Persönlichkeiten ausgedrückt wird und dies überdeutlich, da sie meist beleidigt oder verhöhnt werden, und andererseits wird dadurch die eindeutige Identifizierung der Zielperson sichergestellt. Interessanterweise geschieht dies auf rechter Seite so gut wie gar nicht. Beide Seiten bedienen sich des Nachnamens, wenn auf bedeutende politische Persönlichkeiten referiert wird, gleich ob diese positive oder negativ bewertet werden, wobei die allgemeinsprachliche Verwendung ausschlaggebend ist. So tauchen etwa Mussolini, Lenin, Stalin, oder Rommel in den Texten auf, mit eindeutigen Hinweisen auf die Einstellung gegenüber diesen Personen seitens der Produzenten. Hauptfunktion der Nachnamen ist neben der Verwendung in Beleidigungen die politische Positionierung der Gruppierungen, wie im Beispiel Mai con Salvini (Abb. 206) durch linkspolitische Gruppen. Eine dritte Gruppe wird von Gruppen-, Institutions- oder Organisationsbezeichnungen gebildet. Hier kann klar zwischen Gruppen- und Institutionsbezeichnungen unterschieden werden: es finden sich die vielen, im Verlauf dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnten, Gruppennamen CSOA, Astra, NO TAV, Cagne Sciolte oder FGC bei linken Texten und Blocco Studentesco, Banda Noantri, AG, NES oder Noi Sopra Le Macerie bei rechten Texten wieder.411 Institutionsbezeichnungen wie z. B. Digos (Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali) oder CIE (Centro di identificazione ed espulsione), aber auch die Polizeikräfte (guardie), werden dagegen eindeutig als Feindbilder gekennzeichnet, wobei linkspolitische Aktivisten in dieser Hinsicht weitaus produktiver sind. Die Hauptfunktion von Gruppenbezeichnungen ist hier als territoriale Markierung zu werten, da diese oftmals ohne weitere sprachliche Zeichen in den Gebieten erstellt werden und hochfrequent sind. Ausserdem werden sie kaum von gegnerischen Gruppen erwähnt, sondern diese Form von Gebietsmarkierungen werden in erster Linie durch beleidigende Modifikation (etwa dem Zusatz boia oder merda) ‘berührt’. Diese Gruppenbezeichnungen sind auf funktioneller Ebene mit politischen Symbolen gleichzusetzen. Bei rechtsextremen Texten sind unter den häufigsten Einheiten ausserdem Lazio und Roma zu finden, wobei diese Einheiten hier nicht als Ortsreferenz zu verstehen sind, sondern sich auf die Fussballvereine (S.S.) Lazio und (A.S.) Roma beziehen und somit der oben erwähnten engen Verbindung zur ULTRAS-Domäne geschuldet sind. Die letzte Gruppe bezieht sich dann auf tatsächliche Ortsbezeichnungen, wobei der Fokus auf der Metareferenz liegt und direkt an die Ortsspezifität der Subdomänen gebunden ist. So werden in den Territorien wiederholt die Ortsnamen in Verbindung mit politischen Symbolen oder Gruppenbezeichnungen erstellt, abhängig von der jeweils dominanten Gruppe. So sind es die Namen Tufello, Garbatella, San Lorenzo oder Pigneto auf der linken Seite, Trieste Salario (Quartiere Africano), Piazza Bologna, Appio oder Monte Verde bei der rechten Subdomäne. Umkämpfte Gebiete, wie Monte Sacro können auf beiden Seiten auftreten. Für diese Gruppe ist die Funktion der Territoriumsmarkierung eindeutig und drückt sich in den Mehrwortkombinationen (etwa Tufello Antifascista) oder Text-Symbol-Kombinationen (etwa Piazza Bologna + Hakenkreuz; s. o.) unmissverständlich aus. Georeferenzielle Ausdrücke auf andere Länder oder Regionen – hierzu sind auch die Referenzen über Sprachen und ikonische Abbildungen zu rechnen (s. o.) – erscheinen ebenfalls, allerdings weitaus weniger und in erster Linie durch die Einheiten Palestina und Israele. Dass diese Ortsbezeichnungen in beiden Subdomänen und teilweise auf die gleiche Art behandelt werden (beiderseits wird der Staat Israel negativ bewertet und Freiheit für Palestina gefordert), hat unterschiedliche Motivationen: bei rechtsextremen Schriften ist eine antisemitische Haltung zu vermuten, die eine Solidarisierung mit Palestina erklärt; demgegenüber steht Israel bei linksextremen Texten als Synonym für zionistische Strömungen und die Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch Israel begründet die Solidarität.
Die absoluten Häufigkeiten der Wortarten, sowohl mit als auch ohne bildgraphischer Zeichen (siehe DEFAULT), bestätigen die Annahme, dass es sich bei einem Großteil der politischen Scritte weniger um die Übermittlung politikspezifischer Aussagen handelt, sondern eine territoriale Markierung durch Scritte im Vordergrund steht. (Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies die exklusive Funktion der politischen Scritte ist, sondern interpretiert lediglich die hohe Frequenz von kurzen Texten.) 44 % der Wortarten nehmen Nomen und Eigennamen ein; berücksichtigt man die bildgraphischen Zeichen so sind es sogar 54 %, die von bildgraphischen Zeichen (19 %), Nomen (19 %) und Eigennamen (16 %) gebildet werden. Verben treten mit 8 bzw. 7 % erst an dritter und vierter Stelle auf. Auf die Verteilungen innerhalb der Kategorie POS-Verteilung bei Tokenzahl pro Scritta wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. Diese Werte lassen sich anhand der n-Gramme bestens interpretieren. n-Gramme werden hier nach Hein/Bubenhofer als „Mehrworteinheiten (bestehend aus einer Anzahl von n Wörtern), die aufgrund ihres distributionellen Verhaltens in Sprachdaten auffällig sind“, wobei die Häufigkeit dieser Kombinationen in den Korpusdaten ausschlaggebend ist (Herv. im Orig.; 2015, 179). Da bei der Interpretation die prototypischen Werte als Ausgangsbasis dienen und eine prototypische Scritta (aus Hand 1) zwischen einem und sechs Token aufweist, sind frequente 2-, 3- und 4-Gramme besonders aussagekräftig.412 Für rechte und linke Scritte zeigen sich dabei hochfrequente Kombinationen hinsichtlich der Wortarten und den tatsächlich vorliegenden Realisierungen nach diesen Wortart-Schemata, die nachfolgend knapp zusammengefasst werden. In rechten Scritte zeigen sich solche Kombinationen auffällig, die Gruppenbezeichnungen darstellen, etwa [NOUN NPR] (Ultras Lazio, Banda Noantri), [SIGN NPR] (pol. Symbol + NES) oder [NOUN SIGN NPR] bzw. [NPR SIGN NPR] (Forza + pol. Symbol + Nuova). Hierbei stellt letztgenannte Kombination ein Spezifikum der rechtsextremen Scritte dar, da die Einbindung in die Syntax nach oben beschriebenem Schema (links oben und rechts unten werden die Initialen um das Symbol gesetzt) lediglich bei rechten Scritte auftaucht und als konventionalisiert begriffen werden kann. Weitere 3- bzw. 4-Wortkombinationen, die besonders häufig auftreten, sind [NOUN PRE NPR] (Onore a Paolo) bzw. [NOUN PRE NPR SENT] (Onore a Paolo !, Giustizia per Cecchin !) sowie [NPR VER ARTPRE NOUN] (Paolo vive nella lotta). Diese Kombinationen sind deshalb so häufig, weil sie für Totenehrungen und Solidaritätsbekundungen typisch sind. In der linken Subdomäne sind die Distributionen noch deutlicher, wobei v. a. 2- und 3-Gramme von Bedeutung sind. So erscheinen die Verbindungen [NPR VER (SENT)] (Valerio vive (!)), [ADV NPR] (No TAV) und [NOUN ADJ] (cagne sciolte) auffällig oft. Totenehrungen und Gruppenbezeichnungen drücken sich hier als verfestigte Kombinationen im Sprachgebrauch aus. Der erhöhte Gebrauch von Stencils bei linkspolitischen Scritte bewirkt die höhere Produktivität von Kombinationen der Art [NOUN CON NOUN] ((Né) Sgombero Né Trattative) oder [ART NOUN VER] (la rabbia esplode). Übergreifend zeigen sich schließlich für beide Subdomänen verfestigte Kombinationen, die nicht nur auffällig oft erscheinen, sondern innerhalb dieser Kommunikationsform als konventionalisiert gelten können. Sie fungieren in diesem Sinne als Konstruktionen, die zentral bei der kommunikativen Teilhabe innerhalb der politischen Scritte Murali sind und ‘Gebrauchsmuster’ („konzeptuelle Größen“) darstellen, „die sich aus dem Gebrauch von Sprache in konkreten Kommunikationssituationen ableiten“ (Ziem 2015, 1-2). Es handelt sich also um „konventionelle Form-Bedeutungspaare auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion, Schematizität und Komplexität“ (Ziem 2015, 3). Formseitig resultiert die Konstruktion aus wiederkehrenden Schematisierungprozessen, wobei sie innerhalb von Sprachgemeinschaften zu verbreiteten Mustern, d. h. Types, werden. Dies gilt auch für die Inhaltsseite, sprich, ihre Bedeutung ist unter den Kommunikationsteilnehmern konventionalisiert und es handelt sich aus semiotischer Perspektive um Types. Die Relation zwischen Form und Bedeutung ist dabei (teilweise) arbiträr und beruht auf der kognitiven Verfestigung bei den Teilnehmern und der Konvention (vgl. Ziem 2015, 7).
Sprachliche Kooperation hat zur Voraussetzung, dass die Kommunikationsteilnehmerlnnen bereit sind, einen gemeinsamen kommunikativen Zweck zu verfolgen und auf diesen ihre jeweiligen Handlungen unter Einbezug und Berücksichtigung der Handlungen anderer auszurichten. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines ‘common ground’, also von geteiltem Wissen und gemeinsamen Annahmen sowie Überzeugungen. Gemeinsame Intentionen sind Teil des ‘common ground’.(Herv. im Orig.; Ziem 2015, 8)
Ganz entscheidend sind hier also die Einstellungen und v. a. das Hintergrundwissen der Kommunikationsteilnehmer, wobei im Rahmen der Teilnehmer nicht nur die aktiv produzierenden Gruppen gemeint sind, sondern letztlich alle effektiven Rezipienten. Die Konstruktionen, die sich in den politischen Texten erkennen lassen, sind drei: erstens [NPR vive (SENT)], [NPR libero] und [NPR NOUN]. Bei der ersten Konstruktion werden fast ausschließlich Vornamen als Eigennamen eingesetzt, wobei das Verb stets das gleiche bleibt und das Satzzeichen nicht zwingend steht, wenn aber, dann ausschließlich durch ein Ausrufezeichen dargestellt wird. Gelegentlich wird die Konstruktion durch attributive Zusätze erweitert, etwa [NPR vive + nella lotta]. Die zweite Konstruktion funktioniert ähnlich, jedoch steht an zweiter Stelle das Adjektiv libero, welches die entsprechende Endung abhängig vom eingesetzten Vornamen trägt. Erweiterungen der Konstruktion sind unüblich, außer – dies gilt für alle politischen SM – die Senderkennungen durch Symbole oder Gruppenbezeichnungen. [NPR NOUN] ist wahrscheinlich die im gesamten Korpus am häufigsten auftretende Konstruktion und steht v. a. als vielgenutztes Instrument zur Beleidigung. Der Eigenname, der in diesem Fall oftmals Gruppen, Organisationen oder Institutionen bezeichnet oder auf Einzelpersonen referiert, wobei dann der Nachname verwendet wird (s. o.), ist gefolgt von einem der oben genannten Schimpfwörter, die sich abhängig von der jeweiligen Produzentengruppe ausdifferenzieren. Diese Konstruktion der Art Lazio merda oder DIGOS boia wird auch auf die Modifikationsroutinen übertragen, da dort oftmals gegnerische Eigennamen mit einem beleidigenden Zusatz versehen werden oder das Schimpfwort direkt auf dem Eigennamen platziert wird.
Dass diesen Kombinationen nun der Status von Konstruktionen zugesprochen werden kann, ist aus zweierlei Hinsicht begründet. Erstens ist etwa bei der Konstruktion [NPR NOUN] (oder allgemeiner [Referent NOUN]) die Emotion (der Verachtung oder Ablehnung) nicht in den verwendeten Worteinheiten expliziert oder kodiert, sondern lässt sich nur anhand der negativ konnotierten Semantik der Nomen ableiten. Die (substantivische) Komponente verweist indexikalisch auf die ausgedrückte Emotion und bewertet darüber den Referenten. Wie Langlotz für die Konstruktion [You (ADJ) NOUN] festhält, lässt sich auch hier die dysphemistische Emotionsbedeutung nicht als „kompositionelles Resultat der Satzsemantik erklären“, sondern wird durch die syntagmatische Einheit getragen, wobei auf formaler Ebene durch das Auslassen der Verb-Kopula die symbolische Bedeutung der Konstruktion angezeigt wird (Langlotz 2015, 275-276). Eine zweite Begründung für den Status als Konstruktion dieser Einheiten liegt in der Tatsache, dass die funktionale Bedeutung der territorialen Markierung durch die Konstruktionen (sowohl bei [Referent NOUN] als auch [NPR libero] und [NPR vive]) ebenso wenig explizit beschreibt, sondern ausschließlich über die symbolische Gesamtbedeutung getragen wird, wobei der common ground der Zeichennutzer den Zugang zur Bedeutungserschließung gewährt. Beispielsweise ist es nicht plausibel davon auszugehen, dass die Konstruktion [NPR vive] tatsächlich darüber informieren möchte, dass die benannte Person am Leben ist, da die Personen nämlich ausnahmslos verstorben sind. Trotzdem gibt es wenige Kombinationen, die derart häufig und regelmäßig in ganz bestimmten Gebieten auf die immer gleiche Weise erstellt werden. Da die übermittelte Information nicht der Zweck sein kann (die Person ist verstorben), die hohe Frequenz auch eine rein metaphorische Botschaft (i. S. v. der Geist des Verstorbenen lebt in unserem Kampf weiter) unwahrscheinlich werden lässt und die syntaktische Form derart konventionalisiert ist, dass sie nur in dieser Form erscheint, muss die Konstruktion für etwas anderes stehen. Betrachtet man die Standorte und Distribution in den Erhebungsgebieten, so wird deutlich, dass die Konstruktion als Markierungssymbol in den Gebieten funktioniert, ähnlich den vielen politischen Symbolen und Gruppenbezeichnungen. Produzenten nutzen dabei ganz bewusst die emotional-affektiven Reaktionen der Rezipienten, die aus dem Ableben der benannten Personen resultieren. Dazu werde ich weiter unten noch genauer eingehen, da Totenscritte einen Sonderstatus unter den SM haben. Bei der Konstruktion [NPR libero] ist der Informationsgehalt gegeben, d. h., der Appell eine bestimmte Person aus der Haft zu entlassen oder eine Volksgruppe aus einer Unterdrückung zu befreien ist plausibel, weil theoretisch möglich. Allerdings ist auch hier die hohe Frequenz und v. a. die Wahl der Kommunikationsform entscheidend. Eine tatsächliche Befreiung der Personen oder -gruppen aufgrund transgressiver Botschaften ist recht unwahrscheinlich, worüber sich auch die Produzenten bewusst sein werden. Es handelt sich also auch hier um einen Territoriumsmarker, der geschickt Appelle und wesentliche Gruppeneinstellungen kommuniziert.
Neben Nomen können auch Adjektive oder sogar Verben als sog. affect specifiers („specifying particular affective orientations of utterances“, Ochs/Schieffelin 1989, 14) dienen, etwa in den Konstruktionen [NPR libero] oder [NPR vive]. Hier wird nämlich nicht nur eine Forderung (jemanden zu befreien) oder ein Vermächtnis (Person XY lebt weiter) beschrieben, sondern die emotionale Nähe zum Referenten und damit allgemein verbundene Emotionen werden hier versprachlicht, ohne das dies direkt ablesbar ist. Als affect intensifiers („modulating the affective intensity of utterances“; Ochs/Schieffelin 1989, 14) können dann Zusätze verschiedenster Art gesehen werden. Neben sprachlichen Zeichen, wie bei Valerio vive nella lotta oder auch dem Hinzufügen eines Ausrufezeichen, um die Bedeutung zu intensivieren (Fascio merda !), müssen auch Elemente aus anderen semiotischen Ressourcen als affect intesifier dienen. So z. B. ist der gewählte Standort eines Totenmurales oder die ikonische Abbildung des Verstorbenen als intensivierendes Element im Rahmen der emotionsausdrückenden Handlung zu werten.
Die Konstruktion [NPR NOUN] ist, wie gesagt, eine der häufigsten Kombinationen des gesamten Korpus.413 Im italienischen Vergleichskorpus itTenTen findet sich diese Kombination erst an Stelle 275 (!), was die Wortartverbindung umso auffälliger erscheinen lässt. Die Frequenz erhöht sich zusätzlich, wenn die Verbindung [NOUN NOUN] für die Fälle mitberücksichtigt werden, in denen das erste Nomen Personenstände oder -gruppen im Sinne von Sammelbegriffen bezeichnet, etwa fascista, guardia, israeliano, magistrato oder militare. Das Nomen an zweiter Stelle wird in adjektivischer Funktion verwendet, wobei die Prädikation ohne Kopulativverben direkt dem Subjekt angestellt wird. Langlotz stellt für die Konstruktion [You (ADJ) NOUN] im Englischen fest, dass durch das Auslassen der Verb-Kopula (in diesem Fall eng. are) die Prädikation des Referenten „auf eine konzisere und direktere Art und Weise“ geschieht (2015, 273). Auch der oben genannten Realisierung [NPR libero] liegt ein ähnliches Schema zugrunde. Die im Korpus vorliegenden Konstruktion [NPR NOUN] ist der bei Langlotz‘ Fallstudie untersuchten Konstruktion, die als sozio-emotionales Koordinationsmittel dient und hauptsächlich zu Negativbewertung verwendet wird (vgl. 2015), äußerst ähnlich (sowohl auf formaler als auch funktionaler Ebene) und kodifiziert die höchst negative Be- bzw. Abwertung des Referenten, wie die konkreten Realisierungen im Korpus zeigen. Ausnahmen können aber bspw. bei den Realisierungen Tufello/Garbatella antifasista oder femministe (a)morose durchaus auftreten. Auch bei dieser Konstruktion scheint der ausschließliche Zweck nicht die tatsächliche Beleidigung der jeweils benannten Personen oder Institution zu sein, sondern sie wird symbolisch verwendet, um Gebiete zu markieren, mit einer einhergehenden, einfachen aber deutlichen Feindbildmarkierung und/oder Kommunikation von grundlegenden Produzenteneinstellungen sowie teilweise expliziten Machtansprüchen zu Gebieten (Tufello Antifascista). Die prädikativen Nomen geben dabei auf paradigmatischer Ebene Einblicke in diese kommunizierten Grundeinstellungen, v. a. bei rechtsextremen Scritte. Zu den häufigsten verwendeten Lemmata linkspolitischer Scritte zählen die Wörter boia, verme, merda, bastardo, carogna, assassino und cane. Neben den ‘üblichen’ (d. h. allgemeinsprachlich verbreiteten) Schimpf- und Fäkalwörtern (merda, boia, bastardo) lässt sich hier auch die anklagende (assassino) Haltung gegenüber politischen Personen oder Staaten erkennen, wobei diese als tyrannisch beschrieben werden (carogna). Ausserdem erscheint das kämpferische Ideal und die Verachtung von davon abweichenden Attributen, welche auch anhand negativ konnotierter Tierbezeichnungen, denen stereotypisch etwa Feigheit, Schwäche oder Würdelosigkeit zugeschrieben wird (verme, cane), ausgedrückt wird.414 Bei rechtspolitischen Scritte dagegen zeigt sich klar die Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sowie die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten. Diese neofaschistischen Einstellungen werden ganz offen in den Paradigmen zingaro, frocio, ebreo, negro usw. kommuniziert, wobei auch oben genannte Schimpf- und Fäkalwörter (merda, bastardo) häufig verwendet werden. In etwas abgeänderter Form tritt diese Konstruktion auch bei den Modifikationsroutinen auf, wobei Wörter wie merda, coniglio (dieses besonders im Kontext von politischen Ultras-Scritte) oder ebreo den betreffenden Nomen/Eigennamen hintenangestellt werden oder direkt über das Token gesetzt wird, wodurch dem Referenten sozusagen ein Label zugewiesen wird. Bei antisemitischen Scritte kann dabei der Davidstern anstelle des Lexems ebreo auftreten. Die hohe Distribution dieser konventionalisierten Konstruktionen auch in weniger frequentierten Strassenzügen spricht für eine zentrale Bedeutung bei der Markierung von Territorien. Auf die oben genannten, grundlegenden Bedingungen von grammatischen Konstruktionen verweisend, bedeutet dies zusammengefasst, dass sie (die grammatischen Konstruktionen) als konventionalisierte sprachliche Kategorien organisiert sind, wobei die pragmatische und soziale Funktion als motivierendes Prinzip zu verstehen ist. Die Konstruktionen symbolisieren in erster Linie territoriale Markierungen, die sich über rekurrente Schematisierungsprozesse zu Einheiten mit typischen Formen und Bedeutungsinhalten gebildet haben und im Sinne von geteiltem Wissen den Kommunikationsteilnehmern vorliegen. Auf paradigmatischer Ebene können dabei Grundeinstellungen und Feindesbilder kommuniziert werden. Gleichzeitig können unter Berücksichtigung des Ko-Textes (syntaktische Ebene) diese Grundeinstellungen spezifiziert (bspw. Solidaritätsbekundungen) und Feindesbilder prädiziert werden. Dieses zweiseitige Kommunikationsangebot potenziert demnach die Hauptfunktion der Konstruktionen als territoriale Markierungen, wobei die Reduzierung der inhaltsseitigen Komplexität sicherlich als eine der Hauptmotivationen für den Bildungs- und Festigungsprozess der Konstruktionen verstanden werden muss und zwar sowohl auf kognitiver Ebene (entrenchment) als auch auf sozialer Ebene (Konventionalisierung) (vgl. Schmid 2014, Croft 2009 und zusammenfassend Ziem 2015). Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die Konstruktionen in ihrer Bildhaftigkeit und Kürze ein hervorragendes Kommunikationsinstrument darstellen, welches sich bestens für die Schaffung und Erhaltung von kommunikativen und sozialen Räumen eignet.
Bevor ich die zentralen Funktionen von politischen SM zusammenfasse, möchte ich einige Aussagen Petrellas in Bezug auf die Informationen und ihre Konstitution für den Bereich von linkspolitischen Texten knapp zusammenfassen. Laut Petrella werden Texte von Autonomen des CSOA Astra nach bestimmten Schemen verfasst und zwar auf syntagmatischer und paradigmatischer Ebene. Dies wird deutlich, wenn er über die Novizen der Gruppierung spricht, die schrittweise in die gruppeninterne Denk- und Sprech- bzw. Schreibweise eingeführt werden, da sie anfangs viele der Thematiken nicht verstehen. Ein grundlegendes Ziel ist es dabei, jedem den Zugang zu den ideologischen und politischen Ansichten zu ermöglichen, was u. a. durch eine einfache und direkte Sprache, die bewusst auf komplizierte politische Fachterminologie verzichtet, erreicht werden soll (vgl. Petrella 2014, 22:51-24:18). Dies erklärt möglicherweise die recht simpel anmutenden Kurzscritte, die so häufig in Tufello zu finden sind. Bei der messaggistica, also der Nachrichtenübertragung, die laut Petrella auf „basi molto forti“ aufgebaut ist, spielen Feindbilder und grundsätzliche Ansichten eine zentrale Rolle, die sich textuell in den Schlüsselbegriffen niederschlagen. Feindbilder seien dabei neben Personen(gruppen) – bspw. Faschisten – auch ganz allgemein in „cose sbagliate“ zu finden (vgl. Petrella 2014, 08:50-09:30). Der oftmals aggressive Grundton der linksextremen Scritte lässt sich also anhand dieses zentralen Moments der Fokussierung auf Feindesbilder erklären, da – so Petrella – Feindesbilder als Ausgangspunkt für die konkreten Scritte fungieren (i. S. v. Wer oder Was soll konkret und direkt im Text attackiert werden?). Dies geschieht dann anhand der oben genannten und im Korpus stark vertretenen einfachen Sprache, wie Petrella am Beispiel des Palästina-Diskurses erklärt: „[…] per essere più concisi e per scriverlo sul muro sopratutto. Parlando della Palestina: ‘Palestina libera – Israele assassini’ – messaggio chiaro, le frasi sono due, le parole sono quattro“ (Petrella 2014, 09:53-10:13). Abhängig vom Feindbild oder der behandelten Thematik, wird dann die Sprachwahl angepasst: so werden Politiker, wie etwa Berlusconi eher verhöhnt und diffamiert, im Gegensatz zu Themen wie der Nah-Ost-Konflikt, in welchem Menschen ihr Leben verlieren und daher eine „atteggiamento debole o permissivo“ nicht angebracht ist, sondern auf deutliche Weise auf die Missstände hingewiesen wird. Petrella bestätigt außerdem die vulgäre und beleidigende Kommunikation in Richtung der Neo-Faschisten, die er als wenig kultiviert und „offensiva e concisa“ bezeichnet (vgl. Petrella 2014, 10:20-12:53). Ernsthaftere Thematiken werden außerdem oft in längeren Texten behandelt, wobei auch hier „parole chiavi“ wesentliche Textbausteine sind (vgl. Petrella 2014, 01:04:34-01:07:24). Laut Petrella versucht das Astra 19 in ihren Scritte Themen zu berühren, die nicht nur Tufello oder Rom betreffen, sondern – ihrer Ansicht nach – von globaler Bedeutung sind:
Le cose variano molto, nel senso che di sicuro, almeno a noi come Astra 19, […] come […] autonomi del Tufello in questo senso, ci piace spaziare. [..] E andiamo a toccare tematiche che non riguardano soltanto noi, territorialmente parlando Tufello o Roma o Lazio o Italia, ma anche questioni che insomma si allarghino in Europa o […] anche nel mondo. Perché partiamo dal presupposto che insomma siamo abitanti di questo pianeta, non soltanto di questa città o di questo quartiere. […] E quindi la scelta della tematica […] è molto facile da parte nostra, perché possiamo andare a prendere […], a pescare buoni spunti da qualsiasi […] cosa che succede nel mondo, in Europa o in Italia insomma.(Petrella 2014, 06:54-08:22)
Als Beispiele führt Petrella neben Ereignissen, welche die NATO oder die TAV betreffen, die Forderung nach der Schaffung von Müllhalden für das römische Stadtgebiet an (vgl. Petrella 2014, 08:23-08:50).
7.1.5.2. Mitteilung -Nachricht – POL
Die vorangegangenen Interpretationen und Deutungen der (prototypischen) Korpusergebnisse für politische Scritte mündet nun in der zentralen Fragestellung dieser Arbeit: Welche Funktionen lassen sich für Genre POLITIK anhand der Ergebnisse ableiten? An dieser Stelle sei daran erinnert, dass weder alle Funktionen im Rahmen dieser Arbeit diskutiert werden können, noch können sie abschließend erfasst werden, da sie vom Sprachprodukt aus Sicht des Autors abgeleitet werden müssen. Der Fokus liegt also auf den zentralen und grundliegenden Funktionen, welche bis zu einem gewissen Grad als idealisiert – oder besser prototypisch – verstanden werden müssen. Das bedeutet, dass einzelne Scritte wie auch Scritta-Gruppen (bspw. Texte desselben Produzenten) weitaus mehr (Teil-) Funktionen tragen können, als dies hier beschrieben wird. Weiterhin sei vorangestellt, dass informationelle – also die sprachlichen wie bildgraphischen Zeichen und die darüber kommunizierten Informationen – und georeferenzierte – die Ortsgebundenheit der Scritte – Parameter als Ausgangspunkt bei der Ableitung von Funktionen dienen. Diese ausschlaggebenden und sich wechselseitig potenzierenden Kriterien ergeben sich in erster Linie daraus, dass die Scritte im Rahmen dieser Arbeit holistisch verstanden werden und die in Kapitel beschriebene Gewichtung und Gradiertheit der Attributsklassen gilt. Die Funktionen mögen also andersartig interpretiert werden, würde man einzelne Aspekte oder Attribute als Interpretationsgrundlage nehmen, etwa die Farbwahl der Token. Nichtsdestotrotz basieren die abgeleiteten Funktionen auf der Interpretation aller Attributsklassen, wobei diesen keinesfalls ihre kommunikative Teilhabe abgesprochen oder banalisiert werden soll. Diese Prämissen gelten im Übrigen für die Funktionsdeutungen aller domänenspezifischen Genres.
Für die Klärung der Funktionen scheint es plausibel Produzenten der Scritte nach der Motivation bzw. dem ‘Wozu?’ zu fragen. Im Gespräch mit Petrella wurde logischerweise auch auf diesen Aspekt eingegangen. Zunächst scheinen die Öffentlichkeitswirkung und die Handlungsweise an sich im Vordergrund zu stehen: “[Sul] fatto che qualcuno abbia scritto sul muro, […] il ragionamento seguente non sia soltanto chi ha scritto sul muro, ma che cosa c’è scritto? Perché ha scritto sul muro questa persona? Perché non c’era un altro spazio per comunicare questo messaggio […]?” und weiter „[N]el momento in cui scrivo sul muro, lascio qualcosa […] che può durare nel tempo e […] più dura nel tempo, più probabilmente le persone sono d’accordo con quello che ho scritto” (Petrella 2014, 29:00-30:15). Das von Klee gezogene Fazit, dass sich die Produzenten auf aktuelle Themen beziehen, mit der Absicht „in einen stillen Dialog mit Gleichgesinnten zu treten, teilweise sogar zu konkreten Handlungen aufzufordern und dadurch letztlich vermittelnd auf einen Entscheidungsprozess einzuwirken“ (2010, 117), wird hier also bestätigt. Neben Propagandazwecken wird in diesen Kommentaren aber bereits die ideologische Haltung der riappropriazione di spazi insinuiert, d. h., dass sich das Volk die Räume zurückerobern muss („Perché non c’era un altro spazio per comunicare questo messaggio […]?“). Die Linksautonomen des Astra 19 sehen dabei das Betexten als ihr Recht und wichtigen Teil des Protestes an, wie Petrella klar zu verstehen gibt, wenn er festhält:
Se siamo in un paese ricuperato, dove ognuno è libero di dire quello che vuole e ognuno è libero di farlo nella maniera che gli tiene più opportuna di comunicare le cose, deve avere gli strumenti per poterlo fare […]. Se non ci hai un modo per poterlo fare, te lo devi creare da solo! Nel momento in cui c’è questa mancanza di, appunto, strumenti comunicativi, nel momento che intenti di creartelo da solo, il muro diventa […] uno dei primi passi che devi raggiungere e quella fa parte del ragionamento politico di riappropriazione di spazi. Perché se non hai la possibilità di scrivere sul muro, non hai la possibilità di scrivere su uno striscione […], non hai la possibilità d’esprimerti!(Petrella 2014, 52:45-53:48)
Die Protestaktion und damit die Handlungsweise an sich bzw. die Wahl dieser Kommunikationsform aufgrund ihrer illegalen und subversiven Art scheinen also für linkspolitische Scritta-Produzenten ein besonders wichtiger Faktor zu sein. Die Illegalität der Taten dient dabei gerade als Protest gegen Politik und Gesellschaft. In politologischen Ansätzen wird die Öffentlichkeit als „zugangsoffenes Kommunikationsforum“ beschrieben, worin die politischen Akteure für ein „Grundrauschen ‘politischer’ Kommunikation“ sorgen (Luft 2010, 47). „Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeit in der Öffentlichkeit“ ist dabei ein Machtfaktor, der den Zugang zu diesem Kommunikationsforum ermöglicht (Luft 2010, 47). Bestimmte politische Akteure haben aufgrund ihrer finanziellen, organisatorischen und fachpersonellen Ressourcen die Möglichkeit täglich bestimmte Medien als Sprachrohr innerhalb dieses politisch-kommunikativen Austragungsortes zu nutzen und die breite Öffentlichkeit zu erreichen, andere dagegen werden nicht oder weniger gehört, da ihnen die Ressourcen fehlen (vgl. Luft 2010, 47-48). Problematisch ist daran, dass ein Ausschluss vom Nutzen dieser Medien die Möglichkeit von politischen und gesellschaftlichen Veränderungen verringern kann, da die Medien „einen großen Einfluss darauf [haben], welche Themen zu lösungsbedürftigen Problemen werden und welche nicht und natürlich auch auf die Rangfolge dieser Themen“ (Luft 2010, 47-48). Diese „Kommunikation von unten“ (Dittmar 2013, 66) von Personen aus dem ambiente popolare wird in den Arbeiten zu politischen Graffiti wiederholt als einer der Hauptmotivationen genannt, wie bspw. Klee bemerkt, wenn er die politischen Graffiti als „Form des Protests“, die „Empörung und Engagement zum Ausdruck“ bringen soll, „verbunden mit dem Effekt öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen“ (2010, 118). Diese Funktion der Scritte Murali als Sprachrohr der Unterschicht bzw. des Volkes wird bestens in der Scritta in Abb. 207 dokumentiert.
Die These, dass die Funktion der politischen SM in der subversiven Protestaktion zu finden ist, mag grundlegend korrekt sein und spielt mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Allerdings scheint mir diese Erklärung zu sehr auf ideologische Faktoren beschränkt zu sein und ignoriert die sprachlichen Elemente wie auch den zentralen Aspekt der Ortsgebundenheit von SM zu großen Teilen. Ganz abgesehen davon gilt diese Erklärung in erster Linie für linksextreme Scritte und den ideologischen Einstellungen ihrer Produzenten, nicht aber auch zwangsläufig für rechtsextreme Scritte. Petrella selbst verweist auf den sprachlichen Inhalt und die propagandistische Absicht der Texte („che cosa c’è scritto?“; „nel momento in cui scrivo sul muro, lascio qualcosa […] che può durare nel tempo e […] più dura nel tempo, più probabilmente le persone sono d’accordo con quello che ho scritto“; Petrella 2014, 29:00-30:15). Allerdings zeigen die Korpusdaten, dass nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Scritte aus längeren Texten besteht und sich die Inhalte oftmals wiederholen. Berücksichtigt man quantitative und sprachliche Faktoren sowie die Verteilung der Scritte in bestimmten geographischen Gebieten, so können insgesamt drei zentrale Funktionen von politischen SM erkannt werden, die nachfolgend zusammengefasst werden, wobei unbedingt bedacht werden muss, dass auch hier eine scharfe Trennung der Funktionen keinesfalls gelten muss, sprich, eine Scritta kann durchaus alle drei (und wahrscheinlich noch mehr) Funktionen tragen.415
Die erste Funktion ist tatsächlich die Übermittlung von politisch-programmatischen Inhalten aus propagandistischen Zwecken seitens der Produzenten, die grundlegend politischen Organisation oder Gruppierungen angehören, wie auch die typische Verwendung von Senderkennungen gezeigt hat. Texte mit dieser Funktion sind vergleichsweise selten und treten ausschließlich an bestimmten geolokalen Punkten auf, nämlich an vielfrequentierten Orten und/oder an Koordinaten, bei denen von einer verlängerten Aufenthaltszeit der potentiellen Rezipienten zu rechnen ist. Die Scritte zeigen sich dann typischerweise in einer (vergleichsweise) elaborierten Form, die oftmals spezifische Typographie-Merkmale und/oder ähnliche sendermarkierende Elemente (Farbwahl, Symbole usw.) aufweist und v. a. eine höhere Zahl an Token beinhaltet mit vermehrt fachspezifischem Vokabular. Nicht selten lässt sich bei dieser Art von Texten die Öffentlichkeit als intendierte Rezipientengruppe (Adressaten) erkennen. Die Tatsache, dass aber auch diese Texte eigentlich ausschließlich innerhalb bestimmter Territorien zu finden sind – wenn auch meist an oder in den territorialen Grenz(gebieten) – spricht auch dafür, dass eine Kommunikation Richtung der Anwohner dieser Stadtgebiete intendiert ist, obwohl (oder gerade weil?) diese Stadtgebiete gemeinhin als besonders stark von der jeweiligen politisch-ideologischen Richtung geprägt bekannt sind.
Eine zweite Funktion politischer Scritte liegt in der Übermittlung von wesentlichen politischen und ideologischen Einstellungen, Weltanschauungen und Haltungen der Produzenten. Dies geschieht anhand von meist kurzen und in ihrer Form einfach gehaltenen Scritte, die sich durch ein allgemeinsprachliches Vokabular und nicht selten vulgären oder beleidigenden Aussagen auszeichnen. Die übermittelten Grundeinstellungen beziehen sich dabei nicht nur auf den konkreten Produzenten, sondern typischerweise auf die politischen Gruppierungen, denen der/die Produzent/en mit großer Sicherheit angehören. So wird etwa bei linksextremen Gruppen kommuniziert, dass sie antifaschistisch sind und sich für die Freiheit des Menschen in der ganzen Welt einsetzen. Rechtsextreme Scritte dagegen kommunizieren ein kämpferisch-martialisches und archaisch-traditionell orientiertes Idealbild mit dem Streben nach Recht und Ordnung. Beidseitig lässt sich neben einem relativ hohen Gewaltpotential der subversive und provokative Grundton erkennen und zwar sowohl auf textueller Ebene (z. B. anhand der Lexik) als auch wesentlich aufgrund der Wahl dieser Kommunikationsform. Eine Kommunikation in Richtung der jeweils feindlichen Lager ist hier eher unwahrscheinlich, da den Kontrahenten die gegnerischen Grundeinstellungen bestens bekannt sein dürften. Eine an die Öffentlichkeit gerichtete Botschaft ist dabei eher zu vermuten, i. S. v. ‘extreme politische Gruppen, wählen extreme Kommunikationsformen und stehen für extreme politische und ideologische Werte’. Diese Art von Kurzscritte tauchen relativ häufig auf, wobei diese Funktion zu bestimmten Teilen in allen politischen Scritte zu finden ist.
Die letzte und dritte Funktion scheint mir die zentralste zu sein und leitet sich aus den deutlichen Ergebnissen der örtlichen Verteilung der POLITIK-Scritte in klar abgegrenzten Stadtgebieten sowie der besonders hohen inhaltlich-semantischen wie auch formalen Rekurrenz, die beim größten Teil der Scritte zu finden ist, ab.416 Es handelt sich dabei, um die Funktion der territorialen Markierung und Inbesitznahme anhand von SM in bestimmten Stadtgebieten. Die Formen sind dabei teilweise stark konventionalisiert und weisen eindeutige Senderkennungen auf, wobei diese offensichtlich ein Minimum an Hintergrundwissen seitens der Rezipienten erfordern. Durch die Kurztexte werden territoriale Machtansprüche und die räumliche Inbesitznahme kommuniziert und dies nicht nur an die ortsansässigen oder ‘durchreisenden’ Rezipienten auf lokaler und überregionaler Ebene, sondern an gegnerische Gruppierungen, die sich nicht selten durch Modifikationen aktiv in die Kommunikation auf textueller Ebene einschalten. Auf solchen muri contesi oder ‘Kampfwänden’, die für Aussenstehende leicht als Geschmiere und unästhetische Vandalismusakte wahrgenommen werden können, werden in den Grenzgebieten die Machtkämpfe und Konflikte verbissen ausgetragen, wobei sprachliche Inhalte zunehmend eine sekundäre Rolle einnehmen können. Die hohe Zahl an scheinbar immer gleichen Textformen mit einer geringen inhaltlich-semantischen sowie formalen Varianz und dem offensichtlichen Mangel an programmatischen Inhalten, lässt die kommunikativen Strategien zunächst besonders simpel und die inhaltlichen Botschaften äußerst banal erscheinen. Jedoch wurde gezeigt, dass die Texte sowohl inhaltlich als auch formal einem klaren Muster folgen, dabei keinesfalls willkürlich gewählt werden und v. a. ganz bewusst in den Stadtgebieten erstellt werden. Die Quantität dieser Scritte demonstriert, wie wichtig diese Funktion von politischen SM ist, und außersprachliche Ereignisse, wie etwa Angriffe auf Vereinsheime, zeigen, dass diese Funktion der Texte und die damit verbundenen (Kommunikations-) Strategien weitaus komplexer und für bestimmte gesellschaftliche Gruppen ganz zentrale lebensweltliche Faktoren sind, als dies für Außenstehende erscheinen mag. Durch die SM wird indexikalisch auf die ortsansässigen Gruppen verwiesen und über die visuelle und sprachliche Inbesitznahme der Wände kreieren die Produzenten kommunikative Räume, innerhalb welcher klar definierte Regeln und Normen gelten und deren Dynamiken drastische Auswirkungen auf die außersprachliche Lebenswelt der Kommunikationsteilnehmer haben können.
7.2. Funktionalität der ULTRAS-Scritte
Mit 1001 Scritte (entspricht etwa 30 % des Gesamtkorpus) ist die ULTRAS-Domäne das zweitgrößte Genre des Korpus. Eine Auffälligkeit bei den politischen Scritte war, dass sich die unscharfen Grenzen des Prototypen besonders in Bezug auf die Überlappungen mit der ULTRAS-Domäne zeigten. Dies bedeutet auch, dass politikbezogene Beobachtungen ebenso für die ULTRAS-Domäne von Bedeutung sind oder sein können. Nachfolgend werden die Ergebnisse aus [refkey = „protoULT“ pre=“Kapitel“] hinsichtlich der Basiskategorien für die Genre-Domäne ULTRAS interpretiert.
7.2.1. Kommunikationsteilnehmer – ULTRAS
7.2.1.1. Produzenten – ULT
Wie bereits für die Domäne POLITIK, liefert die Korpussuche nach Verben mit Endungen der ersten Person (Singular und Plural) nur äußerst spärliche Ergebnisse: gerade einmal 29 Verben treten 50-mal in insgesamt 40 Scritte (von 1001 Scritte der Domäne!) mit diesen morphosyntaktischen Merkmalen, die einen Hinweis auf die Autorenschaft geben könnten, auf. Zusätzlich zeigen lediglich 21 der 40 Scritte anaphorische oder kataphorische Informationen zu den Produzenten. Generelle Aussagen zu den Produzenten in der Kommunikationssituation lassen sich auf Basis dieser Werte kaum treffen.417 Einen ersten Hinweis auf die Produzenten finden sich in den oben genannten verweisenden Informationen in den wenigen Texten, die Verbformen der ersten Person zeigen, und zwar insofern als dabei fast ausschließlich Gruppenbezeichnungen verwendet wurden. Ähnlich zur politischen Domäne könnte dies auch hier ein Indikator für eine starke Gruppenidentifikation und dem Handeln aus der Gruppe heraus sein. Wie bereits bei der Domäne POLITIK, ist eine Suche nach den Pronomina und Klitika in den Texten wenig hilfreich, da sie gerade einmal 2,8 % der Token (Hand 1) bilden. Wenn sie doch auftreten, wird bei einem Großteil der Scritte auf die Produzenten verwiesen (z. B. bei Gabriele con noi SSL 1900). Ein Blick auf die Texte zeigt zum einen, dass die ULTRAS-Scritte weitaus weniger Senderkennungen in verkürzter Form (etwa Symbolen) beinhalten, als dies bei den politischen Texten der Fall war, und zum anderen, dass relativ selten explizit auf Ultras oder Ultrasgruppen (z. B. CML – Commandos Monteverde Lazio oder Banda Noantri) in Form von signaturartigen Zusätzen referiert wird. Eine Eingrenzung der Produzenten muss demnach auf anderem Wege geschehen.
Ultras, eine extreme Form der Fankultur, bedienen sich diverser Kommunikationsmittel, „die andernorts nicht bzw. weniger ausgeprägt existieren“ (Claus/Gabler 2018, 374). Dies gilt nicht nur, wie bei Claus/Gabler beschrieben, für Spruchbänder (striscioni) und Fangesänge (vgl. 2018, 374), sondern eben auch für SM. Ganz zentral ist dabei das „Freund-Feind-Schema“, d. h., dass die Abgrenzung und Abwertung der gegnerischen Ultras von großer Bedeutung sind, wobei die szenetypische Sprache eines der evidentesten Mittel ist (Claus/Gabler 2018, 373-374). Die Gruppenidentität, aus welcher heraus agiert und kommuniziert wird, ist dabei nicht nur eines der wesentlichsten Merkmale von Fangruppen, sondern von besonders großer Bedeutung für Ultra- und Hooligangruppen, die sich verschiedenster identitätsstiftender Begriffe und Modalitäten bedienen, wie z. B. Gruppenbezeichnungen, (Vereins-) Farben, Wappen, Gründungsdaten des Vereins oder der Ultragruppierung (vgl. Claus/Gabler 2018, 375 und 377). Die Gruppenidentifikation basiert dabei auf vier Elementen, wie Claus/Bergler festhalten:
Erstens basiert sie stets auf einer Vorstellung des ‘Wir’ […], die sich zweitens in Abgrenzung zu einer Konkurrenz […] manifestiert. Drittens funktioniert dies nur auf einem gemeinsamen Aktionsfeld (dem Fußball und seinen Fankulturen), denn Fußballfans befinden sich äußerst selten in Auseinandersetzungen mit Fans anderer Bereiche (Musik, andere Sportarten, etc.). Zu guter Letzt und viertens geht mit dieser Konstruktion die Produktion einer gemeinsamen und verbindenden Erfahrung einher.(Claus/Gabler 2018, 375)
Bei Doidge/Kossakowski/Mintert heisst es zusammenfassend: „To be an ultra is to be subsumed within the broader collective” (2020, 186). Hinweise auf die Produzenten lassen sich demnach auf den verschiedensten Ebenen an der Textoberfläche finden, wie man auch in den Ergebnissen der Korpusanalyse erkennen kann. Entscheidend ist nun, dass sich sowohl der Support der eigenen Mannschaft als auch die Diskreditierung der gegnerischen Anhänger oftmals nicht auf die entsprechende Ultragruppierung bezieht, sondern der Verein, als identitätsstiftendes Bindeglied, synonym für die Kommunikationsteilnehmer steht. So lassen sich in den Texten zuhauf Tokenfolgen der Art Forza Roma/Lazio oder Roma/Lazio merda finden, wobei sich einmal der für die Ultras so wesentliche Support der eigenen Mannschaft aus einer Gruppendynamik ablesen lässt und bei letzterem die Aversion eines Fanzusammenschlusses gegenüber einer anderen Mannschaft zum Ausdruck gebracht wird. So kann festgehalten werden, dass die Produzenten meist nicht explizit an der Textoberfläche erscheinen (i. S. v. morphosyntaktischen Elementen), aufgrund der typischen Verhaltens- und Ausdrucksweisen der Ultras aber mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die einzelnen SM-Produzenten im Namen der Ultras ihrer Mannschaft bzw. einzelner spezifischer Untergruppen dieser Ultras handeln. Diese Selbst- und Fremdreferenz bleibt also hinter den rekurrenten Sprachbezügen auf die Vereine verborgen und Senderinformationen können lediglich mit ausreichendem Hintergrundwissen entschlüsselt werden, wenn dies auch in den meisten europäischen Nationen, in denen Fußball und die damit verbundenen Elemente weit verbreitet sind, problemlos geschieht.418
Ein weiterer Punkt ist für die KommunikationsteilnehmerJAK – und dabei sowohl für Produzenten als auch Rezipienten – relevant. Genderwissenschaftliche Forschungen haben gezeigt, dass die Fußballfankultur besonders von Männern geprägt wird bzw. die meisten Ultras männlich sind (vgl. Doidge/Kossakowski/Mintert 2020), wobei „die Betonung von Körperlichkeit, Tendenzen zur Herstellung und kontinuierlichen Bestätigung von Hierarchien, Risikoverhalten und einem rauen Umgangston. Dies gilt sowohl für den Umgang innerhalb von Fanszenen als auch in noch stärkerem Maße für den Umgang mit dem jeweiligen Gegner bzw. dessen Fans“, wie bei Claus/Gabler (2018, 373) festgestellt wird. Dass die Produzenten der SM v. a. männlich sind, lässt sich zwar nicht an den Texten direkt ablesen (etwa bei Laziale verme), können aber an den verhandelten Themen und den implizit dargestellten Werten und Normen abgeleitet werden.419 So sprechen Claus/Gabler von spezifischen Merkmalen der Ultras-Sprache, „in denen sich Männlichkeit als dominantes Prinzip des Sprachhandelns manifestiert“, etwa „der Ausschluss bzw. die Marginalisierung von Frauen und Weiblichkeiten, die Entindividualisierung von Fans, die Bagatellisierung von Gewalt und die Betonung von Werten wie Stärke und Ehre“ (2018, 381). Viele dieser Merkmale lassen sich problemlos an den Scritte ablesen, etwa an der Lexik oder den Mehrwortkombinationen. Dass es sich bei den Produzenten in erster Linie um männliche Akteure handelt, bleibt dennoch eine Vermutung, wenn auch eine besonders starke.
Die weitverbreitete Annahme, dass Ultragruppierungen in der Regel politisch aktiv sind, muss jedoch relativiert werden. Die Ultraszene entstand in den 1960er Jahren in Italien – einer Zeit mit großen politischen Spannungen und die politisch-ideologischen Proteste gelangten von der Straße und den Plätzen in die Stadien der Serie A. Allerdings hat die Ultraszene in Italien und ganz Europa viele Veränderungen erlebt und man kann heute weder davon ausgehen, dass Ultras und Ultragruppierungen seit jeher politische Ziele verfolgen, noch dass Ultras des gleichen Clubs die gleichen politisch-ideologischen Interessen teilen. Wohl gibt es europaweit und auch in Italien bestimmte Ultragruppen, die offen ihre (meist) extreme politische Gesinnung zeigen, wobei diverse Abstufungen in Intensität und Seriosität erkennbar sind (vgl. Doidge/Kossakowski/Mintert 2020, 160-161 und 164). Dies macht Generalisierungen umso schwerer und es lassen sich lediglich für bestimmte Länder mit Sicherheit eine starke Partizipation der Ultras in politische Belange festhalten. So gibt es v. a. in Zentral- und Osteuropa (etwa Russland, Polen und in den Balkanländern) vermehrt Ultraszenen, die stark den nationalistischen und rechtsextremen Gesinnungen nahestehen (vgl. Doidge/Kossakowski/Mintert 2020, 175). Möchte man von politischen Grundeinstellungen von Ultras im Allgemeinen sprechen, so ließe sich eine solche in der Mentalität der Contro il calcio moderno zusammenfassen. Diese Grundhaltung beschreibt die Ablehnung der Kommerzialisierung des Fußballs in all ihren Facetten seitens der Ultras, wobei auch politische Faktoren von Bedeutung sind. Ultras verstehen sich grundlegend als autonome Szene oder Bewegung, die sich vehement gegen Autoritäten stellt und bewusst sowohl Provokation als auch Konfrontation sucht (vgl. Doidge/Kossakowski/Mintert 2020). Bei den Gruppierungen, die eine klare politisch-ideologische Haltung vertreten, spielen oftmals Lokalität und die historischen und kulturellen Hintergründe der Stadt eine wichtige Rolle. Damit ist gemeint, dass sowohl die curva im Stadion420 – dies zeigt sich auch deutlich in den Scritte, wie in den Korpusergebnissen zu sehen ist – als auch die Stadtviertel, denen die Ultras angehören, ein identitätsstiftendes Element für die Solidarität und das Gruppenverständnis der Gruppen sind. Umso mehr die soziokulturellen und historischen Hintergründe dieser Stadt oder Stadtgebiete dann bestimmten politischen oder ideologischen Richtungen verhaftet sind, desto eher schlägt sich das auch in den Gesinnungen der Ultras nieder (vgl. Doidge/Kossakowski/Mintert 2020, 178-179). Diese grundlegende Bedeutung der Lokalität ist besonders im Kontext der (ULTRAS-) Scritte interessant, da diese bekannterweise ortsgebunden sind und die unscharfen Grenzen zur politischen Domäne möglicherweise ein Hinweis auf die politische Gesinnung der Produzenten gibt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Ultragruppen erstens nicht zwangsläufig politisch motoviert handeln und ihr Fokus grundsätzlich nicht auf politisch-ideologischen Zielen liegt. Zweitens ist – v. a. im Kontext der SM – die Lokalität mit den soziokulturellen Hintergründen der Aktionsgebiete der Ultras als identitätsstiftendes Moment von besonderer Bedeutung. Drittens ist bei den Gruppierungen eine stark anti-autoritäre, konfrontationssuchende und provokative Haltung erkennbar, die sich besonders in der offen proklamierten Abgrenzung gegen Andere offenbart, wobei in erster Linie gegnerische Gruppen, Fußball-Autoritäten und die Polizei als Feindbilder fungieren und der eigene Verein als symbolisches Verbindungselement zur Identitätsbildung dient. Inwieweit sich dies auch an den SM-Texten ablesen lässt, soll in den folgenden Kapiteln diskutiert werden.
Aufgrund der starken Verdunkelung der Autoren auf der Textoberfläche, wäre es naheliegend von einer besonders hohen Anonymität der Produzenten auszugehen. Wie dies bereits bei den politischen Scritte der Fall war, liegt auch hier der Schlüssel in der Ortsgebundenheit der SM. So gilt generell, dass die Anonymität schrittweise abnimmt je geringer der Globalismus der Perspektive ausfällt. Damit ist gemeint, dass z. B. eine einfache, fußballbezogene Scritta (etwa schlicht S.S. Lazio) italienweit (eventuell sogar europaweit) als Ultras-Scritta erkannt werden kann und somit der Produzent als einer Ultragruppe zugehörig erkannt wird, mit der starken Vermutung, dass es sich um einen männlichen Schreiber handelt. Je mehr nun der situative Kontext – also das Gebiet – des Standortes berücksichtigt wird, desto eher kann der Produzent bzw. Gruppierung, die hinter dem Produzenten steht, eingegrenzt werden. Dabei spielt das Hintergrundwissen des Rezipienten eine oder die entscheidende Rolle. Ein Anwohner oder eine Anwohnerin kann also die potentiellen Produzenten hinter einer solchen Scritta möglicherweise derart stark eingrenzen, dass er/sie den Produzenten sogar benennen kann. Dies gilt v. a. für Rezipienten, die selbst in der Ultraszene aktiv sind oder aus anderen Gründen über ausreichend Wissen zur Thematik verfügen und/oder sich im Gebiet der Scritta regelmäßig bewegen. Dies erklärt sich u. a. aus einer der Hauptfunktionen der ULTRAS-Scritte, nämlich der Territorialmarkierung, wie man weiter unten sehen wird. Die Anonymität ist für diese Domäne also stark standort- und rezipientenabhängig – mehr noch als dies bei den politischen Scritte der Fall ist, da diese häufiger auf Senderkennungen zurückgreifen und diese meist auch expliziter kommunizieren.
7.2.1.2. Rezipienten – ULT
Parallel zur augenscheinlichen Anonymität der Produzenten auf der Textoberfläche, wie sie gerade beschrieben wurde, liefert das Sprachmaterial auch hinsichtlich der Rezipienten kaum explizite Hinweise (dafür sind die prozentualen Anteile der relevanten Wortarten schlichtweg zu gering). Dennoch lassen sich Merkmale zu den Rezipienten dieser Domäne ableiten, wobei die Beobachtungen aus dem vorangegangenen Unterkapitel sowie dem Kapitel zu den Rezipienten politischer Scritte dienlich sind. So sind die effektiven Rezipienten (also all jene, welche die Scritte generell wahrnehmen können) durch den geographischen Standort der Scritta begrenzt. Von größerer Bedeutung sind jedoch die intendierten Empfänger, d. h. Adressaten, die von den Produzenten anvisiert werden. Gelten die oben beschriebenen Grundvoraussetzungen in Bezug auf die Produzenten, dass Ultragruppierungen meist aus männlichen Mitgliedern bestehen und die Kommunikation bzw. das Sprachhandeln primär von einem Männlichkeitsprinzip dominiert wird, so kann folgerichtig auch davon ausgegangen werden, dass die sprachlichen Kommunikate zuvorderst an eine männliche Leserschaft gerichtet ist. Ausschlaggebend ist erneut das Selbstverständnis der kollektiven Identität der Ultras, die sich in den sprachlichen und semiotischen Zeichen darstellt. Diese „Entindividualisierung“, die letztlich für alle Kommunikationsteilnehmer gültig ist sowie die Herstellung des „Wir- gegen-die-Anderen“ (vgl. Claus/Gabler 2018) geschieht auf sprachlicher Ebene weniger explizit, und erlaubt dennoch eine recht klare Interpretation der Adressaten. Der identitätsstiftende Wettkampfcharakter wird hier über den Support der eigenen Mannschaft und die Diffamierung der Konkurrenten auf den Wänden der Stadt ausgedrückt. Primäre Adressaten sind demnach die Konkurrenten, d. h. die – ebenfalls als Kollektiv betrachtet – Ultragruppierungen des oder der gegnerischen Vereins oder Vereine. Weniger im Fokus stehen dabei ‘normale’ Fußballfans, da diese zu unauffällig sind und für Ultras keine ernsthafte Bedrohung bzw. Konkurrenz darstellen, was nicht bedeuten soll, dass sie nicht auch angesprochen werden sollen. Sie können als sekundäre Adressaten verstanden werden, gemeinsam mit den effektiven Rezipienten der Gebiete, in denen die Scritte erstellt wurden. Ihnen wird über die spezifische Kommunikationsform und den speziellen Sprachstil die klare Abgrenzung der Ultragruppen gegenüber den Fußballfans des gegnerischen Teams vermittelt. Weiter unten wird zu sehen sein, dass gerade dieser Sprachstil und die Sprachnormen der Ultras v. a. für Außenstehende weniger ansprechend sein dürfte und die Scritte aufgrund der hohen Rekurrenz der Sprachmuster von vielen effektiven Rezipienten eher ignoriert werden. Daher ist anzunehmen, dass tatsächlich die gegnerischen Ultragruppen als anvisierte Rezipienten gelten können.
7.2.1.3. Exkurs – Modifikationsroutinen – ULT
Modifikationen spielen auch bei der Domäne ULTRAS eine bedeutende Rolle: knapp die Hälfte aller Scritte (49 %) wurden durch bis zu sieben weitere Hände modifiziert. Dieser Wert ist fast doppelt so hoch, wie jener der politischen Domäne, bei der Modifikationen entscheidend zur Ableitung der Funktionalitäten beitragen (siehe DEFAULT). Der oben postulierte Wettkampf unter den gegnerischen Ultraszenen wird also auch auf den Wänden der Stadt ausgetragen und scheint dabei sogar einen besonders hohen Stellenwert einzunehmen, wie Claus/Gabler richtig bemerken: „Bei der Konstruktion des Wir gegenüber den gegnerischen Fans spielen räumliche und visuelle Aspekte eine zentrale Rolle“ (2018, 375-376). Die einheitlichen Farben und Symbole, die Gesänge und Choreographien in den Stadien sowie das typische Auftreten in Gruppen in der Öffentlichkeit sind Beispiele für dieses Kollektiv-Konstrukt (vgl. Claus/Gabler 2018, 376). Scritte Murali eignen sich bestens zur (visuellen) Markierung von Gebieten und dadurch Schaffung von Räumen bzw. Territorien. Der hohe Grad an Modifikationen (wie auch die verhältnismäßig hohe Zahl an ULTRAS-Scritte allgemein) spricht dafür, dass sich die Präsentation des Kollektivs und der Abneigung gegenüber den Gegnern in der Öffentlichkeit nicht auf das Stadion und die Fußballspiele beschränken, sondern in der täglichen Lebenswelt und in den Lebensräumen der Personen zum Ausdruck gebracht wird.
Ähnlich zur politischen Domäne werden ULTRAS-Scritte meist durch eine (52 %), zwei (25 %) oder drei (16 %) weitere Hände modifiziert und dies v. a. anhand von Negationen (76 %). Betrachtet man die primär anvisierten Zeicheninhalte, die modifiziert werden, so zeigt sich ein deutliches Muster: meist werden die Eigennamen (v. a. die Vereinsnamen, die symbolisch für die Ultragruppen stehen) oder die Zusätze in Form von Nomen gestrichen oder rasiert, abhängig davon, ob als Reaktion der Gegner beleidigt werden oder der eigene Verein visuell dominant erscheinen soll. Das bedeutet bspw., dass bei einer Scritta der Art Lazio merda entweder das Zeichen Lazio gestrichen oder rasiert wird und durch Roma ersetzt wird oder das Zeichen merda gestrichen (und eventuell durch einen positiven Ausdruck, wie etwa campione oder Solo la) wird. Diese Vorgehensweise entspricht voll und ganz dem oben beschriebenen Schema, d. h. die Abwertung des Gegners und der Aufwertung des eigenen Vereins, welcher als Fixpunkt für die kollektive Identität dient.
7.2.2. Kontext (Ort, Zeit) – ULT
7.2.2.1. Ort – ULT
Die Distribution der ULTRAS-Scritte in den Erhebungsgebieten ist auch im Vergleich mit den politischen Texten interessant. Eine Analogie lässt sich schnell erkennen und zwar, dass auch die von Ultras erstellten Texte Richtung Stadtzentrum bzw. in der Nähe der Touristenzentren abnehmen oder besser gesagt, gar nicht erst zu finden sind, und dies noch deutlicher als es bei der POLITIK-Domäne der Fall ist. Lediglich eine Scritta wurde in Zentrumsnähe gefunden, welche jedoch übermalt wurde. Erst der südöstliche Bereich der Metro Linie A, entlang der Via Appia Nuova im Grenzgebiet zu Pigneto, weist eine leicht erhöhte Zahl an Scritte auf. Die geringe Anzahl an Scritte in den zentrumsnahen Gebieten ist vermutlich aus den selben Gründen wie für die politische Domäne zu erklären, weshalb ich an dieser Stelle auf das DEFAULT verweisen möchte. Zusätzlich könnte das verminderte Erstellen von Texten in diesen Gebiete damit erklärt werden, dass Produzenten dieser Domäne ihren Fokus derart stark auf dem Ab- und Aufwerten der Vereine liegt und die Übermittlung von programmatischen Inhalten, wie dies für einen Teil der politischen Scritte gilt, unerheblich ist, dass – von effektiven Rezipienten – hochfrequentierte Gebiete in den Augen der Ultras vernachlässigbar sind. Dies würde auch dem zentralen Aspekt der territorialen Markierung widersprechen, da die touristischen Zentren weniger als Wohnraum dienen, wodurch auch weniger Ultras dort wohnhaft sind und eine Markierung unbedeutend(er) erscheinen lässt.
Im Vergleich zur politischen Domäne weisen die Gebiete Garbatella, Pigneto, Prati421, Università La Sapienza und San Lorenzo, die allesamt zu den Kernzentren der politischen Scritte zählen, kaum oder weitaus weniger Scritte auf. Interessanterweise sind in diesen Gebieten bis auf wenige Ausnahmen kaum Ultras-Scritte zu finden, die Bezüge zur politischen Domäne zeigen (etwa politische Symbole). Einzig der östliche Teil des Viertels San Lorenzo zeigt eine etwas höhere Konzentration von Ultras-Texten, die jedoch ebenso wenig politische Inhalte zeigen. Die Gebiete Monteverde und der östliche Teil der Piazza Bologna stehen dazu im direkten Kontrast. Die Frequenz der Ultras-Scritte ist hier nicht nur weitaus höher als in den zuvor genannten Gebieten, sondern liegt auch deutlich höher als die politischen Texte. Dies gilt ganz besonders für das Gebiet Monteverde, wo fast viermal so viele Ultras-Scritte wie politische Texte zu finden sind. An der Piazza Bologna dagegen ist auffällig, dass bei mehr als einem Drittel der politischen SM auf eine Ultragruppierung verwiesen wird. Dies lässt sich damit erklären, dass in diesen Gebieten zwei der größten Ultragruppierungen des S.S. Lazio besonders präsent und dominant sind: die in den 1970er Jahren gegründeten Commandos Monteverde Lazio (kurz C.M.L. ’74), die von befreundeten Fans aus dem gleichen Stadtviertel (Monteverde) gegründet wurden und bis heute großes Ansehen in der Ultraszene genießen, und der Banda Noantri, welche sich in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen teilweise aufgelöst haben.422 Beide Gruppen weisen – wie dies auch allgemein die Tendenz der Lazio Ultras ist – traditionsgemäß rechtsextreme Grundgesinnungen auf und standen regelmäßig aufgrund ihrer neofaschistischen Propaganda und dem teilweise ausgeprägten Gewaltexzessen bei Fußballspielen in der Kritik. Besonders das Gebiet Monteverde wird seit nunmehr 50 Jahren von diesen rechtsextremen Ultras dominiert. Dennoch scheint der Support des Vereins und auch der eigenen Ultragruppierung C.M.L. für die Produzenten von größerer Bedeutung zu sein, wie das Verhältnis von politischen Texten zu Ultras-Scritte zeigt. Ebenfalls als Hochburg der Lazio Ultras bekannt ist das Gebiet des Quartiere Africano, mit dem bekannten Treffpunkt der Laziale an der Piazza Vescovio. Die starke Präsenz der Lazio Ultras und die enge Verbindung zu neofaschistischen Strömungen zeigt sich auch in den Funden der Scritte Murali. Das Verhältnis zwischen politischen und Ultras-Texten ist neben den Scritte, die beiden Domänen angehören, recht ausgeglichen. Gemeinsam mit den nördlich gelegenen Gebieten Montesacro und Tufello, Conca D’Oro, Val Melaina und Serpentara weist das Quartiere Africano mit Abstand die höchsten Konzentrationen an Ultras-Scritte auf, wobei die Gesamtzahl sogar noch etwas über den politischen Texten liegt. Im Unterschied zu den Lazio-dominierten Vierteln Monteverde und Piazza Bologna sind es hier jedoch nicht traditionsreiche und besonders bekannte Untergruppierungen der Ultraszene, wie die Banda Noantri oder die C.M.L., welche sich in die Texte einschreiben. Es dominieren hier die abstrakter wirkenden Auf- und Abwertungen der Vereine und nicht einzelner Untergruppen.423 Insgesamt scheinen die Ultras-Scritte in diesen Gebieten weniger klar Territorien abzustecken, wie dies bei den politischen Scritte der Fall ist. Einerseits kommt es vermehrt zum Schlagabtausch der gegnerischen Gruppen an den sog. Kampfwänden, wobei sich eben weniger Grenzgebiete von weiter gefassten Gebieten erkennen lassen, und andererseits sind die Ultras-Scritte eher auf Gebietspunkte konzentriert, sprich, es sind eher lokale Straßenzüge oder Plätze vor Wohnblocks, die dann eine besonders hohe Zahl an solchen Scritte aufweisen. Es scheint hier also der Fokus auf den Nahbereichen der Kommunikationsteilnehmern zu liegen, d. h. auf den Gebieten, in denen sich die Produzenten und Rezipienten regelmäßig, dauerhaft und über längere Zeitspannen bewegen oder aufhalten. Die für die politische Domäne so wichtigen Areale – Gebiete in denen sich die Teilnehmer zwar ebenfalls regelmäßig, aber seltener und eher sporadisch aufhalten – sind hier weniger wichtig. Dies liegt mit Sicherheit an der grundlegenden Haltung dieser Subkultur, die eine hohe Partizipation der Mitglieder an gemeinsamen Aktivitäten im Alltagsleben fordert, um das Kollektivbewusstsein zu erhalten und stärken. Neben den gemeinsamen Besuchen an den Fußballspielen, den gemeinsamen Gesängen usw. verbringen die Mitglieder regelmäßig viel Zeit miteinander (vgl. Claus/Gabler und Doidge/Kossakowski/Mintert). Dies geschieht oftmals an den immer gleichen Plätzen, in Stammlokalen oder -bars. Den Mitgliedern ist es von großer Bedeutung diese Lokalitäten zu dominieren, d. h. – analog zu den Bereichen in den Fankurven im Stadion –durch ihre physische und regelmäßige Präsenz, aber auch durch visuelle Mittel, wie eben die SM, die an diesen Standorten angebracht werden. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf der Konfrontation mit den Gegnern (Abwertung) und dem Support der eigenen Gruppe/des eigenen Vereins. Ultras grenzen sich zwar deutlich auf verschiedene Art und Weise von ‘normalen’ Anwohnern und Fußballfans ab, schenken diesen jedoch bei weitem nicht die Beachtung wie dem eigenen und den gegnerischen Vereinen. Claus und Gabler sprechen im Kontext des Umgangs mit gegnerischen Ultragruppen (und letztlich auch mit ‘normalen’ Fans) von einem „in Teilen der Ultraszene verbreitete[n] elitäre[n] Selbstverständnis“ (2018, 377). Bei politischen Gruppierungen – und v. a. bei linkspolitischen Gruppen – ist dies dagegen bereits in den ideologischen Werten eingeschrieben, dass sie sich für die (überspitzt gesagt) ‘gesamte’ Bevölkerung einsetzen und dabei auch für jene, die politisch nicht aktiv sind. Die Propaganda und das Informieren der Anwohner, die der Politik dieser Gruppen eventuell eher fern stehen, ist hier weitaus wichtiger, wodurch sich auch der Aktionsradius bei der Erstellung von SM erhöhen muss.
Die Verteilung auf mikrostruktureller Ebene von großformatigen SM der Domäne ULTRAS ist ebenfalls ein Indiz für die Fokussierung auf den Nahbereich seitens der Produzenten und kontrastieren somit mit den politischen Scritte. Ein Blick auf die Standorte der Texte im Großformat zeigt, dass es für die Produzenten augenscheinlich nicht von allzu großer Bedeutung ist, solche auffälligen Scritte an besonders vielfrequentierten Punkten zu platzieren, um die Rezeptionsrate zu erhöhen. Von den knapp über 30 Scritte liegen gerade einmal drei Scritte an vielbefahrenen Strassen (Abb. 231-215). Eine weitere Scritta, die zu den Ultras-Texten gerechnet werden muss, obwohl sie deutlicher auf die linkspolitische Domäne verweist, ist die Ciao Anto’-Scritte (Abb. 148, s. o.) in San Lorenzo, welche auf den Aurelianischen Mauern erstellt wurde.
Alle weiteren Scritte scheinen meist ‘zufällig’ und teilweise sogar an eher beruhigten Gebietsteilen zu liegen (Abb. 216 und 217). Berücksichtigt man die oben beschriebenen Hintergründe der Ultrasubkultur, so liegt jedoch die Vermutung nahe, dass diese Scritte eben nicht zufällig erstellt wurden, sondern an für Ultras strategisch wichtigen Orten, und zwar an ihren Treffpunkten und ‘Stammplätzen’. Dies zeigt sich etwa an den besonders ausgearbeiteten Totenmurales für den Lazio Ultra Gabriele Sandri, der von einem Carabiniere im Jahr 2007 erschossen wurde. Diese auffälligen und imponierenden Scritte befinden sich nicht aus Zufall an der Piazza Vescovio, die seit langem als beliebter Treffpunkt der Lazio-Ultras gilt und an dem sich auch das Lazio-Stammlokal Excalibur befindet. Neben der physischen Präsenz sind SM also ein wichtiger Bestandteil der Inbesitznahme von Lokalitäten durch die Ultras, die durchaus willens sind diese Räume zu verteidigen. Ein Beispiel für eine besonders lange (über 70 Token), dabei aber nicht besonders ausgearbeitete Scritta ist in Abb. 220 zu sehen. Diese freie Adaption eines A.S. Roma Ultras des bekannten Liedtextes Ragazzo fortunato von Lorenzo Jovanotti liegt geradezu versteckt an einer Seitenstrasse, welche nicht einmal als Durchfahrtsstrasse dient. Bereits der Aufwand, eine solche Scritta zu erstellen, lässt die Wahl des Standortes fraglich erscheinen, da keinesfalls eine größtmögliche Zahl an effektiven Rezipienten erreicht werden kann. Vergleicht man die Standorte weiterer A.S. Roma-Scritte in der näheren Umgebung, so wird deutlich, dass eine Gruppe von A.S. Roma Ultras bestimmte Strassen und Plätze dieses Gebietes für sich beansprucht. Dies bedeutet gleichzeitig, dass es dem Produzenten der Ragazzo fortunato-Scritta anscheinend genügt, dass der Text von dieser ortsansässigen Gruppe (sowie potentiellen gegnerischen Lazio-Fans) rezipiert wird.
Ob sich das territoriale Verhalten der Ultras Gruppen der beiden Stadtvereine A.S. Roma und S.S. Lazio auch an den Scritte ablesen lässt, soll abschließend anhand der Standorte diskutiert werden. Wie oben erörtert wurde, ist die Modifikationsrate bei ULTRAS-Texten besonders hoch und spiegelt den ständigen Wettstreit zwischen den beiden Lagern wider. Die hohe Quote an modifizierten Texten gibt dabei jedoch nicht Aufschluss über die Dominanzverhältnisse in den Gebieten.424 Dies liegt u. a. daran, dass bei modifizierten Scritte oftmals die vorangegangene Hand noch sichtbar ist und somit nicht klar ist, welche Gruppe denn nun in einem Gebiet das Sagen hat. Die Dokumentation der modifizierten Scritte ist somit in erster Linie ein Indiz für den hohen Stellenwert des Wettkampfes zwischen unterschiedlichen Lagern. Zusätzlich müssen modifizierte Scritte nicht zwangsläufig für eine intendierte Machtübernahme in den Gebieten sprechen, sondern können lediglich Provokationen in feindlichen Gebieten darstellen. Eine Möglichkeit wäre die Analyse der beiden Subdomänen ULTRAS Support und Aversiv und einer Standortanalyse der beiden Vereine (siehe IK 30).
IK 30: Standorte der vereinsspezifischen SM in der Domäne ULTRAS – Vollbildanzeige
Es zeigt sich dabei, dass sich die Dominanz i. d. R. tatsächlich eher auf Gebietsteile (Straßenzüge, Plätze usw.) und weniger auf größere Gebiete (etwa ganze Stadtviertel) erstreckt. Ausnahmen bilden die Gebiete Monteverde und das Quartiere Africano: hier scheinen die Lazio-Ultras über ein größeres Gebiet zu dominieren. Auch die vereinzelten (nicht modifizierten) Scritte der Romanisti können darüber nicht hinwegtäuschen, da bei genauere Betrachtung deutlich wird, dass es sich meist um stark lokal begrenzte und/oder schlecht sichtbare Texte handelt. Überraschenderweise überwiegen die Roma-Scritte im Gebiet Prati, wobei bedacht werden muss, dass es sich meist um kleine und eher unauffällige Schriften handelt. Ausserdem wurde nur ein kleiner Teil des Stadtviertels Prati untersucht, was bedeutet, dass eventuell an anderen Plätzen und Straßen eine deutlichere Dominanz der Lazio-Fans zu erkennen wäre, so wie das auch in Monteverde und im Quartiere Africano der Fall ist, wo das Gebiet nicht flächendeckend beschrieben wird, sondern einzelne Lokalitäten fokussiert werden.
7.2.2.2. Zeit – ULT
Der zweite Aspekt, welcher die Kategorie KontaktJAK betrifft, ist jener der Zeit mit den beiden perspektivischen Dimensionen Zeitpunkt und Zeitspanne. Auf eine Besonderheit bzgl. des Zeitpunktes für die Domäne ULTRAS wurde bereits in DEFAULT hingewiesen. Die Korpusdaten zeigen, dass besonders häufig auf das Datum des 26.5.2013 verwiesen wird (oftmals mit dem Zusatz Lulic ’71), wobei hier seitens der Lazio-Ultras an das gewonnene Stadtderby mit dem Siegtreffer von Lulic in der 71. Minute erinnert wird. Dieses Datum (wie auch der Name) stehen also synonym für eine große Schmach der Romanisti und gleichzeitig für ein Maximum an Aufwertung der eigenen Mannschaft. Neben diesem Datum erscheint die Dimension in erster Linie in den Gründungsjahren des Vereins: bei A.S. Roma im Jahr 1927 und bei S.S. Lazio im Jahr 1900. Die Jahreszahlen dienen dabei als symbolischer Identifikationsrahmen der Ultras und verweisen in verdichtender bzw. abkürzender Form auf die Vereine und letztlich ihre Ultras. Dieser letzte Aspekt, d. h. der Einsatz von verdichtenden Zeichen, betrifft dann die bedeutungsvollere Dimension der Zeitspanne, welcher v. a. die Rezeptionszeit der Scritte in den Fokus rückt. Auf die Grundlagen – also die kategorialen Komplexe Rezipienten-Materialität-Standort und Produzenten-Materialität – wurde bereits im Kapitel zu den Funktionalitäten der Domäne POLITIK eingegangen (DEFAULT). Um die Rezeption der Texte durch die anvisierten Rezipienten (Adressaten) zu gewährleisten, muss die Rezeptionszeit der Scritte berücksichtigt werden und dementsprechend Standort und Sicht-/Lesbarkeit gewählt und miteinberechnet werden. Die Korpuswerte der Domäne weisen teils noch deutlichere Werte auf, wie dies bei den politischen Texten der Fall ist, sprich, es werden bei fast 40 % der Texte Kürzungsverfahren eingesetzt (v. a. Akronyme) und knapp 80 % der Scritte umfassen vier oder weniger Token (wobei über die Hälfte lediglich zwei oder drei Token zeigen). Auch der Anteil von roter und blauer Farbe (welche als schneller, visueller Hinweis auf den jeweiligen Verein dienen können) liegen höher, als bei den politischen Scritte. Die Vermutung liegt folglich nahe, dass Produzenten noch mehr Wert auf eine möglichst kurze Rezeptionszeit legen. Allerdings spricht der Faktor ‘Standort’ eher nicht dafür. Wie man sehen konnte, lässt sich bei der Wahl des Standortes kein Muster erkennen, dass darauf hinweist, möglichst viele (effektive) Rezipienten erreichen zu wollen. Für politische Texte gilt, dass die Produzenten die Standorte je nach Länge und informationellen Gehalt an strategisch geeigneten Punkten wählen. ULTRAS-Scritte dagegen kontrastieren mit diesem Vorgehen, da die Texte nicht an Orten erstellt werden, welche eine größtmögliche Leserschaft gewährleisten, und zudem die Lokalitäten meist von der jeweiligen Gruppe selber besetzt sind. Dennoch erscheinen die Scritte prototypischerweise in kurzer Form, was die Lektürezeit stark verringert. Die Begründung dafür in der Illegalität der Praxis zu suchen, scheint aus denselben Gründen wie bei der Domäne POLITIK nicht plausibel zu sein. Vielmehr zeigt sich hier m. M. n. eine der Charakteristiken der Ultraszene, wie sie oben bereits angedeutet wurde, und zwar dass Ultras sich selbst als Subkultur versteht, die sich deutlich abgrenzen zu sucht und dies nicht nur von gegnerischen Vereinen, sondern auch von ‘normalen’ Fußballfans und der Gesellschaft allgemein. Für diese Lebenswelt gelten in vielen Bereichen andere Normen, wobei „gesellschaftliche Konventionen vorübergehend außer Kraft gesetzt werden“ (Claus/Gabler 2018, 372). Dies führt zu einer gewissen Art an Desinteresse für alle Aspekte (und somit auch Akteure), die nicht in diesem gemeinsamen Aktionsfeld (d. h. Fußball und Fan- bzw. Ultrakulturen; vgl. Claus/Gabler 2018, 375) liegen. Die Wahl der Standorte, die scheinbar stark auf gruppenspezifischen Aktions- und Lebensräumen basieren und besonders auf andere Ultragruppen abzielen, scheinen für die Rezeptionszeit eher zweitrangig zu sein. Die Kürze (wie auch sonstige formale Aspekte, die hier eine Rolle spielen) muss dann jedoch auf andere Art und Weise erklärt werden. Eine mögliche Erklärung wäre die Gemeinsamkeit mit Spruchbändern (Striscioni) und Fangesängen, welche ganz besonders typisch für Ultragruppen sind (vgl. Claus/Gabler 2018, 374). Guerra attribuiert SM generell eine verschriftlichte Mündlichkeit, die so ausgeprägt ist, dass die Schriftsprache des graffitismo ultras „talvolta assume la natura del grido scritto, ricordando, ad esempio, lo slogan gridato durante le manifestazioni di piazza o il coro degli ultras di calcio allo stadio” (Herv. SL; Guerra 2012c, 90). Die zahlreichen Nennungen der Vereine und Ultragruppen sowie die Beleidigungen der Gegner auf den Wänden in Kurzform stehen demnach analog zu den weitverbreiteten Spruchbändern und Doppelhaltern in den Stadien, die nicht selten lediglich den Namen der jeweiligen Gruppe tragen und somit die Territorien in den Fankurven markieren, und den im Stakato gerufenen Kollektivgesängen gegen den Gegner (vgl. Claus/Gabler 2018, 374). Eine weitere Erklärung ist in der Konventionalisierung der Konstruktionen zu finden. Die Korpusdaten (siehe DEFAULT) sprechen dafür, dass weniger die Rezeptionszeit der Scritte, sondern die auffällig starke Konventionalisierung der Konstruktionen (etwa [Vereinsname merda]), welche von den sprachlichen Handlungen der Stadien auf die Straße gebracht wird, ausschlaggebend ist. Zusammenfassend bedeutet dies, dass der Faktor ‘Rezeptionszeit’ v. a. durch die typischen Sprachnormen der Ultras untereinander bestimmt wird und weniger von einer rezipierenden Öffentlichkeit (i. S. d. effektiven Rezipienten).
7.2.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – ULT
Die im vorangegangenen Kapitel angestellten Beobachtungen zum Standort und Zeitaspekt sowie den Kommunikationsteilnehmern bedingen die Interpretation der kommunikativen Teilhabe hinsichtlich der Kategorie des physischen Kanals, d. h. der Träger und Erstellungswerkzeuge der Domäne ULTRAS. Auch hier gilt grundsätzlich, dass Produzenten die Träger nach den in den Gebieten gegebenen wählen müssen und sich die Werkzeuge nach der Trägerbeschaffenheit richtet. Auch an das Nicht-Vorhandensein von Scritte und die Rolle der offiziellen Obrigkeiten beim Entfernen von Scritte sei erinnert, wie dies in Kapitel für das politische Genre beschrieben wurde. Bei aller Ähnlichkeit zu den politischen Texten, gestaltet sich die Deutung der kontaktbezogenen Teilfunktionen von ULTRAS-Scritte dennoch andersartig. So ist die territoriale Markierung weiterhin einer der treibenden Faktoren, geschieht dabei jedoch weniger flächendeckend und öffentlich orientiert (auf Rezipientenebene). Produzenten wählen, wie gezeigt, Flächen an bestimmten, lokal stark begrenzten Standorten und verwenden dementsprechend passende Werkzeuge. Die Korpuswerte der Attributsklassen geben ein deutliches Bild der prototypischen Scritte: erstens werden die Texte zu knapp 90 % anhand von Spraydosen erstellt und Haus- sowie freistehende Wände sind bevorzugte Trägerflächen. Zweithäufigstes Werkzeug sind mit gerade einmal 5 % Filzstifte, gefolgt von Wandfarbe mit nicht einmal 4 % – weder mit Stift geschriebene Texte im Kleinformat noch großformatige Scritte (etwa Murals) tauchen besonders häufig auf. Ähnliches gilt für die Verwendung von Stencils, die bei nicht einmal einem Prozent liegt. Ausnahmen wurden oben bereits benannt. Das 11 % der Schriften an Geschäftsfassaden angebracht wurden, lässt sich daran erklären, dass sich Ultragruppen oftmals an ihren Stammorten aufhalten (s. o.) und diese sich auch an kleineren Plätzen in den Wohnvierteln befinden, wo Geschäfte, Banken usw. zu finden sind. Wie die Karte zeigt (etwa an der Piazza Vescovio im Quartiere Africano), können dann auf einem begrenzten Raum relativ viele Ultrascritte auftreten – sollte dieser Standort auf einen Platz fallen, der über Läden verfügt, steigen die Werte dieser Trägerfläche respektive.
Für politische Texte wurde festgehalten, dass die Farbwahl besonders vom Kontrast zwischen Trägerfläche und Textfarbe abhängt und die konnotative Bedeutung der Farben (rot bei linkspolitische Texte) nur sekundär ist. Die Werte der Domäne ULTRAS zeigen auf den ersten Blick ähnliche Werte, wie das politische Pendant. Die zunächst banal erscheinende Tatsache, dass der Wert der Farbe Blau bei Ultrastexten fast doppelt so hoch ist (bei der Domäne Politik knapp 7 %, bei den Ultras knapp 13 %), muss jedoch unter der Prämisse interpretiert werden, dass visuelle Aspekte innerhalb der Ultrasubkultur von besonderer Bedeutung sind (s. o.). Schwarze Farbe ist nach wie vor am typischsten, aber es folgen recht ausgeglichen die Farben Blau und Rot. Sicherlich bieten beide Farben in den meisten Fällen den nötigen Kontrast zur Trägerfläche, aber die bereits erwähnte Konzentration auf die Vereine als identitätsstiftender Bezugspunkt in der Ultraszene findet auch auf dieser semiotischen Ebene statt (vgl. Claus/Gabler 2018, 376 und Guerra 2014, 66). So lassen sich kaum Texte der Romanisti in blauer Farbe bzw. Laziale-Texte in roter Farbe ausmachen.425 Besonders großformatige SM (etwa die oben gezeigten Murals) verweisen immer auch über die Farbelemente auf die jeweilige Mannschaft. Wie sehr die Farbwahl von den jeweiligen Vereinen und konnotativen Aspekten abhängt, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden. Ein Vergleich mit Ultrascritte aus anderen Städten (mit abweichenden Vereinsfarben) und/oder Spruchbändern wäre hier wünschenswert.
7.2.4. Kode – ULT
Bezüglich des Kodes sei zunächst auf die in Kapitel getroffenen Ausführungen zum Konzept der Scritte Murali als Kode verwiesen, da dieses auch für die Domäne ULTRAS von höchster Bedeutung ist. Das bedeutet, dass Ultras-Scritte die oben gezeigten Lokalitäten durch ihre Gesamtheit markieren und ein gewisses Bild an diesen Orten schaffen und zwar ein Bild der Dominanz einer bestimmten Ultraszene über die Aufwertung der eigenen und Abwertung der gegnerischen Mannschaft. Dies geschieht dann nicht nur als Botschaft an effektive Rezipienten oder gegnerische Fans, sondern schafft für die an den Orten regelmäßig verweilende (dominante) Gruppe ein ‘heimisches’ Gefühl, ähnlich wie es in der eigenen Fankurve im Stadion der Fall ist. Dass SM in ihrer Gesamtheit als Kode fungieren, ist für die Ultras-Domäne noch bedeutsamer als für das Genre POLITIK. Das zeigt sich zum einen an der Farbwahl und zum anderen an der vergleichsweise geringen inhaltlich-semantischen Varianz der Texte. Aufgrund des vorherrschenden binären Charakters der Farben für den Raum Rom (Rot für A.S. Rom und Blau für S.S. Lazio) wird also eine schnelle(re) Zuordnung bei der holistischen Erfassung der SM möglich. Ausserdem ist die Varianz bei den Mehrwortkonstruktionen (s. u.) und der verwendeten Lexik recht gering, wodurch hier die Erwartungshaltung der Rezipienten (mit der Zeit) bedingt wird und auch eine schnelle Entschlüsselung möglich wird. SM sind als Äquivalent zu den von den Ultras im Stadion getragenen Schals oder Trikots und gehaltenen Striscioni oder Banner zu verstehen, die als visueller Kode eingesetzt werden, um Territorien einzufärben und sprachlich zu besetzen.
Weitere kodale Eigenschaften, die zur Kommunikationsfunktion entscheidend beitragen, sind (bei sprachlichen Zeichen) die Tokenzahl pro Scritta und Kürzungsverfahren, die Distribution der Wortarten, typographische Merkmale sowie verwendete Sprachen und dialektale Varianten, und bildgraphische Zeichen. Wie u. a. mit Bucher (2011) gezeigt wurde (siehe DEFAULT) werden bei multimodalen Rezeptions-und Verstehensprozessen verschiedene Mittel eingesetzt, um Identifizierungsprobleme zu lösen. Der zugrunde liegende binäre Wettkampfcharakter der Ultras und dem in der Gesellschaft weitverbreiteten Wissen zu ortsansässigen Fußballvereinen (hier eben A.S. Rom und S.S. Lazio) vereinfacht die Deutung der kodalen Eigenschaften für diese Domäne erheblich. So verweisen die verwendeten Lexeme, Farben und bildgraphischen Zeichen (v. a. Ikone) auf den jeweiligen Verein und die Kurzformen und kurzen Konstruktionen beschleunigen dabei die Identifizierung und Stellung des Senders. Typographische Elemente (Fascio- oder Ultra-Font) helfen dagegen bei der Kategorisierung der Scritte als Ultras-Text, wobei Überschneidungen zur politischen bzw. faschistischen Domäne in Kauf genommen werden. Sprachzeichen, die in Dialekt realisiert wurden, können schließlich metareferenziell auf die Stadt verweisen.
Da die Möglichkeiten der Zuordnung recht begrenzt sind – d. h. entweder für A.S. Rom und damit gegen S.S. Lazio oder umgekehrt – bedarf es augenscheinlich weniger und recht simpler kodaler Mittel. Dies drückt sich in den statistischen Korpusdaten aus, die klar prototypische Werte liefern. Etwa 60 % der Scritte umfassen lediglich zwei oder drei Token, weitere 21 % zeigen einen oder vier Token. Aufgrund dieser Kürze können Scritte der Art Lazio merda oder Romanista boia, aber auch A.S. Roma, schnellstmöglich den beiden potentiellen Sendern zugeordnet werden. Beschleunigt wird dies noch durch den häufigen Einsatz von Kürzungsverfahren (bei 39 % der Scritte), die in der Ultraszene äußerst beliebt sind und nicht selten in Kombination mit dem Gründungsjahr erscheinen (vgl. Claus/Gabler 2018, 380). Die Werte für diese Domäne fallen besonders deutlich aus: 81 % der Kürzungsvarianten verweisen auf nur sieben Inhalte, die sich bis auf eine Ausnahme (viva mit 2 % Anteil) auf eine der beiden Vereine oder eine der Ultrauntergruppen der Laziali (Banda Noantri und C.M.L.) beziehen. Selbiges gilt auch für die Verteilung der Wortarten. Hier sind es Eigennamen gefolgt von Nomen, die nicht nur generell, sondern v. a. bei Scritte mit einem bis sechs Token an den ersten beiden Stellen stehen. Interessanterweise liegt der Anteil der Satzzeichen (<!>) an dritter Stelle und ist ab einer Tokenzahl von drei sogar noch etwas häufiger als bildgraphische Zeichen. Ein prototypisches Beispiel dafür wäre etwa Lazio merda !. Möglicherweise geschieht dies nicht nur aus Gründen der visuellen Intensivierung der Abwertung des Referenten, sondern spiegelt in gewisser Hinsicht die imitierte Mündlichkeit, d. h. die bei Guerra beschriebenen Chöre oder Schlachtrufe der Ultras im Stadion (s. o.), wider. Farben spielen generell in der Kommunikation innerhalb der Ultraszene (wie auch der Fankultur allgemein) eine wichtige Rolle, da die Vereinsfarben – zu sehen auf Schals, Trikots, Fahnen und Bannern – meist schon ausreichen, um entsprechende Assoziationen zu einer Mannschaft herstellen zu können. Wie bereits erwähnt, spielen farbliche Aspekte auch im Bereich der SM eine wichtige Teilfunktion für die Ultras-Domäne und verweisen nicht nur auf die Sender, sondern dienen als wichtiges Mittel um die Gruppenidentität zu schaffen und aufrechtzuerhalten (vgl. Claus/Gabler 2018, 377). Bildgraphische Zeichen sind zwar für die Genre ULTRAS von geringerer Bedeutung (hier ‘nur’ 23 %) als dies bei politischen Texten (knapp 72 %) der Fall ist. Dennoch tragen auch sie entscheidend zur Kommunikation bei und dies auf zweierlei Arten. Erstens dienen Ikone, wie z. B. die oben gezeigte Abbildung von Gabriele Sandri oder die anhand von Stencils erstellten Bilder des Vereinswappens der A.S. Roma, in ganz besonderer Weise dazu, die Assoziation zu bedeutsamen Elementen herzustellen und somit die Gruppenidentifikation zu verstärken. Zweitens sind es v. a. Ideogramme und dann in erster Linie politische Symbole, die verwendetet werden. Die politischen Symbole, die den Texten hinzugefügt werden, dienen als Verweis auf grundlegende Einstellungen bzw. politische (v. a. rechtsradikale) Ausrichtungen der Ultragruppen. Auffällig ist außerdem der Davidstern, der dysphemistisch als Beleidigung verwendet wird und somit eindeutig antisemitisches Gedankengut ausdrückt. Letztlich handelt es sich dabei also um eine Variante der bereits beschriebenen Konstruktionen [Eigenname Nomen] als Abwertung des Gegners, wobei direkt auf die rechtsradikale Einstellung des Senders verwiesen wird. Auf die besondere Bedeutung von typographischen Merkmalen als kodales Mittel und der wichtigen Bedeutung für die ULTRAS-Domäne bin ich bereits in Kapitel ausführlich eingegangen. Der Ultras liberi- oder Fascio-Font dient als Senderkennung, wobei die Assoziation sowohl zu rechtsextremen Gruppen wie auch zur Ultraszene geschaffen wird. Auf die Folgen wurde ebenfalls im Kapitel zum Kode des politischen Genres hingewiesen.
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Eine weitere typographische Auffälligkeit, die der Gruppenbildung innerhalb der Subkultur dient, ist die Verwendung von Schreibschrift (siehe Abb. 226). Die Bedeutung wird zwar nicht in den Korpusdaten ersichtlich, da es nur relativ wenige Beispiele dafür gibt, jedoch könnte diese typographische Handlungsweise auf visuelle Art ein Indiz für die oben erwähnte Kampfansage gegenüber dem modernen Fußball und der teilweise propagierten Nostalgie an die vergangene, ‘bessere’ Zeiten sein.426 Außerdem erweckt die Verwendung von Schreibschrift ein harmonischeres Bild und kann Nähe zu den Referenten ausdrücken (dies gilt auch für Texte anderer Domänen, v. a. die der POLITIK und EXPRESSIVITÄT), ähnlich wie etwa Frakturschrift oder der Fascio-Font eine politische Bedeutungsdimension anzeigen (vgl. Gätje 2012). Es muss hinsichtlich der Funktion von Schreibschrift an dieser Stelle jedoch bei einer Spekulation bleiben, da der Rahmen dieser Arbeit keine weitere Vertiefung erlaubt. Beim letzten, kodalen Element kann dann wieder mit größerer Sicherheit von konnotativen Bedeutungen ausgegangen werden: die Verwendung von Sprache bzw. Dialekt in den Texten. Guerra schreibt der lingua speciale del calcio, wie sie bspw. auf den striscioni verwendet wird, „forti meccanismi di interferenza dal dialetto” zu (2014, 72). Wenn auch nicht von einer prototypischen Verwendung dialektaler Varianten die Rede sein kann (lediglich 89 Worteinheiten treten in Dialekt auf), sollten diese Einheiten also dennoch erwähnt werden, da die Liebe zum Verein und die enge Bindung an die Heimatstadt auch durch metareferenzielle Indikatoren wie der Verwendung von römischen Dialekt zum Ausdruck gebracht wird.
7.2.5. Mitteilung – ULT
7.2.5.1. Mitteilung – Information – ULT
Claus und Gabler beschreiben die Sprache der Ultras als wesentlich vom Wettkampfcharakter geprägt mit einer Vorliebe für martialische und militärische Begriffe sowie dem Hang zum sprachlichen Motiv der Gewalt, wobei die deutliche Abgrenzung, Entindividualisierung und Gruppenidentität als grundlegende Faktoren begriffen werden müssen (vgl. 2018). Diese wesentliche Beschreibung wird durch die (prototypischen) Werte der Scritta-Texte bestätigt, wie ein Blick auf den Kernwortschatz, die verwendeten Eigennamen und die Mehrwortkombinationen (siehe DEFAULT) zeigt.
Die Lexik erscheint für diese Domäne zunächst recht beschränkt, umso mehr im Vergleich zu politischen Texten: die Produzenten erstellten die erfassten Texten anhand von lediglich 391 Lemmata (Hand 1) – politische Scritte weisen mit 709 deutlich mehr Lemmata auf. Dies und die Tatsache, dass 71 % der Realisierungen auf nur 69 Lemmata bzw. 52 % der realisierten Einheiten auf gerade einmal 16 Lexemen basieren, zeugt von einer deutlichen Begrenztheit des Wortschatzes, wodurch sich Textteile offensichtlich häufig wiederholen und somit für Außenstehende (also effektive Rezipienten) durchaus als unattraktives Kommunikationsangebot gelten können. Verstärkt wird dies durch den verbreiteten Einsatz von Fäkal- und Vulgärsprache, worauf ich weiter unten eingehen werde.
Lemma |
Frequenz |
POS |
Anteil an Gesamtrealisierungen |
merda |
183 |
[NOUN] |
14 % |
ultras |
113 |
[NOUN] |
9 % |
laziale |
76 |
[NOUN] |
6 % |
romanista |
66 |
[NOUN] |
5 % |
essere |
42 |
[VER:fin, VER:infi] |
3 % |
vivere |
27 |
[VER:fin] |
2 % |
forza |
26 |
[INTJ, NOUN] |
2 % |
campione |
25 |
[NOUN] |
2 % |
banda |
25 |
[NOUN] |
2 % |
verme |
21 |
[NOUN] |
2 % |
curva |
18 |
[NOUN] |
1 % |
ebreo |
15 |
[NOUN] |
1 % |
sud |
13 |
[NOUN] |
1 % |
viva |
12 |
[INTJ] |
1 % |
tifare |
11 |
[VER:fin, VER:infi] |
1 % |
sempre |
11 |
[ADV] |
1 % |
Die in Tabelle 77 gezeigten häufigsten Einheiten spiegeln nicht nur die oben erwähnten Grundlagen der Ultrasprache wider, sondern bieten sozusagen ein verkürztes Panorama über den Gesamtwortschatz dieser Domäne. Der Großteil des Gesamtwortschatzes stellt eine Sammlung von Paradigmen der abgebildeten Einheiten dar, die sich zu Wortfeldern zusammenfassen lassen. So lässt sich bspw. das Wortfeld für Merkmale oder Bezeichnungen, die dann der Abwertung dienen und hier durch die Einheiten merda, verme oder ebreo repräsentiert sind, erweitern: Es finden sich mit einer geringeren Frequenz Wörter wie boia, infame, coniglio, zingaro, frocio, coglione, spia, cane oder bastardo wieder. Ebenfalls zum Feld dazugehörig ist das Symbol <<Davidstern>> sowie circonciso als Synonym für ebreo. Ein weiteres Wortfeld sind gruppenbezogene Begriffe, etwa Laziale, Romanista oder Ultras, zu denen auch alle Einheiten gerechnet werden können, die eine Assoziation zu einem Verein, einer Ultragruppe oder Ultras allgemein herstellt: curva (sud/nord), banda (Noantri), giallorossi, romano usw. Dieses Feld muss auf jeden Fall in Verbindung zu den Eigennamen (s. u.) interpretiert werden. Auf pragmatischer Ebene korrelieren diese Wortfelder mit den obengenannten zentralen Charakteristika der Ultraszene und lassen sich – zumindest prototypisch – recht genau zuordnen. Der richtungsgebende Wettbewerbscharakter ist deutlich erkennbar, sowohl in Bezug auf den Support der eigenen Mannschaft als auch hinsichtlich der Ablehnung der gegnerischen Mannschaft. Dieses Freund-Feind-Schema zeigt sich auf lexikalischer Ebene aufgrund der Entindividualisierung über die Knotenpunkte der Vereine, die als Fixpunkte der Gruppenidentität dienen. Konkret sind das die genannten gruppenbezogenen Begriffe (Laziale, Romanista usw.; siehe außerdem dazu die Eigennamen). Abhängig von der Perspektive, verwenden die Produzenten diese vereinsbezogenen Begriffe dann entweder zur Unterstützung ihrer Mannschaft oder zur Ablehnung oder Diffamierung der Gegner. Der Support geschieht meist lediglich über die Visualisierung des Mannschaftsnamens (oder damit assoziierten Begriffen), kann aber auch über Kombinationen des Vereinsnamens mit positiv konnotierten Einheiten geschehen, die im Korpus etwa als forza, campione oder – im Falle von Totenehrungen – als vive vorliegen. Die Ablehnung und Abgrenzung dagegen erscheint als syntaktische Kombinationen des gegnerischen Vereins mit negativ konnotierten Begriffen, in erster Linie durch das Fäkalwort merda. Eine weitere Sprachhandlung lässt sich anhand der Lexik erkennen und zwar die versprachlichte Abneigung seitens der Ultras gegenüber der Polizei, zusammengefasst im Akronym ACAB (All cops are bastards), auf das im Verlauf der Arbeit bereits verwiesen wurde. Dieses allgemein unter Subkulturen weitverbreitete Phänomen (vgl. Guerra 2013d) erscheint besonders oft in den Genres DIVERSES SUBKULTUR und POLITIK. Zu diesem Bereich zählen auch die Schriften, die sich auf die guardia oder spie sowie Luigi Spaccarotella – den Polizisten, der Gabriele Sandri erschossen hat – beziehen.
Die hier geltenden Gruppenkonstellationen und die damit verbundenen starken Emotionen, sind jedoch nicht nur an der Textoberfläche verbunden, sondern sind besonders auf der außersprachlichen Ebene von höchster Bedeutung, wie Technau in Bezug auf negative Bewertungen aus einer Gruppendynamik heraus zusammenfasst:
Die Mitgliedschaft in einer Sprachgemeinschaft geht häufig mit einer Gruppenidentifikation und einem Gemeinschaftsgefühl einher. Problematisch kann eine solche Gruppenidentifikation werden, wenn sie mit einer negativen Bewertung außenstehender Gruppen einhergeht […] bzw. rassistische Grenzziehungen vornimmt […]. Ein solch wertender Blick auf andere Gruppen lässt das einzelne Individuum außer Acht […] und kann zu Hass führen […], der auf intergroup emotions […] zurückzuführen ist, die verheerende Folgen haben können[…].(Herv. im Orig.; Technau 2018, 238)
Grundlegend lässt sich ein vulgärer und gewalttätiger Grundton bei der verwendeten Lexik erkennen. Auf die Verwendung von Vulgär- und Fäkalsprache bin ich bereits eingegangen; die szenetypische Gewaltaffinität und Bagatellisierung von Gewalttaten zeigt sich dagegen in Lexemen wie etwa caricare, accoltellare oder ammazzare. Zentral ist hier – und dabei v. a. hinsichtlich der Ablehnung der Gegner – dass der Wortwahl ein gewisses Konzept der Männlichkeit zugrunde liegt. ‘Männlich, weiß, heterosexuell und italienisch’ gilt dabei als Orientierungspunkt, gepaart mit der Glorifizierung einer martialisch-kriegerischen Haltung der Personen. Eine Abweichung davon wird als äußerst negativ gewertet und findet sich zuhauf in unterschiedlicher Ausprägung im Korpus. Gegner werden als feige und ängstlich bezeichnet (infame, coniglio) und als Homosexuelle beschimpft (frocio, bocchinaro) die vor Konfrontationen fliehen (scappare, fuga). Auch rassistisches und ausländerfeindliches Gedankengut wird hier kommuniziert, etwa wenn Gegner in idiosynkratischer Verwendung als albanesi, negri oder ebrei bezeichnet werden. Dass martialisch-kriegerische Werte hochangesehen sind, erscheint nicht nur in Form von militärisch anmutenden Gruppenbezeichnungen (Commandos Monteverde Lazio), sondern auch in Lexemen der Art eroe, legione oder militante. Sowohl die ausgeprägte Vulgär- und Fäkalsprache, wie auch die Gewaltaffinität, aber auch die für Außenstehende teils unverständlichen Wörter und Wortkombinationen, dienen letztlich immer auch zur Abgrenzung gegenüber ‘normalen’ Fans und der Gesellschaft an sich.
Obwohl eine negative, vulgäre und gewaltverherrlichende Sprache vorwiegt, lässt sich auch eine Lexik erkennen, die positive Emotionen ausdrückt, wie oben bereits angemerkt wurde (forza, campione usw.). Auffällig ist dabei, dass auch beim Ausdruck positiver Emotionen teilweise eine Abgrenzung zur gesellschaftlichen Norm erkennbar wird, etwa wenn die Liebe zum Verein über die zwischenmenschlichen Liebe gestellt wird (Abb. 233). Diese wenigen Scritte erwecken dabei den Eindruck, dass die positiven Emotionen nicht nur dem Verein gelten, sondern vielmehr die Lebensweise der Ultras an sich als Ideal erhoben wird, wie dies im Beispiel von Abb. 232 zusammengefasst ist.
Einige der in Tabelle 77 gezeigten Einheiten sind strenggenommen als Komponenten von Eigennamen zu verstehen, etwa Curva und Sud oder Banda (Noantri). Eigennamen treten in der Domäne ULTRAS recht begrenzt auf und zeigen eine starke Konzentration auf einige wenige Einheiten: Über die Hälfte aller Realisierungen beziehen sich auf einen der beiden Stadtvereine bzw. deren Ultras (A.S. Roma, S.S. Lazio, Ultras Roma, Ultras Lazio). Dass jeweils diese beiden Vereine im Korpus so massiv vertreten sind, liegt daran, dass innerhalb der Ultraszene so gut wie jeder Verein über einen Erzrivalen verfügt, dessen Bezeichnung übrigens als Negativbezeichnung fungieren kann (siehe Abb. 227 und 228). Die Erzrivalität zwischen A.S. Rom und S.S. Lazio ist, wie oftmals bei Vereinen der selben Stadt, besonders ausgeprägt. Diese und alle weiteren erfassten Eigennamen lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen: vereins- oder gruppenbezogene Bezeichnungen, Nennungen von Lokalitäten und Personen. Die Vereins- und Ultragruppenbezeichnungen (neben den genannten Mannschaftsnamen auch Gruppennamen, wie C.M.L., Banda Noantri, Irriducibili, Eagles Supporters, Fedayn, Legione Eterna, Noi Sopra Le Macerie, CUCS – Commandos Ultras Curva Sud, Commandos Ultras Curva Nord usw.) stehen, meist ohne Zusätze und fungieren als kollektive Fixpunkte, um Gruppenidentitäten herzustellen und kommunizieren. Zu den Lokalitäts- oder Ortsnennungen gehören strenggenommen auch alle Roma oder Lazio-Scritte, die v. a. bei Beleidigungen der Art Roma merda erscheinen. Allerdings wird dabei immer auf die jeweiligen Vereine referiert und sie sind daher primär nicht als Lokalreferenzen zu verstehen. Als Ausnahmen sind hier die Roma tifa Roma-Scritte der Romanisti zu nennen, die metareferenziell auf die Hauptstadt verweisen und den Anspruch erheben, dass die Bewohner Roms Anhänger des A.S. Rom sind. Gekontert wird diese Aussage seitens der Lazio Fans durch den Text Roma tifa Lazio per tradizione, der wohl auch eine Anspielung auf das frühere Gründungsjahr des S.S. Lazio (1900) sein soll. Alle weiteren Ortsnamen, die vergleichsweise selten im Korpus auftauchen, nehmen meist auf die Vereine der jeweiligen Stadt Bezug: Napoli, Catania, Salento, Modena, Torino, Milano, Reggio Calabria. Es lassen sich jedoch auch Token erkennen, die (teilweise auch meta-referenziell) tatsächlich auf Orte und nicht auf Vereine verweisen, wobei die genannten Orte durch Zusätze der jeweiligen Vereins-/Gruppenbezeichnung auf sprachlicher Ebene markiert und in Besitz genommen werden: Tufello, Piazza Bologna, Monteverde, Monte Sacro, aber auch Standorte der Gruppen innerhalb des lokalen Olympiastadions, welches als Austragungsort der Heimspiele beider Mannschaften dient, etwa curva sud oder curva nord. Die letztgenannte Gruppe von Eigennamen ist jene der (eher selten auftretenden) Personenbezeichnungen, die sich wiederum grob unterteilen lassen. Die kleinste Gruppe davon sind Politiker, die im Rahmen der Ultrascritte beleidigt werden. Eine zweite Gruppe, die zahlenmäßig ebenfalls weniger stark vertreten ist, dabei aber von größter Bedeutung ist, wird durch die Namen bestimmter Individuen gebildet, die mit der Ultraszene in Verbindung stehen. In erster Linie sind das die Namen von Verstorbenen Ultras, die in den Texten heroisiert werden (siehe Abb. 26, 136 oder 223), wie die oben erwähnten Gabriele Sandri, Geppo und Antonio De Falchi oder Maurizio Alletto, der ebenfalls in einem großformatigen Murale erinnert wird. Dem Freund-Feind-Schema folgend, erscheinen Namen von Einzelpersonen auch in abwertenden Scritte. Wie bereits für die politische Domäne beschrieben, ist es üblich bei abwertenden Texten den Nachnamen des Referenten zu verwenden, um Distanz auszudrücken, im Gegensatz zu den verehrenden Totenmurales, die i. d. R. den Vornamen des Verstorbenen zeigen. Exemplarisch sei hier Luigi Spaccarotella genannt, dessen Nachname nicht nur als Knotenpunkt für die Abwertung seiner Person (aufgrund der Tötung des Ultras Gabriele Sandri) dient, sondern symbolisch für die Polizeikräfte und den immerwährenden Kampf der Ultras gegen diese verstanden werden kann. Die größte Gruppe von Eigennamen wird von (teils ehemaligen oder aktiven) Spielernamen der beiden römischen Mannschaften gebildet, wobei ein Spieler besonders häufig auftritt und dessen Name eine ganz besondere Funktion trägt: der bosnisch-schweizerische Lazio Spieler Senad Lulic. Gilt bei der Nennung von Spielernamen normalerweise, dass sie symbolisch für die jeweilige Mannschaft stehen und somit als Angelpunkt für die Bewertung des Vereins stehen, so geht die Verwendung des Namens Lulic weit darüber hinaus. (Auch bei unterstützenden Texten wird in diesem Fall meist der Nachname des Spielers verwendet, wohl wegen der im Fußball verbreiteten Nennung des Nachnamens von Spielern, etwa durch die Kommentatoren bei den Spielen.) Lulic schoß am 26. Mai 2013 in der 71. Minute den Siegtreffer für Lazio gegen die Roma während des Finales der Coppa Italia. Der Name vereint sozusagen als Pars-pro-toto unterschiedliche Aspekte, die besonders in der Ultraszene von höchster Bedeutung sind. So steht Lulic 71 für den monatelangen Support der Mannschaft bis zum Finale eines wichtigen Turniers, der dann im entscheidenden Spiel in der 71. Minute kulminiert, und drückt somit die Freude und Erleichterung einer ganzen Zeitspanne aus. In höchstem Maße wird diese Freude durch die Konstellation potenziert und zwar dadurch, dass der Sieg gegen den Erz- und Stadtrivalen A.S. Rom errungen wurde. Gleichzeitig werden in diesem sprachlichen Zeichen die Schmach und Erniedrigung des verhassten Verlierers gebündelt. Der Name ist also der ideale Träger, um eine Vielzahl von emotionsgeladenen und lebensweltlich bedeutsamen Botschaften zu übermitteln. Auf gleiche Weise funktioniert die Wortkombination (ma) quando vi passa oder auch in römischem Dialekt als quanno ve passa realisiert. Diese, bei den 4-Grammen besonders frequente (siehe DEFAULT), Konstruktion [CON WH CLI VER:fin] bezieht sich auf dasselbe Ereignis am 26. Mai 2013 und wird seitens der Lazio-Fans bis heute synonymisch verwendet, um die Freude der Sieger und die Schmach und Erniedrigung des Gegners immer wieder neu aufleben zu lassen.
Eigennamen von Personen dürfen primär nicht als Referenz auf Individuen verstanden werden, sondern tragen immer als wichtiger Fixpunkt zur Herstellung und Erhaltung der Gruppenidentität bei, ganz gleich ob dies zur Abgrenzung, Auf- oder Abwertung geschieht – Lulic ist nicht nur statistisch gesehen der Prototyp dieser Verwendungsart, sondern ist bestens als erklärendes Beispiel für die Verwendung von Eigennamen in dieser Domäne geeignet. Dies liegt unter anderem an der zentralen Rolle des Kollektivverständnisses, bei dem gemeinsam erlebte und bedeutsame Ereignisse der Fanszene zur Produktion von Gruppenidentität fungieren. Diese Art von Legendenbildung, „bei der bestimmte Spielbegegnungen, Ereignisse auf Auswärtsfahrten, o. ä. den Charakter eines über den Moment hinaus prägenden Ereignisses einnehmen“ (Claus/Gabler 2018, 378), wird im Korpus durch die Totenmurales und das symbolische Lulic deutlich erkennbar. Bevor das Kapitel der informationsbezogenen Aspekte mit der Betrachtung der Mehrwortkombinationen abgeschlossen wird, möchte ich noch kurz auf eine weitere lexikalische Besonderheit hinweisen. Es finden sich einige wenige Beispiele für sprachliche Innovationen bzw. Ad-hoc-Bildungen, die sich immer im pragmatischen Bereich der Ab- und Aufwertungen befinden. Neben Innovationen der Art Ebolazio (ebola + Lazio) ist ab und an die Realisierung des Graphen <s> als Dollarzeichen (<$>) innerhalb von Vereinsbezeichnungen zu finden. Diese Schreibweise soll abwertend gegenüber der genannten Mannschaft wirken, da die von den Ultras so sehr abgelehnte Kommerzialisierung des Fußball insinuiert und dem Gegner zugeschrieben wird. Ähnliches gilt für das Wortspiel um den Spielernamen ‘Maicon’, der in der Scritta Dal 1927 Maicon…tenti! UL als Mittel der Abwertung verwendet wird und neben der Nennung des Gründungsjahres 1927 der A.S. Roma als Adressatenverweis fungiert (siehe Abb. 236).427 Noch häufiger sind innovative Ansätze bei den Modifizierungen zu finden, die sich nicht nur auf Elisionen und Rasuren beschränken, sondern wenn bspw. das Token Lulic durch eine weitere Hand zu lo lecca abgeändert und somit die ursprüngliche Botschaft abgewertet und verhöhnt wird. Entscheidend für das Verständnis ist in diesem Beispiel, dass erstens die Produktion der ursprünglichen Hand zumindest vermutet werden kann (also Lulic) und zweitens, dass beim Betrachter genügend Hintergrundwissen zum Frame LulicFRAME vorliegt. So wird innovativ eine komplexe Botschaft in einer Zeichenfolge verpackt.
Abschließend ist die Interpretation der Mehrwortkombinationen von höchstem Nutzen, da hier besonders deutlich wird, wie sehr die Ultrastexte auf prototypischen Mustern basieren und streng nach einigen wenigen Konstruktionen produziert werden. Die Auswertungen der n-Gramme zeigen erstens, dass die oben genannten wesentlichen Eigenschaften der Ultratexte als Komponenten in den Kombinationen erscheinen oder als Produkt der Kombinationen resultieren. D. h., der vulgäre und gewaltaffine Grundton sowie die Produktion der Gruppenidentität über Knoteneinheiten lässt sich in den Slots der Konstruktionen erkennen und diese sind grundlegend im Freund-Feind-Schema bzw. dem Wettkampfcharakter verhaftet. Zweitens lassen sich die 2-, 3- und 4-Wortkombinationen als Varianten von drei bzw. vier grundlegenden Konstruktionsschemata zusammenfassen. Eine Sonderstellung nehmen dabei die hochfrequenten Kombinationen [NOUN NPR] (Ultras Roma/Lazio, Banda Noantri usw.) und [NPR NPR] (A.S. Roma oder S.S. Lazio) ein, da diese meist Vereins- oder Gruppenbezeichnungen darstellen und oftmals selbst Teil der nachfolgend genannten Konstruktionen sind. Eine der meistverwendeten Konstruktionen ist die Kombination [NPR NOUN] (prototypischerweise als Lazio/Roma merda) mit verschiedenen Varianten, wie z. B. [NPR NOUN SENT] (Lazio/Roma merda !) oder [NPR NPR NOUN NPR] (A.S. Roma merda UL). Als abstraktes Konstruktionsgerüst dient dabei die Verbindung [NPR NOUN], welche links- und rechtsseitig mit Zusatzinformationen erweitert werden kann, wobei sich die Semantik nicht grundlegend verändert. Auf pragmatischer Ebene fungiert diese Konstruktion innerhalb des Wettkampfrahmens, d. h. als Ausdruck der Auf- bzw. Abwertung eines Referenten, wobei die abwertende Funktion statistisch gesehen deutlich überwiegt.428 Konkret geschieht dies über die Nennung eines Referenten und der Beiordnung eines als negativ (oder seltener auch positiv) erachteten Merkmals, welche somit dem Referenten zugeschrieben wird. Dies bedeutet auch, dass die Konstruktion [NOUN NOUN] in gewissen Fällen – die alles andere als selten auftreten – als eine Variante dieser Konstruktion gelten kann, etwa bei Laziale boia oder Romanista infame. Die Negativbezeichnungen orientieren sich an der oben genannten ontologischen Hierarchie: Attribute die nicht dem stark idealisierten Bild von Männlichkeit, mit martialisch-kriegerischen Grundzügen, einer hohen Gewaltaffinität und der den Attributen ‘italienisch’ und ‘heterosexuell’, entsprechen, gelten als äußerst negativ, ebenso wie Fäkalien und bestimmte, negativ konnotierte Tierstereotypen (maiale, cane). Wie oben gezeigt, kann der Slot der Negativbezeichnung auch über Idiosynkratie durch den Namen des Erzrivalen gefüllt werden. Eine zweite frequente Konstruktion ist [NPR VER], prototypisch ausgedrückt in der Kombination Gabriele/Maurizio vive, die ebenfalls um weitere Komponenten erweitert werden kann, ohne die Semantik (und Illokution) zu ändern, etwa [NPR VER SENT] (Gabriele vive !) oder [NPR VER SENT NPR/NOUN] (Maurizio vive ! Ultras Lazio). Diese Konstruktion fungiert in erster Linie innerhalb der Support-Funktion der Texte, d. h. der Aufwertung der Mannschaft, wobei die oben genannte Legendenbildung über Totenmurales als Grundlage dient. Die letzte Konstruktion, die zwar weitaus weniger häufig auftritt, aber dennoch überauffällig erscheint, ist [NPR NUM], deren Prototyp die wichtige Zeichenkombination Lulic 71 ist. C.M.L. 74, A.S. Roma 1927 oder S.S. Lazio 1900 sind ebenfalls Realisierungen dieser Konstruktion, wenn auch ihre Frequenz niedriger ist. An dieser Stelle sei auf die Beschreibungen zu den Konstruktionen in der Domäne POLITIK (siehe DEFAULT) und die Beobachtungen im Rahmen der Fallstudie von Langlotz (2015) zur sozio-emotiven Konstruktion [You (ADJ) NOUN] verwiesen.
Diese rekurrenten Konstruktionen bilden das Grundgerüst der gesamten Texte innerhalb der ULTRAS-Domäne und sind der Grund für den recht geringen Informationsgehalt der zweitgrößten Domäne des Korpus. Die hohen Frequenzen dieser Konstruktionen (mit ihren Varianten) sind ein Indiz dafür, dass diese einfachen, abstrakten Konstruktionen besonders stark auf kognitiver Ebene bei den Kommunikationsteilnehmern verankert sind, das entrenchment hier also eine entscheidende Rolle einnimmt (vgl. Hoffmann/Bergs 2015, 121 und die theoretischen Grundlagen der Konstruktionsgrammatik in DEFAULT). Auch die Modifikationsroutinen orientieren sich besonders nachhaltig an diesen Konstruktionen, da die Ergebnisse der am häufigsten anvisierten Token zeigen (siehe DEFAULT), dass meist nur einer der Slots modifiziert wird und dies normalerweise, um die Botschaft der vorangegangenen Hand umzukehren, also z. B. wird Roma merda zu Lazio merda oder Roma campione.
Zusammenfassend kann für diese Kategorie festgehalten werden, dass kaum Information zum Gegenstand Fußball oder Ultras übermittelt wird. Es lassen sich hingegen einige klar begrenzte Wortfelder erkennen: Vereins-/Gruppenbezogene Lexik sowie Lokalreferenzen, Vulgär- und Fäkalsprache, Lexik der Gewaltaffinität, Auf- und Abwertungslexeme. Zu den Abwertungslexemen zählen neben der Vulgär- und Fäkalsprache auch Einheiten, die auf Basis einer ontologischen Hierarchie, die sich an dem Motiv von männlich, heterosexuell, kämpferisch-martialisch orientiert, als Abwertung dienen. Aufwertungslexeme beziehen sich meist auf den Wettkampf (campione), auf heroisierte Totenerinnerungen und sind stark von gemeinsam erlebten Ereignissen (Lulic 71, Quando vi passa) geprägt. Diese Wortfelder werden typischerweise innerhalb einiger weniger Konstruktionen verarbeitet, um v. a. die Aufwertung des eigenen Vereins/der eigenen Gruppe und die Verachtung und Abwertung des Gegners und der Polizei im Kollektiv zu kommunizieren, wobei Gruppenidentität als zentraler Faktor gilt. Seltener wird die Liebe zum Verein und zur Lebensweise der Ultras propagiert, was dann auch über längere Texte geschehen kann.
7.2.5.2. Mitteilung – Nachricht – ULT
Die angestellten Interpretationen der Korpusdaten zur Domäne ULTRAS, münden nun ebenfalls in der Frage, welche (prototypischen) Kommunikationsfunktionen die Scritte Murali aus der Ultraszene tragen. Wie bei der Funktionsdeutung der politischen Scritte (DEFAULT) bereits für alle Domänen vorweggenommen, gilt auch hier, dass im Rahmen dieser Arbeit nur die zentralen bzw. prototypischen Funktionalitäten zusammengefasst werden können und dies mit Fokus auf Georeferenz und Sprachzeichen geschieht.
Richtungsweisend ist bei der Funktionsanalyse, dass die Produktion (und folglich auch die Rezeption) von Ultrascritte stark ritualisiert abläuft und sich die Texte auf sprachlich-inhaltlicher Ebene recht starr zeigen. Trotz der relativen Größe dieser Domäne sind die Scritte insgesamt von geringer Varianz und treten in formaler und semantischer Hinsicht meist rekurrent auf, wobei eine Orientierung an zentralen, szenegültigen Normen deutlich erkennbar ist. Diese sind in erster Linie bestimmte Idealbilder, ein stark ausgeprägter binärer Wettkampfcharakter (Freund-Feind-Schema) und die allgegenwärtige Gruppenidentität. Die Daten – v. a. die inhaltlich-semantischen Merkmale in Verbindung mit der Verteilung im Erhebungsgebiet – haben gezeigt, dass eine Informationsübermittlung als prototypische Funktion höchst unwahrscheinlich ist. Oder anders ausgedrückt: die gezeigten Token des Genres sind auf semantischer Ebene schlichtweg zu einseitig und beschränkt, um davon ausgehen zu können, dass die Produzenten darauf abzielen in der Öffentlichkeit über bestimmte Themen zu ‘informieren’. Hinzu kommt, dass der gewählte Sprachstil besonders von Fäkal- und Vulgärsprache geprägt ist und schließlich eine geringe Anzahl an festen und simplen Konstruktionen (oder Konstruktionsschemata) als Übertragungsmittel dienen. Von einer (Teil-) Funktion der Übermittlung von programmatischen Inhalten und/oder Propaganda, wie dies bei politischen Texten teilweise gegeben ist, kann hier also nicht ausgegangen werden. Demnach erschließen sich zwei prototypische Funktionen für SM der Domäne ULTRAS:
Erstens dienen sie als deutliche Positionierung innerhalb eines Freund-Feind-Schemas, sprich, Produzenten geben auf unmissverständliche Weise ihre Position innerhalb der Fußball- und Ultraszene sowie der Gesellschaft generell zu erkennen. So werden neben dem Kollektivverständnis und der Abgrenzung gegenüber ‘normalen’ Fußballfans (allein schon aufgrund der Wahl dieser Kommunikationsform, aber auch über den Sprachstil) und der Gesellschaft, klare Feindbilder (v. a. gegnerische Fans und Polizeikräfte) und Idealbilder kommuniziert. Der wichtigste Aspekt ist hier, die Aufwertung der eigenen Mannschaft (der sog. Support) und die Abwertung oder Beleidigung gegnerischer Gruppen. Der Sender wird dabei normalerweise nicht explizit markiert, lässt sich aber aufgrund der stark konventionalisierten Handlungsweisen in dieser Subkultur und darüber hinaus problemlos identifizieren. So besteht für die wenigsten Bewohner Roms die Frage, welche Gruppe hinter einer Lazio merda-Scritta steht. Die Unterstützung des eigenen Vereins und die explizierte Aversion gegen die gegnerische Mannschaft verlaufen dabei immer reziprok. So ist bspw. ein Roma merda-Text neben der offensichtlichen Abwertung der A.S. Roma immer auch eine Aufwertung des S.S. Lazio bzw. der textproduzierenden Ultragruppe. Dies liegt an der visuellen Dominanz im Gebiet und dem dadurch geschaffenen Raum bzw. Territorium, womit die zweite (und eigentlich zentralere) Funktion bereits angesprochen ist.
Diese zweite Funktion ist die territoriale Markierung, die zwar Parallelen zur territorialen Markerfunktion der POLITIK-Scritte aufweist, sich aber dennoch davon abhebt. Wie festgehalten wurde, sind räumliche und visuelle Aspekte generell von zentraler Bedeutung in der Ultraszene, was sich wahrscheinlich am deutlichsten in den Fußballstadien zeigt, wo seitens der Ultras großer Wert darauf gelegt wird, dass sowohl der unterstützte Verein wie auch die eigene Ultra(unter)gruppe in bestimmten Lokalitäten (an erster Stelle die jeweilige Fankurve) visuell dominant ist. Dies geschieht im Stadion – wie auch beim gemeinsamen Lauf zum Stadion und danach – über Schals, Banner, Trikots usw. Scritte Murali erfüllen innerhalb dieser räumlich-visuellen Dimension die gleiche Funktion, wobei die Handlungen eher in den lebensweltlichen Räumen stattfinden. So werden die öffentlichen Bereiche der Lebensräume der Ultras (also letztlich die Wohngebiete) zum Austragungsort des Wettkampfes, ähnlich wie dies das Stadion an Spieltagen ist, den es gilt über geeignete Mittel für den eigenen Verein bzw. die eigene Gruppe zu beanspruchen.429 Dabei spielen Stammplätze eine zentrale Rolle, was auch am festen Stehplatz bestimmter Ultragruppen innerhalb einer Fankurve erkennbar wird. So werden im urbanen Raum bestimmte Plätze, Straßen oder sonstige Standorte als Stammplätze anhand von Scritte Murali markiert. Visuelle Ressourcen sind dabei von größter Bedeutung und an besonders wichtigen Stammplätzen werden großformatige Scritte (etwa Totenmurales) in den Vereinsfarben erstellt. Die kurzen Texte, die besonders stark konventionalisiert sind, ermöglichen eine blitzschnelle Zuordnung der Gesamtscritta zu einer Mannschaft. Die geringe Variabilität der Textinhalte und die rekurrent auftretenden Konstruktionen bewirken, dass die Ultrascritte noch mehr als Gesamteinheit rezipiert werden können und die Scritte im Ganzen als Bild erfasst werden. Dies ermöglicht die Nutzung zur visuellen Markierung von Gebieten. Betrachtet man die Verteilung der Subdomänen, wird deutlich, dass Konflikt-Scritte einen großen Teil der domänenspezifischen Scritte einnehmen, was direkt die Funktionsdeutung der Domäne bedingt, da diese modifizierten ‘Konflikttexte’ auf den ersten Blick keine territoriale Abgrenzung erlauben, d. h., es kann hier keinem der beiden Stadtvereine die Dominanz für diese Gebiete zugesprochen werden. Es muss also unterschieden werden zwischen den lokalen, etablierten Territorien, die sich auf Mikro-Ebene auf Straßenzüge und Plätze innerhalb größerer Gebiete begrenzen, und den vielen Konfliktscritte, die sich über weitgefasste Gebiete erstrecken und in gewissem Sinne trotzdem der Gebietsmarkierung dienen. Diese Konflikttexte sind sozusagen eine Momentaufnahme des anhaltenden Wettkampfes der beiden Lager, der in den Gebieten und um Gebiete (bzw. Punkte in diesen Gebieten) ausgetragen wird. Territorien werden also fortlaufend markiert, bzw. – besser gesagt – es erfolgen ständige Hoheitsansprüche zu Gebieten, auf die jedoch direkt geantwortet wird. Die Gebiete dienen demnach als Schlachtfeld für den Schlagabtausch zwischen den Gruppen, wobei die Texte indexikalisch auf die jeweilige Anhängerschaft verwiesen wird, ähnlich wie dies bei Ladenschildern geschieht, mit dem Unterschied, dass nicht auf den ‘Inhalt’ der Ladenfläche, sondern auf den ‘Inhalt’ des Stadtgebietes verwiesen wird. Hierin liegt eine enge Verbindung zur erstgenannten Funktion, da dieser Schlagabtausch grundlegend von den oben genannten Merkmalen geprägt ist. Innerhalb dieses Wettkampfes bilden sich momentane Territorien, die stark umkämpft sind, ähnlich wie dies etwa bei Fangesängen im Stadion auf auditiver Ebene oder bei körperlichen Auseinandersetzungen bei Straßenkämpfen auf physischer Ebene abläuft: mal singt eine Ultras- oder Fankurve lauter als die Gegner oder eine Ultragruppierung kann für einen Moment den Gegner in die Flucht schlagen – im nächsten Moment geschieht es genau andersherum. SM werden demnach als sprachlich-visuelle Mittel genutzt, um den Wettkampf außerhalb des Stadions in der Lebenswelt auszutragen und für die Gruppe Lokalitäten zu erobern oder halten.
7.3. Funktionalität der EXPRESSIVITÄT-Scritte
Das drittgrößte Genre des ScriMuRo-Korpus wird von Scritte gebildet, die unter der Domäne EXPRESSIVITÄT gruppiert wurden und mit 740 Texten 20 % des Gesamtkorpus ausmachen. Wie bereits in Kapitel und Kapitel definiert, wird die Domänenbezeichnung hier prototypisch verwendet und beschreibt im engeren Sinne Scritte, die primär Emotionen ausdrücken (vgl. Pustka/Goldschmitt 2014 und Pustka 2015). Bevor die kommunikativen Funktionen dieser Scritte abgeleitet werden können, müssen grundlegende Voraussetzungen festgehalten werden. Zunächst muss bedacht werden, dass sich die in dieser Domäne zusammengefassten Texte sowohl auf inhaltlich-semantischer wie auch formaler Ebene besonders heterogen zeigen und auch hinsichtlich ihrer Funktionen voneinander differenzieren. Es gilt die Prämisse, dass zwar einige Aspekte für die gesamte Domäne gültig sind, es aber oftmals angebracht ist, zwischen den Subdomänen EXPRESSIVITÄT POSITIV und NEGATIV zu unterscheiden. Gemeinsam ist beiden Subdomänen, dass die Texte der Kommunikation, Aushandlung und Erhaltung von intersubjektiven Beziehungen dienen. Welche weiteren Funktionen die Subdomänen haben, wird nachfolgend erörtert werden. Zusätzlich könnte man – zu Recht – argumentieren, dass allen SM eine expressive Funktion inhärent ist, da durch die Wahl dieser in der Gesellschaft als transgressiv geltenden Kommunikationsform auf psychologischer Ebene das Innenleben der Produzenten ausgedrückt werden. Wenn nachfolgend also die Funktionalität von EXPRESSIVITÄT-Scritte gedeutet wird, so verwende ich den Begriff definitorisch um Texte zu beschreiben, auf deren Oberfläche ein bestimmter Aspekt des Inneren, nämlich die Emotionen, abzulesen sind. Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass die Scritte der bereits analysierten Domänen POLITIK und ULTRAS teils massiv Emotionen verarbeiten und aushandeln (etwa bei Totenscritte oder v. a. bei dysphemistischen Bewertungen). Diesbezüglich angestellte Beobachtungen, wie z. B. zu den Konstruktionen [Referent NOUN], gelten folglich auch für die Domäne EXPRESSEVITÄT und nachstehende Rückschlüsse treffen möglicherweise auch auf die politischen Scritte und Ultras-Texte zu, wobei dies in erster Linie für Scritte, die negative Emotionen ausdrücken, gilt.
7.3.1. Kommunikationsteilnehmer – EXPR
7.3.1.1. Produzenten – EXPR
Hinsichtlich der Produzentenkonstellation ist es plausibel die beiden Subdomänengruppierungen EXPRESSIVITÄT POSITIV und NEGATIV gesondert zu betrachten, da sich die Werte zu Senderkennungen unter den Subdomänen deutlich voneinander abheben. Da die Subdomänen jeweils weiter unterteilt werden können (siehe DEFAULT) beziehen sich nachstehende Beobachtungen auf die prototypischen Werte der Domäne und Subdomänen.
Innerhalb des Subdomänenverbundes POSITIV kontrastieren die Hinweise zu den Produzenten auf der Textoberfläche deutlich zu den Domänen ULTRAS und POLITIK. Dies liegt nicht zuletzt an der Dominanz der Subdomänen, die unter dem Sammelbegriff Liebe zusammengefasst wurden und mit knapp 60 % den Großteil der Subdomänen ausmachen. Besonders direkte Liebestexte – also Kommunikate, welche explizit eine Liebesbekundung darstellen – werden musterhaft gebildet und beinhalten Indizien auf die Ersteller der Texte. Eine Auflistung der Verben zeigt, dass 51 % (!) aller auftretenden italienischen Verben für die Subdomänen POSITIV morphosyntaktisch auf die 1. Person Singular verweisen und nur 2 % auf die 1. Person Plural. Die mit Abstand häufigste Verbform ist dabei amo und stammt somit aus den direkten Liebestexten. Dies bedeutet, dass – im Gegensatz zu den Domänen POLITIK und ULTRAS, die beide massiv durch eine Gruppendynamik geprägt sind, – Texten mit einer Expressivität von positiven Emotionen eine starke Individualisierung der Produzenten zugrunde liegt. Dieser hohe Grad an Individualisierung wird durch die relativ häufige Verwendung (127 von insg. 481) von Personal- und Possessivpronomina sowie Klitika, die auf einen Schreiber/eine Schreiberin der 1. Person Singular verweisen, noch verstärkt. So geben prototypische Textfragmente der Art ti amo, ti voglio oder sei mia/mio eindeutig Hinweise darauf, dass die Produzenten aus einer Ich-Perspektive heraus kommunizieren, was hinsichtlich des semantischen Hintergrunds der Botschaften nur plausibel ist. Die wenigen Texte, die aus der pluralen Wir-Perspektive schreiben, verweisen in der Regel ebenfalls auf eine solche Individualisierung, da der Produzent inkludiert ist (Camilla… ti amiamo, rimarremo solo noi usw.). Bei politischen Texten sind es v. a. politische Symbole und (oft gekürzte) Eigennamen, um die Gruppenidentität der Produzenten anzuzeigen, ähnlich zu den Ultras, die sich in erster Linie der Vereinsnamen bedienen, um den Sender zu markieren. Auch die Texte der Subdomänen EXPRESSIVITÄT POSITIV weisen eine relativ hohe Zahl an bildgraphischen Zeichen auf (52 % der Scritte) und Eigennamen ist die am häufigsten verwendete Wortart für diese Subdomänengruppe. Allerdings fungieren sowohl bildgraphische Zeichen als auch Eigennamen gänzlich anders als bei den beiden Domänen POLITIK und ULTRAS, da erstens die Semantik der frequentesten bildgraphischen Zeichen keinerlei Hinweise auf den Sender geben – es werden v. a. <<Herzen>> und Logogramme wie z. B. <<+>>, <<&>> oder <<=>> verwendet – und zweitens werden Eigennamen in der Regel als (textinterne) Adressatenmarkierung verwendet. Selbst in den wenigen Fällen (insgesamt etwa 41 Texte) in denen Eigennamen als Senderangabe auftreten, etwa in Deborah ti amo!!! Fabio Guida oder Luisa I love you by Simone, lassen sich nur wenig konkrete Informationen zum Produzenten ableiten. Dies liegt v. a. daran, dass die verwendeten Namen bis auf eine Ausnahme (Fabio Guida) allesamt Personennamen in Form von Vornamen sind und außerdem ein erheblicher Teil der Personennamen lediglich durch Initialen (Yaya ti amo – F –) angegeben wird. Der Unterschied zu den ULTRAS- und POLITIK-Scritte, in denen auch Vornamen verwendet werden (Valerio/Paolo/Maurizio/Gabriele vive), liegt im Bekanntheitsgrad der assoziierten Person, der mindestens auf szeneinterner Ebene bei politischen und Ultrascritte vergleichsweise hoch anzusetzen ist und den meisten in Rom ansässigen Personen bekannt sein dürfte. Es ist stark von der Annahme auszugehen, dass die in Liebesscritte benannten Personen nicht über einen solchen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit verfügen, weshalb die Nennung des Vornamens eine genauere Bestimmung des Referenten (dies gilt auch adressatenseitig) nicht ermöglicht. Dennoch ist die Anonymität der Teilnehmer weitaus geringer als dies auf den ersten Blick der Fall sein mag. Der Zugang zur Identifizierung der Kommunikationsteilnehmer ist hier im Verbund mit geolokalen und adressatenbezogenen zu lokalisieren, wie ich bereits zu Beginn der Arbeit in Kapitel festgehalten habe. So ist der Standort im Nahbereich des primär intendierten Rezipienten (Adressaten) und der/die Rezipient/in selbst ausschlaggebend. Effektive Rezipienten einer solchen Nachricht können eventuell einen Simone, eine Mery oder eine Carlotta zuordnen (oder den möglichen Produzentenkreis stark eingrenzen), wenn sich ihr Nahbereich mit jenem des anvisierten Adressaten deckt, d. h., Eigennamen in einer Liebesscritta am Eingangsbereich eines Wohnhauses können eventuell von Bewohnern des Hauses zugeordnet werden, wenn ihnen bspw. eine Person, die einen der Namen trägt, dort wohnhaft und die Liebesbeziehung dieser Person bekannt ist – das Hintergrundwissen ist hier also entscheidend. Das betrifft v. a. den intendierten Rezipienten, da dieser die Eigennamen richtig assoziieren muss, damit die Botschaft ‘gelingt’. Ausnahmen dafür wären Scritte, die zum Zweck der Katharsis erstellt wurden (s. u.).
Der weitaus kleinere Teil der Domäne EXPRESSIVITÄT wird durch Texte gebildet, die negative Emotionen ausdrücken. Wie bereits erwähnt, muss hier jedoch bedacht werden, dass die dysphemistischen Texte der ULTRAS- und POLITIK-Domänen, die einen erheblichen Teil dieser Domänen bilden (s. o.), i. d. R. nicht der EXPRESSIVITÄT NEGATIV Subdomänen zugeordnet wurden. Dies bedeutet, dass der Ausdruck von negativen Emotionen generell bei SM eine zentrale Teilfunktion ist. Konzentriert man sich auf die Texte, deren primärer Zweck der Ausdruck von negativen Emotionen ist – konkret sind dies v. a. Beschimpfungen, Vulgäres und provokative Aussagen – zeigt sich ein gänzlich anderes Bild der textinternen Senderhinweise im Vergleich zu den positiven Subdomänen: gerade einmal 6 % der Verbendungen zeigen die 1. Person Singular, nur 0.24 % die 1. Person Plural an. Die Werte liegen damit zwar höher als bei den Domänen POLITIK und ULTRAS, gleichzeitig aber signifikant tiefer als bei den Subdomänen positiver Emotionen. Auch Pronomina und Klitika geben kaum Hinweise zur Autorenschaft, ebenso wie Eigennamen, die ausschließlich als textinterne Adressaten fungieren. Die wenigen Texte, die bildgraphische Zeichen aufweisen, deren Semantik auf Gruppierungen verweist (etwa politische Symbole), sind mit einer Doppelbelegung der Domänen EXPRESSIVITÄT und POLITK (oder ULTRAS) versehen und stellen somit die einzigen Scritte dieser Subdomänen dar, die Rückschlüsse auf die Produzenten zulassen. Die bisher größte Anonymität auf Produzentenseite ist somit in den Texten dieses Subdomänenverbundes zu finden. Wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels gezeigt wird, liegt dies v. a. an der Hauptfunktion dieser Texte, nämlich der Katharsis, wobei eine Angabe des Senders weniger wichtig erscheint – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen. Selbst unter dieser Prämisse, d. h., dass Schreiber aus dem Drang der Katharsis heraus die Texte anbringen, kann die Frage, wie sehr die Nachricht als individualisiert zu betrachten ist, nicht abschließend geklärt werden, da es durchaus sein kann, dass die Scritte als Ausdruck von in der Gruppe erlebten negativen Emotionen geschrieben wurden.
Zusammenfassend lässt sich für die beiden Subdomänenkonglomerate EXPRESSIVITÄT POSITIV und NEGATIV hinsichtlich der Produzentenkonstellation folgendes feststellen. Bei Texten, die dem Ausdruck positiver Emotionen dienen, herrscht produzentenseitig eine deutliche Individualisierung vor, wobei die Produzenten auf der Textoberfläche typischerweise nicht weiter spezifiziert werden. Der Zugang zur Senderidentifikation erfolgt über die georeferenzierten Informationen der Scritte und ist stark rezipientenabhängig, welche anhand der weiteren Hinweise – hierzu gehören auch die wenigen Fälle, in denen Senderkennungen in Form von Vornamen oder Initialen vorliegen – und ihres Hintergrundwissens den Produzenten identifizieren oder zumindest erahnen können. Für Scritte der Subdomänen NEGATIV dagegen gilt ein besonders hohes Maß an Anonymität. Es zeigt sich zwar eine Tendenz hin zur Individualisierung der Produzenten, jedoch sind die textuellen Hinweise derart spärlich, dass hier keine endgültigen Aussagen getroffen werden können. Die Analyse der weiteren Kategorien sollen diesbezüglich weiteren Aufschluss geben.
7.3.1.2. Rezipienten – EXPR
Die für die Produzentenseite der positiven Subdomänen gültige Individualisierung zeigt sich auch im Bereich der Rezipienten. Dies zeigt sich zunächst auf der morphosyntaktischen Ebene, da 19 % der Verbendungen auf die 2. Person Singular (sei, manchi) und nur 1 % auf die 2. Person Plural verweisen. Noch deutlicher wird die individuelle Perspektive, wenn man die Pronomina und Klitika untersucht, wovon 59 % auf die 2. Person Singular und 3 % auf den Plural referieren. Berücksichtigt man die auffällig hohe Verwendung von [CLI VER:fin] im Teilkorpus (realisiert in erster Linie als ti amo), wird deutlich, dass typischerweise bei Texten mit positiven Emotionsausdruck explizit in der Du-Form adressiert wird. Zusätzlich wird bei besonders vielen Scritte (über 300 der 509 Scritte) der Adressat explizit über Eigennamen angegeben, etwa Ti amo Niletta, Alibano…6 mio basta, Alessia ti amo, Ale t.v.b. usw., wobei im Vergleich zur Senderkennung nicht annähernd so oft Initialen, sondern der gesamte Vorname genannt wird. Auch bei ‘bindenden’ Texten – also etwa Alibano + Martina x sempre – wird der Adressat genannt, da durch die Angabe des Eigen- bzw. Vornamens der Adressat (und auch, wie anzunehmen ist, der Produzent) implizit genannt wird, wobei nicht immer klar ist, welche der beiden genannten Personen Adressat und wer Produzent ist.
Adressaten werden also generell explizit benannt und oft direkt angesprochen, was darauf schließen lässt, dass die Kommunikation an die Öffentlichkeit keine zentrale Rolle spielt, sondern die Rezipienten primär Einzelpersonen sind. Mit Verweis auf die Funktionen der (positiven) EXPRESSIVITÄT-Scritte (s. u.) muss hier jedoch bedacht werden, dass die Publikation v. a. von Liebesbekundungen in der Öffentlichkeit (und somit auch auf gewisse Art an die Öffentlichkeit) sicherlich eine Teilfunktion darstellt, da die Tatsache, dass diese Gefühle ‘der ganzen Welt’ mitgeteilt werden, als eine Art Liebesbeweis wahrgenommen werden kann und somit die Botschaft an sich potenziert. Dennoch gilt auch in diesem Fall, dass die angesprochene Person als primärer Adressat fokussiert wird. Insgesamt zeigt sich, dass durch die Verschlüsselung anhand der exklusiven Verwendung von Vornamen der Rezipientenkreis begrenzt wird,430 d. h., dass nur ein relativ geringer Teil der effektiven Rezipienten befähigt ist, die kommunizierten Teilnehmer vollständig zu identifizieren, bspw. der Freundeskreis der Teilnehmer, deren Mitglieder dann als sekundäre Adressaten gelten können. Je weiter der Rezipient von den Teilnehmern und ihren sozio-biographischen Netzwerken situiert ist, desto weniger können die genannten Personen im Text spezifiziert werden, wodurch auch der Grad an Adressierung abnimmt. Sozusagen der Gegenpol zum primären Adressaten (der oder die Angesprochene) stellen dann letztlich die effektiven Rezipienten dar, die keinerlei Hintergrundwissen zu den involvierten Personen haben und somit lediglich auf Basis des Weltwissens Informationen zu ableiten können, etwa dass Alessio männlich, italienisch und wahrscheinlich jugendlich ist. Stereotypisch kann man davon ausgehen, dass v. a. Jugendliche solche Liebes-Scritte anbringen. Die Nähe der Kommunikationsteilnehmer (bzw. die Herstellung der Nähe seitens des Produzenten) wird in der frequenten Verwendung von Vornamen und der Du-Form bereits deutlich (vgl. Ochs/Schieffelin 1989, 12), was durch weitere Elemente verstärkt wird (s. u.), etwa die Verwendung von Kosenamen, Verkleinerungsformen oder den Einsatz von Symbolen.
Die Gruppe der negativen Subdomänen wird zu 51 % von Beschimpfungen (97 von 189 Scritte) und 23 % vulgären Texten (43) gebildet. Generell werden hier weniger Verben verwendet, wobei 23 % aller Verbrealisierungen in der 2. Person Singular und nur 1 % im Plural auftreten – es scheint also auch hier eine Tendenz zur Individualisierung vorzuliegen, sprich, es werden eher Einzelpersonen angesprochen. Bei 81 der 189 Scritta werden Eigennamen verwenden, wovon dies v. a. bei Abwertungen (Beschimpfungen) von Personen geschieht. Im Gegensatz zu den Domänen POLITIK und ULTRAS wird dann jedoch nur äußerst selten der Nachname der anvisierten Person genannt und wenn dies der Fall ist, dann wurde der Name bzw. Nachname übermalt (siehe Abb. 242 und 243). Bei vulgären Scritte werden Adressaten nur bei etwa einem Viertel der Texte explizit genannt, wobei diese dann meist Ziel von Obszönitäten werden (Valeria mangia cazzi). Bei den Namen, die auf das Geschlecht der Person schließen lassen, zeigt sich, dass in 34 Fällen männliche und in 13 Fällen weibliche Personen Ziel der Beschimpfungen und/oder Obszönitäten wurden. Neben den Texten, die über Morphosyntax oder Eigennamen Adressaten nennen, wird ein weiterer Teil der Subdomänengruppe von Texten gebildet, die idiomatische Redewendungen, Flüche oder lediglich Kraftausdrücke zeigen, ohne (auf der Textoberfläche) Personen direkt zu adressieren und produzentenseitig eine hohe Entpersonalisierung geschaffen wird. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass bei Tokenfolgen der Art ‘sto cazzo, e ‘sti cazzi, porco dio, che palle oh!, mortacci vostra oder einfach boia kein direkter Adressat identifiziert werden kann und auf den Produzenten lediglich indexikalisch anhand der erstellten Scritta verwiesen wird. Die Frage nach den Rezipienten für negative Texte muss also aus zweierlei Hinsicht geschehen. Erstens gelten für die Flüche und Kraftausdrücke die effektiven Rezipienten als Adressaten – also tatsächlich die Öffentlichkeit – und zweitens sind die explizit genannten Referenten als Adressaten der Diffamierungen in der Öffentlichkeit zu verstehen. Der Aspekt der Öffentlichkeit ist hier ein zentraler Faktor, da das öffentliche Verleumden und Herabwürdigen der Person die Handlung drastisch intensiviert. Insofern sind die effektiven Rezipienten ein wichtiger Bestandteil der Sprachhandlung, die ohne sie (die effektiven Rezipienten) massiv an Bedeutung verliert, vergleichbar mit dem mittelalterlichen ‘an den Pranger stellen’. Tatsächlich gibt es jedoch nur einen verschwindend kleinen Teil an Scritte, die den Nachnamen der Person zeigen und somit eine genaue Zuordnung der Person zulassen. Dadurch gibt sich eine Rezipientenkonstellation, wie sie für die positiven Scritte – wenn Vornamen verwendet werden – vorliegt, d. h., nur bei genügend Hintergrundwissen kann die Person spezifiziert werden. Sowohl rezipienten- wie auch produzentenseitig muss demnach zwischen Adressaten und effektiven Betrachtern unterschieden werden, wobei für Erstgenannte die erwähnte Individualisierung gilt und für Letztgenannte die Produzenten anonymisiert sind und letztlich als ‘Beihörer’ (bzw. Beileser) gelten ohne direkt und/oder aktiv an der Kommunikation teilzunehmen, gleichzeitig aber als wichtiger Faktor für die Adressaten verstanden werden müssen.
Abschließend sei erwähnt, dass der Faktor der Illegalität der SM theoretisch von Bedeutung sein könnte und zwar für positive wie negative Texte, da die Produzenten von Liebestexten die Adressaten (und sich selber) nicht in Schwierigkeiten bringen möchten und deshalb auf die Nachnamen verzichten, da dies für den Zweck der Liebesscritte kontraproduktiv wäre. Andererseits würde die Nennung des Nachnamens bei Diffamierungen und Abwertungen und dem daraus resultierenden Ärger die Sprachhandlung stark potenzieren. Diese Annahme mag für positive Texte gelten, kann jedoch nicht abschließend geklärt werden. Bei negativen Texten dagegen, scheint der Faktor der Illegalität nicht von zentraler Bedeutung zu sein, da schlichtweg viel zu selten Nachnamen verwendet wurden. Wie weiter unten zu sehen sein wird, muss hier jedoch auch unterschieden werden zwischen tatsächlich ernst gemeinten Beleidigungen (wie dies bei den Ultras und politischen Gruppen der Fall ist) und im Rahmen jugendlicher Emotionsverarbeitung vollzogenen Provokationen oder Beleidigungen gegenüber Freunden. Im letztgenannten Fall würde sich dann wieder erklären, warum auf den Nachnamen verzichtet wurde, da die Anfeindungen eben nicht im vollen Ernst geschrieben wurden.
Modifikationen spielen sowohl bei positiven als auch negativen Texten kaum eine Rolle (5 % der positiven bzw. 15 % der negativen Texte wurden nachträglich verändert), weshalb ich nicht weiter darauf eingehen werde und mich der nächsten Kategorie KontextJAK zuwenden werde.
7.3.2. Kontext (Ort, Zeit) – EXPR
7.3.2.1. Ort – EXPR
Wie gezeigt wurde, ist die territoriale Markierung und das indexikalische Anzeigen von Territoriumsansprüchen bei politischen und Ultratexten von höchster Bedeutung, was nicht zuletzt anhand der Distribution von SM im Erhebungsgebiet sichtbar wird. Die Verteilung der expressiven Scritte grenzt sich davon deutlich ab, wobei Aspekte der Materialität und die Beobachtungen zu den Teilnehmern zentrale Deutungsschlüssel sind.
IK 32: Standorte der Subdomäne EXPRESSIVITÄT POSITIV – Vollbildanzeige |
IK 33: Standorte der Subdomäne EXPRESSVITÄT NEGATIV – Vollbildanzeige |
Zunächst scheinen die domänenzugehörigen Texte wahllos über das Stadtgebiet verteilt zu sein, wobei auch die Unterscheidung der Subdomänenverbunde unerheblich zu sein scheint. Ein genauerer Blick auf die Karte zeigt jedoch, dass auch dieser Typ von SM an strategisch gewählten Standorten erstellt werden. Hilfreich ist hier die Heatmap-Funktion der interaktiven Karten, anhand derer sich sog. ‘Hotspots’ ausmachen lassen. Exemplarisch seien etwa die Standorte an der Via Luigi Lablache und der Via Pian di Sco (Serpentara), Via Cabrio Casati und Via Angiolo Cabrini (Val Melaina), Via Monte Massico (Tufello), die Bereiche der Metrostationen Jonio und Conca D’Oro, die Via dei Sardi (San Lorenzo) und Via Raffaele Caverni (Prati). Die genannten Punkte haben eines gemeinsam: sie weisen auf einer sehr begrenzten Fläche eine hohe Anzahl (hier mind. 20) an Scritte auf, wobei hier mit Fläche meist tatsächlich die Trägerfläche gemeint ist. Besonders die Punkte an der Via Angiolo Cabrini in Val Meilaina und der Via die Sardi in San Lorenzo weisen 51 bzw. 35 Scritte auf engsten Raum auf. Beide Standorte und die formal-materiellen Aspekte der Scritte bestätigen die These, dass primär nicht auf eine möglichst hohe Zahl an (effektiven) Rezipienten geachtet wird, und erlauben ausserdem Rückschlüsse über die Funktionen der expressiven Scritte. Es handelt sich nämlich bei den Standorten um verkehrsberuhigte und eher schlecht einsehbare Flächen – dies gilt ganz besonders für den Standort in Val Melaina, der sich in einem reinen, eher abgelegenen Wohngebiet befindet, und die Trägerfläche befindet sich abseits des Gehweges und kann nur schwer von der Straße eingesehen werden. Zusätzlich wurden an beiden Orten eine hohe Anzahl von kleinformatigen, mit Filzstift erstellten Texte auf engstem Raum (d. h. Trägerfläche) erstellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sich die Zeit nimmt diese Scritte tatsächlich zu lesen – außer Sprachwissenschaftlern, die zu diesem Gegenstand forschen, und Jugendlichen, die sich regelmässig an diesem Ort aufhalten – ist verschwindend gering. Ein ähnliches Bild zeigt sich an den Metrostationen und den anderen, oben genannten Hotspots: auf der gleichen Trägerfläche oder zumindest in unmittelbarer Nähe werden eine hohe Zahl von SM erstellt, die ein chaotisches und unübersichtliches Gesamtbild ergeben, wobei aufgrund der verwendeten Materialien, der typographischen Aspekte und der verwendeten Eigennamen und Initialen davon ausgegangen werden kann, dass es sich um eine begrenzte Zahl von Produzenten gehandelt haben muss. Die Ursache ist in den oben beschriebenen Beobachtungen zu den Teilnehmern zu suchen, sprich, die Standorte werden auch hier in Abhängigkeit der Adressaten gewählt, aber im Unterschied zu politischen oder Ultrascritte ist der Adressatenkreis weitaus begrenzter und deckt sich teilweise mit den Produzenten. Die Standorte bzw. die Hotspots scheinen allesamt Treffpunkte von Jugendlichen zu sein, an welchen sich die jeweiligen Gruppierungen über bestimmte Zeiträume regelmässig aufhalten. In diesem Fall liegt die Vermutung nahe, dass expressive Scritte – und dabei ist explizit auch der Ausdruck von negativen Emotionen gemeint (etwa Beleidigungen) – von jugendlichen Freundesgruppen erstellt werden und dabei gleichzeitig selber als primäre Adressaten gelten. Es werden die Trägerflächen an den Treffpunkten dann als Plattform genutzt, um die erlebten Gefühle und Emotionen zu verarbeiten, d. h., die emotionalen Zustände werden subjektiv kodifiziert und über (sprachliche) Zeichen veräußert (vgl. Schwarz-Friesel 2007, 55). Die Zeichen – bzw. Scritte – stellen also Interaktionsrituale dar, die dazu dienen Emotionen und Gefühle zu kommunizieren und dadurch soziale Beziehungen zu verhandeln und koordinieren. Die Texte müssen also gruppenintern gelesen werden können, um auf der interaktional-kommunikativen Ebene funktional zu bleiben, und werden an den Treffpunkten der Teilnehmer erstellt. Somit decken sich Produzenten- und Rezipientenkreis in diesen Fällen, womit auch das Gewicht der visuellen und materiellen Aspekte verschoben wird (s. u.) und weitere Dimensionen bedingt werden.431 So können an diesen speziellen Standorten der Hotspots auch negative Scritte anders gelesen werden, da diese weniger als ernsthaft gemeinte Beleidigungen begriffen werden müssen, sondern als Teil von intersubjektiver Aushandlung der Sozialstrukturen. Ebenfalls gelten solche Scrittesammlungen als eine Art der Inbesitznahme des Treffpunkts im öffentlichen Raum, wobei jedoch weniger nach aussen hin kommuniziert wird – wie das bei den Territoriumsmarkierungen von politischen Texten der Fall ist – sondern eher auf gruppeninterner Ebene agiert wird, da für eine auf die Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation schlichtweg zu wenig Senderkennungen gezeigt werden. Für eine solche introvertierte (oder gruppenzentrierte) Perspektive spricht auch, dass metareferenzielle Lokalreferenzen in dieser Domäne gänzlich fehlen.432
Auch Scritte im Großformat, die formal ausgearbeiteter sind, liegen meist an Standorten im Stadtgebiet, die strategisch nicht besonders günstig scheinen, um möglichst viele Rezipienten zu erreichen. Ähnlich zu den Hotspots gilt auch für diese vereinzelt auftretenden Scritte, dass sie vermutlich primär vom anvisierten Adressaten rezipiert werden sollen. Eine solche Scritta wird an einem Standort realisiert, der die Rezeption gewährleistet, und, da sich die Teilnehmer (Produzent und Adressat) höchstwahrscheinlich kennen, zielgerichtet ausgewählt werden, wobei der Personenverkehr am Standort sekundär ist. Nichtsdestotrotz sind bei großformatigen Scritte die effektiven Rezipienten von Bedeutung, dabei aber immer funktional auf den Adressaten bezogen, da der Produzent der Botschaft bzw. dem Inhalt der Botschaft durch die Publikation in der Öffentlichkeit zusätzlich Gewicht verschafft und dem Adressaten somit die Wichtigkeit der Nachricht signalisiert. Dies geschieht mit dem Wissen, dass die Öffentlichkeit (also die effektiven Rezipienten) die Referenten gar nicht zuordnen können, da meist nur Vornamen oder Initialen verwendet werden, wie oben gezeigt wurde. Sonderfälle stellen dabei die wenigen Beleidigungen mit Nachnamen dar, bei denen den effektiven Rezipienten und der Standort eine weitaus größere Rolle zukommt, die aber gleichzeitig derart selten sind, dass nicht weiter darauf eingegangen werden muss.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass erstens der Standort auch für diese Domäne einer der zentralsten Teilfunktionen trägt und zweitens primär die direkt anvisierten Adressaten (und weniger die effektiven Rezipienten) als Orientierungspunkt für die Wahl des Erstellungsortes dienen. Typischerweise entstehen so Hotspots, die sich an (mutmaßlichen) Treffpunkten von Jugend- bzw. Peer-Gruppen bilden, oder Einzelscritte treten an Punkten auf, die in erster Linie aus stark individualisierter Perspektive strategisch von Bedeutung sind.
Ultragruppen und politische Gruppierungen unterscheiden sich von den Peer- oder Jugendgruppen, die vermehrt expressive Scritte erstellen, darin, dass Gruppenmitglieder aus dem Bereich POLITIK – etwa die Antifa-Gruppe aus Tufello und jene aus San Lorenzo – nicht zwangsläufig Mitglieder aus anderen Gruppen persönlich kennen, obwohl sie zur gleichen Szene gehören. Gleiches gilt für die Ultraszene. Der Unterschied liegt demnach zwischen den Konzepten ‘Gruppe’ und ‘Szene’, wobei Szenen als Netzwerke von Gruppen beschrieben werden können. Hitzler hält fest:
Gruppierungen werden offensichtlich vor allem dadurch zu einem Teil von Szenen, dass sie sich auf der Basis gemeinsamer Interessenlagen zu anderen Gruppierungen hin öffnen und sich selbst eben nicht nur als Gruppe, sondern (auch) als Teil einer Szene begreifen. Jeder Szenegänger ist in eine oder mehrere Gruppierungen eingebunden, die als solche Teil der Szene sind. Szenen erscheinen zwar, verglichen mit anderen sozialen Gebilden wie etwa Organisationen oder Institutionen, relativ unstrukturiert. Dennoch differenzieren sie sich in vielfältige, miteinander verwobene und nach verschiedenen Kriterien segmentierte Gruppen und Gruppierungen aus.(Hitzler 2010, 20)
Und weiter:
Während sich innerhalb von Gruppen Kommunikation verdichtet, ist diese zwischen den Gruppen vergleichsweise niedrig. Dennoch macht gerade die Kommunikation zwischen den Gruppen die Szene aus. Szenegänger kennen sich nicht mehr notwendig persönlich (wie das innerhalb von Gruppen der Fall ist), sondern erkennen sich an typischen Merkmalen und interagieren in szenespezifischer Weise (unter Verwendung typischer Zeichen, Symbole, Rituale, Embleme, Inhalte, Attribuierungen, Kommentare usw.).(Hitzler 2010, 20)
Der persönliche und regelmäßige Kontakt innerhalb der Gruppe wiederum ist für die Peer-Gruppen fundamental, was sich dann auch in den expressiven Scritte Murali niederschlägt, die in erster Linie gruppeninterne Angelegenheiten verarbeiten, im Gegensatz zu den szenetypischen Texten, deren Inhalte programmatisch stärker gebunden sind und gruppenextern bzw. -übergreifend erkannt werden können und müssen. Beiden (Peer-Gruppen und Szenen) ist gemeinsam, dass lokale Treffpunkte von zentraler Bedeutung sind, da etwa an Szenetreffpunkten nicht nur die Szenenkultur gepflegt und ausgebildet wird, sondern „eben auch das subjektive Zugehörigkeitsgefühl“ gestärkt wird (vgl. Hitzler 2010, 19). Die Szenetreffpunkte „kennt der Szenegänger in der Regel genau, und er weiß auch, wer dort (wann) konkret anzutreffen ist. Über ‚entferntere‘ Szenetreffpunkte bzw. -schwerpunkte weiß er üblicherweise nicht mehr ganz so genau Bescheid, und über einige weiß er nur noch Typisches“ (Hitzler 2010, 20). In Bezug auf die Georeferenz der SM bezogen bedeutet dies nun, dass politische Gruppen (als Teil der extrem-politischen Szene) auf territorialer Ebene agieren und weiter gefasste Gebiete markieren, weshalb Treffpunkte in diesem Sinn weniger deutlich auszumachen sind, sondern eher anhand von besonders ausgearbeiteten Murales zu erkennen sind (man denke an das Astra 19 in Tufello). Ultragruppierungen agieren auf lokaler Ebene begrenzter, d. h. es lassen sich klar Treffpunkte, die sich über bestimmte Straßenzüge oder ganze Plätze erstrecken können. Jugendgruppen erstellen ihre SM noch begrenzter, sprich, sie sind stark lokal fixiert, ohne weiter gefasste Gebiete in Anspruch zu nehmen.
7.3.2.2. Zeit– EXPR
An der Textoberfläche lassen sich v. a. zwei zeitliche Aspekte erkennen, die jedoch nur bei etwa 60 Scritte der Domäne auftauchen und dabei fast ausschließlich innerhalb der positiven Subdomänen. Zum einen treten Altersangaben im Rahmen von Geburtstagsglückwünschen auf (siehe Abb. 252) und – häufiger – werden zum anderen Datumsangaben in den Texten verwendet, oftmals bei Liebesscritte (siehe Abb. 254 und 256) oder bei bindenden Freundschafts- oder Liebestexten (Abb. 255). Ob diese Datumsangaben den Erstellungszeitpunkt der Scritta oder einen besonderen Zeitpunkt in der Lebenswelt der Produzenten und Adressaten angeben, kann hier nicht beantwortet werden und bleibt – wie die Identität der Teilnehmer – verdunkelt, wobei die Angaben vermutlich von zentraler Bedeutung für die involvierten Personen sind.
Wie bei allen Scritte ist der Zeitaspekt aber auch aus anderen Gründen von Bedeutung und in Bezug auf diese Domäne bzw. auf die positiven Subdomänen muss dabei zwischen verschiedenen Perspektiven unterschieden werden. Aus materieller Sicht spielt die Beständigkeitsdauer der Scritte eine Rolle, wobei ich auf das nachfolgende Kapitel verweisen möchte. So bleiben in erster Linie zwei Perspektiven, die hier entscheidend sind: erstens der Zeitpunkt der Erstellung in Hinsicht auf den semantischen Inhalt der Botschaft und zweitens die Rezeptionszeit der Texte. Der Erstellungszeitpunkt ist insofern von zentraler Bedeutung, als die Scritte – und dabei v. a. die Liebes- und Freundschaftsbekundungen – den dann aktuellen Status der intersubjektiven Beziehung beschreiben. Sie bilden sozusagen eine Momentaufnahme der erlebten und kodifizierten Emotionen ab, was jedoch zur Folge hat, dass der Botschaftsgehalt mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Erstellungszeitpunkt abnimmt und zwar unabhängig davon, ob die ausgedrückten Emotionen auch nach längerer Zeit noch ‘gültig’ sind oder nicht. Mit anderen Worten ist eine Liebesbotschaft der Art Alex ti amo 13.01.14 Josselyn (Abb. 256) besonders zum Moment der Erstellung und in den Tagen danach bedeutungsschwer. Selbst wenn die Liebesbeziehung zwischen Alex und Josselyn noch Jahre danach anhält, wird die konkrete Scritta immer weniger außergewöhnlich, ähnlich wie dies bei einer Glückwunschkarte zum Geburtstag oder zur Hochzeit der Fall ist.433 Das gleiche gilt auch für den Fall, dass Alex und Josselyns Beziehung endet. Die Botschaft kann dann eventuell wieder bedeutungsvoller werden (im Sinne eines Rückblickes auf eine Lebenszeit, die dann kontrastiv erscheinen mag), aber der ursprüngliche Text ist (auf semantischer Ebene) nicht mehr gültig. Diese auf den ersten Blick banale Beobachtung ist für die Liebes- und Freundschaftsbotschaften434 hinsichtlich der Funktionalität von zentraler Bedeutung und zwar, weil bei dieser Art von expressiven Texten die Beständigkeit der Botschaft einen hohen Stellenwert einnimmt. Scritte Murali werden in diesem Kontext verwendet, um die Nachricht nachhaltiger und die Zeit überdauernd erscheinen zu lassen, d. h., die Produzenten nutzen diese Kommunikationsform, um der Nachricht symbolisch eine Art monumentalen Charakter zu verleihen. Aufgrund der Komplexität von intersubjektiven Beziehungen435 und der Möglichkeit von sich schnell ändernden Beziehungsstatus v. a. im Jugendalter, wird dieser monumentale Charakter jedoch mit der Zeitzunehmend brüchig.
Eine Besonderheit, die für die domänenspezifischen Hotspots gilt, zeitliche Aspekte der Kommunikationssituation betrifft und Standort sowie Teilnehmer miteinschließt, ist die Kopräsenz der Kommunikationsteilnehmer am Standort. Bei Peer-Gruppen ist „der unmittelbare persönliche Kontakt“ eine grundlegende Charakteristik (Neuland/Schlobinski 2015, 293), d. h., die Gruppenteilnehmer müssen bei der kommunikativen Begegnung präsent sein – zumindest über einen bestimmten Zeitraum – damit die Herstellung und Festigung der Gruppenidentität funktionieren kann, wie Neuland festhält: „Das Funktionieren solcher Handlungsmuster setzt in diesen Fällen eine Kommunikation innerhalb einer Gruppe Jugendlicher voraus, die über eine mehr oder minder lange und intensive gemeinsame Kommunikationsgeschichte verfügt, die teils durch institutionelle Kontexte (Schulklassen, Jugendzentren, Kirchengemeinden), teils durch dörfliche Gemeinschaften gestiftet wurden“ (Neuland 2018, 280). Dies geschieht an den Hotspots, da dort die negativen, wie positiven Texte zur intragruppalen Identitätsstiftung und -stärkung dienen, was jedoch nur gelingt, wenn die Teilnehmer direkt in die Kommunikationssituation eingebunden sind.
Zuletzt ist die Rezeptions- bzw. Lektürezeit zu betrachten. Texte der positiven Subdomänen zeigen sich etwas länger (74 % mit zwei bis acht Token), als die negativen Scritte (81 % mit zwei bis sechs Token), wobei ich oben bereits erwähnt habe, dass die positiven Subdomänen den weitaus größeren Anteil einnehmen. Insgesamt lässt sich für diese Domäne feststellen, dass die Texte im Vergleich zu den Domänen POLITIK und ULTRAS im Durchschnitt etwas länger ausfallen, ohne jedoch eine relative Kürze beizubehalten (nach wie vor sind es bei 64 % zwischen zwei und sechs Token). Gleichzeitig lässt sich im Vergleich eine reduzierte Verwendung von Kürzungsverfahren für die expressive Domäne erkennen: lediglich knapp 7 % der Token wurden gekürzt,436 wobei es sich v. a. um graphematische Kürzungen (etwa x für per oder 6 für sei), Initialen von Eigennamen und Akronyme (v. a. t.v.b. für ti voglio bene) handelt. Kürzungen geben hier also nur geringfügig Hinweise auf den Faktor der Lektürezeit. Die weiterhin tendenziell eher niedrigen Tokenzahlen pro Scritta würden jedoch dafür sprechen, dass die Lektürezeit durch die geringe Anzahl an Zeichen pro Text verkürzt werden soll. Allerdings wurde bereits in der Kategorie der TeilnehmerJAK und zu den georeferenzierten Aspekten gezeigt, dass dies nicht plausibel ist, da die Adressierung von einer hohen Individualisierung geprägt und somit eine verkürzte Rezeptionszeit nicht nötig ist. Die seltene Verwendung von Kürzungen und weitere Aspekte, wie etwa die Inhalte der realisierten bildgraphischen Zeichen (s. u.), aber v. a. die Verwendung von Vornamen und Initialen bei Eigennamen, da diese eine Anonymisierung der Teilnehmer bewirkt. Die Tatsache, dass die Scritte an geringfügig frequentierten Punkten platziert werden und verschwindend wenig Informationen zu den Teilnehmern gegeben werden, sprechen eindeutig dafür, dass die Rezeptionszeit weitaus weniger maßgebend ist, als dies bei den anderen untersuchten Domänen bisher der Fall war. Dass die Scritte trotzdem eher verkürzt auftreten, kann dann nur vermutet werden. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Texte nach relativ festen syntaktischen Mustern gebildet werden, etwa [NPR ti amo/t.v.b. (NPR)] oder in Form von ‘Gleichungen’ ([NPR + NPR x sempre/= ♥]; s. u.). Möglicherweise ist auch der erhöhte Arbeitsaufwand bei längeren Texte dafür verantwortlich, dass die Texte eher kurzgehalten werden, schließlich lässt sich für einen nicht unerheblichen Teil der Scritte (v. a. den kleinformatigen Texten an den Hotspots) eine gewisse Spontaneität bei der Erstellung vermuten. Bei den ausgearbeiteten Scritte in größerem Format (d. h. nicht anhand von Filzstiften, sondern Sprühdosen erstellt) ist dies zwar nicht der Fall, aber diese müssen rezipientenabhängig an bestimmten Standorten erstellt werden, was dann auch voraussetzt, dass genügend Platz vorhanden ist. Letztlich muss es bei dieser Vermutung belassen werden und eine abschließende Antwort kann hier nicht gegeben werden.
7.3.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – EXPR
Neben der letztgenannten Attributsklasse TrägerflächeATTclass sind es die verwendeten Erstellungswerkzeuge, die in der Kategorie KontaktJAK von Belang sind und deren Werte hinsichtlich der kommunikativen Teilhabe untersucht werden müssen. Der bei den oben untersuchten Domänen POLITIK und ULTRAS bedeutende Aspekt der nicht vorhandenen Scritte, muss an dieser Stelle revidiert werden. Auch aus der expressiven Domäne wurden so gut wie keine Texte in den touristischen Zentren erfasst, wobei man durchaus erwarten könnte, dass gerade an solchen Orten Texte mit positiv-emotionalem Inhalt erstellt werden. Dass dem nicht so ist, sei möglicherweise der höheren Überwachung oder der größeren Gefahr von Strafverfolgung geschuldet, wobei wir uns auch an dieser Stelle mit Vermutungen zufriedengeben müssen und auf uns die tatsächlich erfassten Texte eingehen wollen. Die Funde in den Erhebungsgebieten legen nahe, dass die Orte, die in der alltäglichen und gemeinsam erlebten Lebenswelt der Teilnehmer von Bedeutung sind, bei der Standortwahl maßgebend sind und somit auch die Trägerfläche dementsprechend gewählt werden. Die Produzenten wählen die Trägerflächen, die an den in Frage kommenden Standorten in Bezug auf die Adressaten bzw. den Adressaten vorhanden sind, aus und passen je nach Absicht die Wahl der Erstellungswerkzeuge an. Auffällig ist bei den Hotspots, dass sich die Scritte auf einige wenige Trägerflächen am Standort konzentrieren und fast ausschließlich dort erstellt werden. Dabei sind es generell Gebäudefassaden, die beschrieben werden, obwohl auch Treppenstufen, Säulen oder Sitzflächen (etwa an den Metro-Stationen) genutzt werden. Für Liebesscritte, die mit Spraydosen erstellt werden und formal ausgearbeiteter sind (etwa das Josselyn-Beispiel, siehe Abb. 254) , benötigt es etwas mehr Platz und so werden sie meist auf Hauswände oder freistehende Mauern gesetzt. Ein Spezifikum, dass zwar relativ selten auftritt, dafür aber fast ausschließlich für Liebesscritte genutzt wird, ist, dass auf dem Gehweg bzw. dem Straßenbelag die Texte erstellt werden. Dies geschieht in der Regel in großen, klar lesbaren Lettern und geschieht fast immer in der Nähe von Hauseingängen bzw. allgemein Wohnhäusern, wenn sie auf dem Gehweg erstellt werden, oder dergestalt, dass der Text vom Fenster des Wohnhauses aus gelesen werden kann. Es scheint in diesen Fällen, dass die Produzenten darauf abzielen, dass der Adressat auf den Text entweder beim Verlassen des Hauses oder vom Fenster aus aufmerksam wird und/oder diesen auch von weiterer Entfernung problemloslesen kann. Dabei ist nicht ganz unerheblich, dass v. a. Texte, die auf diese Weise auf der Fahrbahn, aber auch anhand von Filzstift oder auf Sitzflächen, erstellt werden durch Witterung und darüberfahrende Fahrzeuge schnell an Lesbarkeit verlieren. Da die Texte v. a. für einen recht begrenzten Zeitraum den größten Kommunikationsgehalt aufweisen (s. o.), ist dies eventuell nicht weiter problematisch.
Zwei Aspekte sind bezüglich der attributiven Werte aus dem Bereich ErstellungswerkzeugATTclass besonders auffällig: erstens wird zwar nach wie vor der Großteil der Texte mithilfe von Spraydosen erstellt, aber der Einsatz von Filzstiften ist in dieser Domäne besonders hoch.437 Dass solche kleinformatigen Scritte, wie eben beschrieben, an Hotspots auf der gleichen Trägerfläche erstellt werden, zeigt deutlich, dass den Produzenten weder an einem besonders großen Rezipientenkreis gelegen sein kann, da mit Filzstift erstellte Scritte aus nächster Nähe gelesen werden und Rezipienten direkt am Standort für eine Zeit verweilen müssen, noch dass versucht wird, die Lektürezeit möglichst kurz zu halten. Zweitens ist anhand der Fotos zu vermuten, dass die Scritte an Hotspots mit den immer gleichen Werkzeugen (d. h. der gleiche Stift, die gleiche Sprühdose usw.) erstellt wurden. Dies und die oben beschriebene Spontaneität der Texte an diesen Hotspots lassen vermuten, dass der Wahl der Werkzeuge generell weniger Beachtung geschenkt wird. Es sollte zwar ein Minimum an Deckkraft des Schreibwerkzeuges vorhanden sein, aber der Grad an Organisiertheit und Planung, wie sie bei den Domänen POLITIK und ULTRAS abzulesen ist, ist hier in den meisten Fällen nicht zu erkennen.
7.3.4. Kode – EXPR
SM fungieren in ihrer Gesamtheit als Kode, wie oben bereits eingehend erläutert wurde, und dies gilt so auch für expressive Scritte. Jedoch muss dieser Aspekt für die expressive Domäne aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, als bei politischen und Ultratexten geschehen. Dort ist das Moment der Kommunikation nach außen bedeutender, d. h., die SM in ihrer bildartigen Gesamtheit dienen der Kommunikation von Territorialansprüchen in Richtung der Öffentlichkeit und der politischen Gegenlager oder der Kontrahenten innerhalb der Ultraszene. In der ULTRAS-Domäne funktionieren SM als Kode außerdem, um Gebiete und Standorte nach innen gerichtet zu markieren und somit ‘heimischer’ zu gestalten. SM aus der Domäne EXPRESSIVITÄT sind auf kodaler Ebene davon abweichend zu verstehen, da die Kommunikation grundlegend nicht auf die Öffentlichkeit ausgerichtet ist, sondern auf wenige oder sogar nur einen Adressaten fokussiert ist. Die Raumprägung durch SM als Kode ist hier demnach marginal, wobei zwischen den expressiven Scritte (negativ wie positiv) an den Hotspots und den vereinzelt gesetzten Liebesscritte unterschieden werden muss. SM in Form von positiven und negativen Texten an den Hotspots sind noch eher als markierend und raumprägend zu betrachten, aber dennoch ist die Art nur sehr begrenzt mit bspw. Ultrascritte zu vergleichen. Zunächst verweisen die SM hier indexikalisch auf die Jugendgruppen, die sich regelmäßig an den Standorten aufhalten, ähnlich wie dies bei den Ultrashochburgen der Fall ist. Die Inhalte und Form der expressiven Scritte spricht jedoch eindeutig dafür, dass es sich nicht um eine Territorialmarkierung nach außen handelt, da nur sehr vage über Initialen oder Vornamen auf die Sender (und damit auf die Personen oder Gruppen, welche Anspruch auf die Inbesitznahme des Ortes) verwiesen wird und die Scritte meist zu klein sind und sich in unmittelbarer Nähe anderer Scritte befinden. Demnach sind SM in diesem Fall als Indices, als Spuren, zu verstehen, die schlicht darauf verweisen, dass es sich um einen Treffpunkt von Jugendlichen handelt. Die Jugendlichen erheben möglicherweise ebenfalls Ansprüche auf diese Standorte, aber erstens lässt sich das so eben nicht an den SM erkennen und zweitens kann nicht von der gleichen Gewaltbereitschaft, wie bei den extrem-politischen Aktivisten und Ultras, ausgegangen werden. Die Produzenten markieren nach innen gerichtet diese Standorte, d. h., es findet eine Art Ausgestaltung der vereinnahmten Orte statt. Die erwähnten Liebesscritte verweisen ebenfalls indexikalisch auf den Produzenten, aber die Verbindung zu den Standorten ist hier andersartig gestaltet, da es hier die Verweildauer der Produzenten (und Adressaten) weniger zentral ist. Die Produzenten markieren und gestalten die Standorten also primär nicht, weil sie sich hier dauerhaft aufhalten (etwa auf der Fahrbahn vor einem Wohnhaus), sondern da die Orte aus verschiedenen Gründen für die Teilnehmer relevant sind, etwa weil der Adressat in unmittelbarer Nähe wohnhaft ist. Da der Botschaftsgehalt mit der Zeit abnimmt, sind diese SM eher als ‘Einzelspuren’ zu verstehen, im Gegensatz zu einer ganzen Ansammlung von Spuren, die über längere Zeit vermehrt und aktualisiert werden, wie im Fall der Hotspots.
Auf Textebene werden verschiedene kodale Elemente als Hilfsmittel innerhalb der Rezeptionsprozesse verwendet, wobei diese Mittel in dieser Domäne von jenen der politischen und Ultras-Domäne kontrastieren. Die Tokenzahl pro Scritta wurde bereits angesprochen und es ist zu sehen, dass die Texte tendenziell etwas länger sind. Wie bereits gezeigt wurde, ist dieses Attribut hier jedoch unbedingt in Bezug auf die konkrete Distribution im Erhebungsgebiet zu betrachten, da v. a. an den Hotspots die Textlänge zunehmend unbedeutend wird. Durch die hohe Anzahl an Scritte (etwa in Abb. 247) auf einer Fläche verschmelzen die Textgrenzen der Einzeltexte miteinander und erst bei genauerer Betrachtung können die Einzeltexte ausgemacht werden. Holistisch werden diese Textsammlungen also als ein Gesamtgebilde wahrgenommen – selbst wenn schnell erkennbar ist, dass es sich um viele Einzeltexte handelt – wodurch die Länge der Einzeltexte und auch die verwendeten Wortarten erstmal unerheblich werden. Selbst bei kurzen Scritte – schließlich sind es nach wie vor Scritte mit drei oder vier Token, welche die höchste Frequenz aufweisen – läuft der Rezeptionsprozess anders ab, als bei den Ultras- oder Politik-Texten, da die semantischen Inhalte, die über die sprachlichen Zeichen kommuniziert werden, zu wenig spezifische Informationen zu den Produzenten geben. Die Kürze der Scritte bei etwa politischen Texten, dient u. a. der Beschleunigung der Wahrnehmungs- und Zuordnungsprozesse und zielt auf die Markierung der Gebiete ab. Die Kürze der expressiven Scritte dagegen lässt sich so nicht begründen, da die Referenten nicht ausreichend gekennzeichnet sind und eine möglichst schnelle Zuordnung der Scritte gar nicht nötig ist. Somit kann eine kurze Scritte wie Neno ti amo oder I N ♥ einer Kategorie ‘Liebe’ oder ‘Zuneigung’ zugeordnet werden, aber es ist letztlich unerheblich, ob dies schnell geschieht oder längere Zeit in Anspruch nimmt. Wichtiger ist, dass die adressierte Person den Text rezipiert und versteht. In diesem Zusammenhang steht auch die Verwendung von Kürzungen in den domänenspezifischen Texten. Wie gesehen, handelt es sich in erster Linie um gekürzte Vornamen und Akronyme (etwa t.v.b.) sowie graphematische Kürzungen (etwa + für e oder x für per). Auch hier kann eine verkürzte Lektürezeit nicht als ausschlaggebender Faktor gesehen werden, da die Anonymität der Produzenten und genannten Adressaten zu hoch ist und durch die Kürzung der Vornamen sogar noch erhöht wird. Bei graphematischen Kürzungen steht möglicherweise ein Parallelismus zur Verwendung von gekürzten Formen in Chats oder Onlineplattformen, etwa bei WhatsApp oder Facebook.
Expressive Texte werden in der Regel auf Italienisch verfasst, gefolgt von Englisch, wobei der Anteil gegenüber der politischen und Ultras-Domäne etwas höher liegt (hier etwa 4 % im Vergleich zu 3 bzw. 2 %). Auffälliger ist die vergleichsweise häufige Verwendung von dialektalen Ausdrücken, etwa bei te für ti oder er für il. Laut Ochs/Schieffelin intensiviert die Verwendung von Dialekten den Ausdruck von emotionalen Zuständen (1989, 14), wobei im Fall der expressiven Texte der Anteil bei negativen Scritte deutlich höher liegt, als bei positiven Scritte. Sicherlich spielt hier nicht nur die Intensivierung der ausgedrückten Emotionen eine wichtige Rolle, sondern besonders die Scritte an den Hotspots sind von der „Hinterbühnensprache“, wie Goffman sie bezeichnet (2011), geprägt. Die Texte an den Wänden sind dabei nur eine Ausdrucksform der inoffiziellen oder informellen Handlungsweisen der Teilnehmer. Innerhalb der Texte sind neben dialektalen Varianten weitere Hinweise auf diese Hinterbühnensprache zu finden und auch das Verhalten und sonstige Kodes der Teilnehmer an den Plätzen, wie sie Goffman in diesem Zusammenhang beschreibt, sind für diese Treffpunkte bestens vorstellbar, etwa „zwanglose Kleidung“, „Rauchen“, „schlampiges Sitzen und Stehen“ oder „Gummikauen“:
In der ganzen westlichen Gesellschaft ist eine inoffizielle, eine Hinterbühnensprache, üblich und eine andere für Gelegenheiten, bei denen man sich darstellt. Die Sprache der Hinterbühne schließt ein die Anrede mit dem Vornamen, gemeinsame Entscheidungen, Vulgarität, offene sexuelle Anspielungen, Nörgeln, Rauchen, zwangslose Kleidung, ‘schlampiges’ Sitzen und Stehen, Verwendung von Dialekt und Umgangssprache, Murmeln und Schreien, spielerische Aggression und ‘Neckereien’, Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen in kleineren, aber potentiell symbolischen Handlungen, geringfügige physische Reaktionen wie Summen, Pfeifen, Gummikauen, Rülpsen und Windlassen. In der Vorderbühnensprache fehlt dies alles.(Goffman 2011, 117-118)
Dass Goffman „spielerische Aggression und ‘Neckereien’“ und „Rücksichtslosigkeit“ sowie „Vulgarität“ und „offene sexuelle Anspielungen“ als Teil der Hinterbühne bezeichnet, spricht klar für die oben angedeutete Annahme, dass auch die Beleidigungen und vulgären Aussagen an den Hotspots tatsächlich nicht im Ernst gemeint sind, sondern im ‘sicheren’ und inoffiziellen Kreis der Jugendgruppen an den Treffpunkten auch gegenüber Freunden geäußert werden und so den Weg auf die Wände finden. Die Trägerflächen der Hotspots werden somit zur Projektionsfläche dieser erlebten Gefühle und Emotionen, wobei die beschriebenen Elemente der Hintergrundbühnensprache zum Vorschein kommen.
Die Typographie der expressiven Texte ist ein wichtiger Hinweis auf die Produzenten- und damit letztlich allgemein auf die Teilnehmergruppe dieser Domäne, da sie indexikalisch in vielen Fällen auf die Jugendszene verweist. Dies gilt ganz besonders für die mit Filzstift erstellten Scritte. Insgesamt ist bei etwa 64 % eine Elaboriertheit erkennbar, wobei jedoch generell Produzenten im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter vermutet werden können. Zusammenfassend lassen sich einige interessante Aspekte beobachten: erstens scheint es, dass in einigen Fällen der oben erwähnte Ultras-Font imitiert wird (siehe etwa die Realisierung einiger Graphen in Abb. 248), was in Bezug auf die verschriftlichen Inhalte eher unpassend wirkt. Möglicherweise zeigt sich hier eine Konditionierung der Jugendlichen durch die weitverbreiteten Texte der Ultraszene, wobei der typische Stil, der anscheinend mit der Praxis der Scritte Murali verbunden wird, auf die expressiven Texte übertragen wird. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass besonders die Filzstift-Texte an den Hotspots aus der Entfernung ein unübersichtliches Gesamtbild ergeben, bei genauerer Ansicht wird jedoch erkennbar, dass viele der Einzeltexte auf mesotypographischer Ebene – also in Bezug auf die Schriftbildgestaltung (vgl. Stöckl 2004, 22-23) – recht geordnet erstellt wurden. So zeigt sich, dass meist auf eine gute Leserlichkeit geachtet wird und die Texte in mehr oder weniger klar abgegrenzten und equilibrierten Blöcken gefasst sind, was auch durch die Verwendung von Filzstiften ermöglicht wird. Tatsächlich lässt sich bei gesprühten Scritte dieser Domäne vergleichsweise oft eine Art Unbeholfenheit mit dem Werkzeug erkennen, d. h., die Produzenten scheinen den Umgang mit Sprühdosen nicht so gewohnt zu sein, wie es die Ultras und politischen Aktivisten sind. Für Liebesscritte die in größerem Format gesprüht wurden und dabei ganz besonders jene, die auf dem Bodenbelag erstellt werden, ist typischerweise eine besonders hohe Lesbarkeit zu erkennen und in diesen Fällen zeigt sich meist, dass augenscheinlich großer Wert auf die ästhetische Funktion (also die Formwirkung) der Typographie gelegt wurde. Generell wirkt die Typographie besonders bei positiven Texten weitaus weicher und harmonischer als bei politischen und Ultratexten, sprich, neben der ästhetischen Funktion wird hier die expressive Funktion der Typographie deutlich (vgl. Spitzmüller 2016, 224).
Die ästhetische Funktion der Typographie bei positiven Texten wird durch die Verwendung von bildgraphischen Zeichen verstärkt. Wie die statistische Auswertung zeigt (siehe DEFAULT), sind 58 % aller bildgraphischen Zeichen der positiven Texte Herzen und somit ein bedeutendes Attribut des Prototypen. Die Herzen werden meist als Dekorationselemente verwendet und sie dienen hier als deutlicher Verweis auf die ausgedrückten Gefühle und Emotionen, ganz anders als dies bei den Symbolen in politischen und Ultratexten der Fall ist, die der Kennzeichnung von Produzentengruppen dienen. Die Heatmap zur Anordnung des Zeichens <<Herz>> im Textbild (siehe Abb. 98) bestätigt die primäre Nutzung als dekoratives Element, da die Zeichen über die gesamte Textfläche verteilt werden.438 In Kombination mit der weicheren Typographie leisten die bildgraphischen Zeichen einen wichtigen Beitrag zur kommunikativen Funktion. Interessanterweise sind jedoch nur verhältnismäßig wenige Ikone zu erkennen, die eigentlich „konnotative Bedeutungen und emotionale Anmutungen ermöglich[en]“ (Stöckl 2016, 14) und somit bestens für diese Domäne geeignet wären. Die niedrige Frequenz ist vermutlich über das (nicht-vorhandene) künstlerische Können der Produzenten zu erklären, da die Anfertigung eines (ausdrucksstarken) Ikons alles andere als einfach ist. Aber auch der Grundcharakter der Hintergrundbühnensprache steht einer solch ‘arbeitsaufwenidgen’ Tätigkeit eher entgegen.
7.3.5. Mitteilung – EXPR – EXPRESSIVITÄT
7.3.5.1. Mitteilung – Information – EXPR
Die Kategorie Information hebt in jeder Hinsicht die hohe Bedeutung der Intersubjektivität innerhalb der Kommunikationssituation hervor, da alle für diese Kategorie relevanten Attribute (Lexik, Wortarten, Eigennamen und n-Gramme) unmissverständlich auf zwischenmenschliche Emotionsverarbeitung verweisen. Einzig im Bereich des negativen Subdomänenverbundes ist diese intersubjektive Ausrichtung weniger explizit, etwa bei dysphemistischen Redewendungen (Flüche, Schimpftiraden oder ähnliches).
Sowohl die semantischen Wortfelder als auch die Frequenzen der einzelnen Lemmata zeichnen ein deutliches Bild der Beschaffenheit der Domäne und bedürfen keiner weiteren Kommentare. 63 % der realisierten Token werden von 113 der insgesamt 648 Lemmata gebildet, wobei der weitaus größere Teil den positiven Subdomänen zuzuordnen sind. Bei positiven Texten tritt das Wort amare auffällig oft auf und nimmt 15 % (!) aller Realisierungen ein.
Lemma
amare
essere
sempre
volere
amore
per
più
solo
avere
vita
stare
Ti Voglio Bene (t.v.b.)
bene
vivere
bello
augurio
troppo
mancare
amico
ciao
occhio
sapere
chiaro
anno
sorriso
tornare
potere
piccolo
stesso
infinito
cuore
vedere
mai
unico
anche
fare
adorare
dare
bastare
tanto
mese
vero
fratello
dire
speciale
patata
gaio
voglia
mezzo
grande
lacrima
pensare
migliore
amicizia
buon
mamma
sogno
sembrare
guida
pensiero
qui
ora
Ti Voglio Troppo Bene (t.v.t.b.)
scusare
lasciare
ancora
mondo
Generell lassen sich die Wortfelder v. a. objektfundierten Emotionen zuordnen, d. h. die Liebe oder Zuneigung gegenüber einer oder mehrerer Person(en) (Objekt) (vgl. Rothenhöfer 2015, 258-259), wobei dies direkt geschehen kann ([Objekt] ti amo, [Objekt] sei il mio amore per sempre, [Objekt] t.v.b.) oder aber implizit, indem bspw. Attribute des Objekts als besonders attraktiv und/oder anziehend beschrieben werden (Darei 1000 lacrime per un tuo sorriso, Sei la più bella e le stelle ti invidiano la tua bellezza). Der Ausdruck der objektfundierten Emotionen (markiert durch die Subdomänen ‘Liebe direkt/bindend/usw.’ und ‘Affektiv direkt/bindend/usw.’) sind besonders dominant und bilden den Prototypen der positiven Subdomänen. Die Lexik ist dabei wie gesagt recht direkt und v. a. das Wortfeld ‘Liebe’ ist hier stark vertreten, etwa durch amare, amore oder t.v.b.. Auch auf anderem Wege wird der Ausdruck der Liebe und Zuneigung ausgedrückt, etwa durch die Verwendung von Kosenamen, Diminutivsuffixe oder Possessivdeterminanten.439 Nach Pustka verläuft dieser Prozess über die „Verkleinerung und Aufwertung des Hörers“ und ist der „aktiven Höflichkeit“ zuzuordnen (2015, 111-113). Im Korpus ist z. B. der Ausdruck sei mio/mia frequent, es treten Verkleinerungsformen auf (sorellina, fratellino, gemellina, Fabietto, Lauretta) und auch Kosenamen werden verwendet, welche den Adressaten auf sprachlicher Ebene verkleinern und dadurch die Zuneigung auszudrücken (amorino, biscotto, patata/patatina, provolino, bambolina).
Es lassen sich aber auch ereignis- und handlungsfundierte Emotionen erkennen, wie sie bei Rothenhöfer zusammengefasst sind (2015, 258-259). Etwa wird Freude und/oder Dankbarkeit für gemeinsam verbrachte Zeit ausgedrückt (ereignisfundierte Emotionen) oder – dann eher im Kontext von Liebeskummer – der Schreiber bezieht sich auf augenscheinlich vorgefallene Handlungen in der Vergangenheit und bittet um Verzeihung. Dennoch ist auch hier immer eine deutliche Grundausrichtung auf Personen zu erkennen, weshalb die Lexik grundlegend aus dieser intersubjektiven Perspektive interpretiert werden muss.
Die Lexik der negativen Emotionscritte ist zwar in Bezug auf die Frequenzen weniger deutlich (amare nimmt bei den positiven Texten 15 % ein, cazzo bei den negativen Texten dagegen nur 4 %), die verarbeiteten Emotionen lassen sich jedoch ähnlich direkt an den Wortfeldern ablesen, wie dies bei den positiven Subdomänen der Fall ist. Zunächst ist eine große Gruppe an dysphemistischen Begriffen vertreten, die im Kontext von objekt- bzw. personenbezogenen Emotionen verwendet werden: cazzo, merda, infame, stronzo, boia, troia, gay, frocio, coglione, cane, porco usw. Parallel zur Verkleinerung und Aufwertung des Hörers (eigentlich Adressaten; s. o.) geschehen die Beleidigungen hier v. a. nach dem Prinzip der aktiven Unhöflichkeit und der „Verkleinerung und Abwertung des Hörers“ (Pustka 2015, 113-116). Die Beleidigungen orientieren sich dabei an einer ontologischen Hierarchie, die – ähnlich zu den Konzeptmetaphern bei Lakoff und Johnson (2014) – „Elemente des Universums in eine Werteordnung“ bringt, mit ‘Gott’ bzw. ‘Übermenschliches’ an höchster Stelle (also hochwertig), gefolgt von ‘Mensch’, ‘Tier’, ‘Pflanze’, ‘Gegenstand’ und schließlich ‘Nichts’ an unterster Stelle (und somit geringwertig) (Pustka 2015, 114).440 Die starke Prägung durch diese Hierarchie wird hier deutlich, da, um Abzuwerten, auf Einheiten zurückgegriffen wird, die entweder auf dieser Skala niedrig angesetzt sind, z. B. Tiere (cane, porco)441 oder ‘Gegenstände’ bzw. dazugehörig ‘Exkremente’ (stronzo, merda), oder aber innerhalb der Kategorien als geringwertig erachtet werden. Es wird z. B. eine sexistische Werteordnung und die Diskriminierung von Homosexuellen (Homophobie) innerhalb des Elements ‘Mensch’ erkennbar, die sich in der Abwertung über Einheiten wie frocio, checca, gay, puttana, zoccola oder troia manifestiert, oder es werden Körperteile des Menschen beleidigend verwendet (cazzo, coglione, fregna). Eine weitere lexikalische Gruppe wird von menschlichen Attributen gebildet, die den Personen Intelligenz oder Attraktivität absprechen und ebenfalls in der genannten Hierarchie verortet werden können, wie bspw. stupido, scemo, brutto oder schifo. Obszönitäten und Vulgaritäten sind ebenfalls zu finden (bocchino, succhiare, scopare, franz. baiser oder eng. fuck), wobei diese Lexeme dazu verwendet werden, um Personen zu Sexualobjekten abzuwerten (Cristina me te scoperei), auf diskriminierende Weise Personen als Homosexuelle darzustellen (Alan fa i bokkini) oder Teil von direkten Beleidigungen sind (fuck you).
Generell zeigt sich die Lexik der negativen Expressivitätstexte als die oben beschriebene Hintergrundbühnensprache, wie sie Goffman beschreibt (2011), und aus dieser Perspektive müssen auch die Beleidigungen gelesen werden, ganz besonders an den Hotspots. Dort sind die Beleidigungen nicht ernst gemeint, sondern – wie Gauger es mit Blick auf die deutsche Sprache unter männlichen Kommunikationsteilnehmer ausdrückt –
[e]s geht um das Schimpfen, das Fluchen, das Beleidigen, das Herabsetzen, das Drohen, das Imponieren, das Äußern von Unwillen, das Verstärken des Ausdrucks, um Kraftworte und Kraftwörter, um das Signalisieren von starker emotionaler Beteiligung oder auch um den ungewollten, quasi unvermeidbaren Ausdruck solcher Beteiligung, aber dann auch wieder, auf der anderen Seite und weniger speziell <männlich>, um das gemütliche, das unsteife, lockere, das ungezwungene und gerade auch deshalb deutliche Sprechen.(Gauger 2012, 51)
Das Frotzeln oder Banter kann somit dazu dienen, „die Nähebeziehung zum Hörer (vor anderen) herauszustellen und zu festigen“ (Technau 2018, 221), wie auch Leech feststellt:
[B]anter (or mock impoliteness) is probably one of the main discriminators of camaraderie. The rationale behind this is that if two or more people find it possible to exchange insults and other impolite remarks, and at the same time to treat these as nonserious, or even amusing, they share a powerful way of signaling their solidarity.(Leech 2014, 239)
Auf Eigennamen bin ich bereits im Kapitel TeilnehmernJAK eingegangen und möchte an dieser Stelle lediglich einen Aspekt hervorheben. Ob Beleidigungen als soziale Koordinationsmittel innerhalb von emotionsverarbeitenden Prozessen besonders von männlichen Jugendlichen verwendet werden, lässt sich an den SM nur schwer ablesen, allein schon aufgrund der Tatsache, dass Sender bei negativen Texten nur wenig explizit genannt sind und somit das Geschlecht unbekannt bleibt. Vergleicht man die Texte an einem der Hotspots miteinander – etwa die Wand an der Via Angiolo Cabrini – so liegt die Vermutung zwar nahe, dass es sich bei Passagen der Art Alex gay oder Riccardo checca di merda eher um männliche Jugendliche handelt, aber abschließend kann diese Frage nicht beantwortet werden. An bestimmten Hotspots tauchen bestimmte Vornamen in verschiedenen Texten auf, z. B. Veronica, Stefano, Riccardo oder Emiliano an der Via Angiolo Cabrini oder Martina, Chiara, Ortensio oder Roberta an der Via Pian di Sco. Dabei lassen sich intertextuell Vollformen von Kürzungen ableiten (etwa V + S stehen für Veronica und Stefano oder M und C für Martina und Chiara) und schließlich auch das Geschlecht. Tendenziell lässt sich dann auch ableiten, dass es sich bei negativen Texten eher um männliche Produzenten handeln muss.
Für die Betrachtung der Wortarten und der Mehrwortkombinationen bietet es sich ebenfalls an, zwischen negativen und positiven Subdomänen zu differenzieren. Es ergeben sich hier nicht nur signifikante Unterschiede zu den beiden Subdomänengruppen (positiv und negativ), sondern bestimmte, auffällig frequente Mehrwortkombinationen sind prototypisch für einzelne Subdomänen. Kein 2-Gramm im gesamten Korpus tritt derart häufig auf, wie die Kombination [ti amare] ([CLI VER:fin]) und dies fast ausschließlich in der 1. Person Singular ([ti amo]).442 Innerhalb des positiven Subdomänenverbundes nimmt die Kombination [ti amare] sogar 60 % aller konkret realisierten Verbindungen ein und ist für die Subdomäne ‘Liebe direkt’ äußerst dominant. Die Tokenfolge – die meist nur durch Vornamen, Initialen und eventuell bildgraphischen Zeichen (Herzen) erweitert wird – bedarf keiner weiteren Erklärungen, da hier die empfundene Emotion direkt im Verb kodifiziert ist und ausgedrückt wird. Weitere Ausformungen von [CLI VER:fin] der positiven Subdomänen sind mal mehr, mal weniger direkt in Bezug auf die verarbeiteten Emotionen, etwa bei [ti volere] oder [ti adorare], wobei die Sonderform mit der Kürzung t.v.b. für ti voglio bene (auch t.v.t.b. für ti voglio tanto/troppo bene) in Verbindung mit einem Eigennamen ebenso direkt wie [ti amo] ist, jedoch eine andere Art der Emotion ausdrückt. Bei 3-Grammen zeigen sich v. a. zwei Kombinationen auffällig: erstens handelt es sich um links- oder rechtsseitige Erweiterungen des 2-Grammes [CLI VER:fin] und zweitens zeigen sich bereits die prototypischen Namensverbindungen der Subdomäne ‘Affektiv bindend’. Erstgenannte Erweiterungen sind demnach die bereits erwähnten Zusätze von Eigennamen zur Kombination [ti amare], wie z. B. [NPR CLI VER:fin] ([Alessia ti amo]) oder [CLI VER:fin NPR] ([ti amo Alessia]). Ähnlich zeigen sich die Varianten [NOUN CLI VER:fin], bei der an Stelle eines Eigennamens ein Kosewort ([biscotto ti amo]) verwendet wird oder die 4-Wortkombination [NOUN DET:poss CLI VER:fin] in der Ausformung [amore mio ti amo], die tatsächlich das frequenteste 4-Gramm (ungesammelt) darstellt. Die besonders zentrale Bedeutung der Konstruktion [CLI VER:fin] wird hier also evident. Die zweite Auffälligkeit der 3-Gramme sind die Namensverbindungen, die eine positiv-affektive Zuneigung seitens der Produzenten zu den geschriebenen Referenten ausdrücken soll, wobei stark davon ausgegangen werden kann, dass diese Zuneigung auch von den genannten Adressaten so empfunden wird. Diese Namensverbindungen der Art [NPR CON NPR], meist in der konkreten Form [Eigenname + Eigenname], führt sich bei den 4-Grammen fort. Offensichtlich taucht diese Wortkombination in den ungesammelten (also konkreten Realisierungen der 3- und 4-Gramme) Listen nicht mit hohen Frequenzen auf, da die Eigennamen variieren. Die häufigste 4-Wortkombination ist [NPR NPR NPR NPR] und stellt eine weitere Variante dieser Namensverbindungen dar, wobei bedacht werden muss, dass es sich um eine einzelne Scritta handelt, die über 50 Personennamen zeigt, welche in Verbindung mit einer ikonischen Abbildung im Großformat erstellt wurde. ‘Bindende’ Texte und die Scritte der Subdomäne ‘Liebe direkt’ sind in den Mehrwortkombinationen also besonders deutlich abzulesen.
Die Frequenzwerte der Mehrwortkombinationen innerhalb der negativen Subdomänen sind bei weitem nicht so deutlich, und die Emotionen lassen sich nicht so direkt ablesen, wie dies bei den positiven Scritte der Fall ist, wenn auch die Hintergrundbühnensprache problemlos an den Konstruktionen erkennbar wird. Wie ich bereits erwähnt habe, müssen die häufigen Beleidigungen innerhalb der Domänen POLITIK und v. a. ULTRAS ebenfalls als expressive Scritte berücksichtigt werden, da dort der Ausdruck von Ablehnung und Abwertung gegenüber bestimmten Personen und -gruppen von großer Bedeutung ist. Die dort prototypischen Konstruktionen für dysphemistische Abwertungen sind auch in den negativen Expressivitätscritte zu finden, wenn auch nicht so häufig, wie man hätte vermuten können. Die Kombination [NPR NOUN] ist frequent, steht jedoch an zweiter Stelle hinter [ART NOUN] und die Frequenz ist im Vergleich zur Ultras-Domäne alles andere als hervorstechend. Eine weitere Parallele zu den Ultratexten ist der Einsatz von Satzzeichen, der sich auch in den (gesammelten) 2-Grammen an dritter Stelle zeigt ([NOUN SENT]). Da die Werte nicht so auffällig sind, wie dies bei positiven Texten der Fall ist, ergibt erst ein Blick auf die 3- und 4-Gramme und die konkreten Realisierungen ein deutlicheres Panorama, wie die Konstruktionen hier funktionieren. Ausrufezeichen sind wie bei den Konstruktionen der Ultrastexte als expressive Intensivierer zu verstehen, die sowohl die Aussagekraft der übermittelten Emotion verstärken als auch das Schreien auf graphischer Ebene imitiert (vgl. Pustka 2015, 101 und 105), wobei sie hier aber weniger fest (d. h. frequent) in Konstruktionen eingebunden sind. Sie müssen somit eher isoliert als intensivierendes Graphiemittel verstanden werden. Es zeigen sich neben den bereits bekannten Konstruktionen [NPR NOUN] und [NOUN ADJ] – z. B. in den Realisierungen [ATAC merda] oder [guardia infame] – v. a. frequente Verbindungen, die idiomatische Wortverbindungen darstellen, etwa [ADJ NOUN], [(NPR) (NOUN) PRE NOUN], [(CON) DET:demo NOUN] oder [VER:fin PRE VER:fin ART NOUN]. Die erstgenannte Konstruktion ist dabei die häufigste und stellt einen Fluch dar: [porco dio].443 Die zweitgenannte Konstruktion [PRE NOUN] drückt sich in der Realisierung [di merda] (seltener als [del cazzo] mit ähnlicher semantischer Bedeutung) aus und zieht oftmals Nomen vor sich, etwa uomo (di merda), pezzo (di merda) oder sogar an sich beleidigendes Nomen wie checcha (di merda). Die Intensität der Beleidigung kann dadurch verstärkt oder abgeschwächt werden. Die beiden letztgenannten Konstruktionen schließlich sind expressive Ausdrücke, die v. a. im Dialekt Roms verbreitet sind, was die Expressivität zusätzlich unterstreicht (s. o.). Die Konstruktionen sind konkret realisiert als [(e) questo cazzo] bzw. [(e) ‘sti cazzi] und [stare a cacare il cazzo] bzw. [sta’/stai a caca’ er cazzo], wobei es sich im ersten Fall eher um ein Koordinationsmittel im Rahmen einer ereignis- oder handlungsfundierten als eine objektfundierten Emotionsbewertung handelt.
Die verarbeiteten Emotionen werden also auch bei diesen Konstruktionen deutlich, bleiben in ihrer Direktheit und Unmittelbarkeit hinter den viel frequenteren Kombinationen der positiven Subdomänen zurück. Klar ist, dass die Konstruktionen und Wortkombinationen in beiden Subdomänengruppen der „sozio-emotionale[n] Koordination von Intersubjektivität“ dienen (Langlotz 2015, 279). Die Kombinationen der positiven Texte sind dabei auf die Bildung und Erhaltung sozialer Strukturen und Beziehungen über den Ausdruck der empfundenen Emotionen spezialisiert und präsentieren sich teils stark verfestigt. Die gezeigten Konstruktionen der negativen Scritte drücken „unterschiedliche Grade der Verachtung oder Abneigung gegenüber dem angesprochenen Referenten“ aus, „wohl aufgrund der Verletzung von Erwartungen und sozialen und moralischen Normen, welche mit den Handlungen oder Eigenschaften des/der Referenten nicht übereinstimmen“ (Langlotz 2015, 279). Aufgrund der georeferenziellen und weiteren, bisher beschriebenen Faktoren, kann der Ausdruck dieser produzentenseitigen Ablehnungshaltung gegenüber einer Person nicht der einzige kommunikative Zweck sein. Abhängig vom Standort – man bedenke die Hotspots – ist auch bei den Beleidigungen die sozio-emotionale Koordination zwischenmenschlicher Strukturen als zentraler Zweck zu erkennen. Eine klare Trennung zwischen gruppeninterner Gemeinschaftskonstitution und gruppenexterner Abgrenzung gegenüber der (Erwachsenen-) Gesellschaft oder anderen Gruppen kann dabei für negative Texte nicht immer erkannt werden, wie Neuland zusammenfasst:
Während die Scherzkommunikation […], z. B. Blödeln und Frotzeln, vor allem gruppenintern verwendet wird und zur Stärkung der Gruppenidentität beiträgt, spielen Formen der Abgrenzungskommunikation, z. B. Hetzen und Dissen, gruppenextern eine wichtige Rolle. Identifikatorische und abgrenzende Interaktionen lassen sich allerdings nicht trennscharf voneinander unterscheiden; vielmehr greifen sie in Prozessen der sozialen Distinktion stets ineinander.(Neuland 2018, 283)
Diesbezüglich sind die Texte der DIVERSES-Domäne, die an den Hotspots zu finden sind, ebenfalls von zentraler Bedeutung und müssen hier mitberücksichtigt werden (siehe DEFAULT).
7.3.5.2. Mitteilung – Nachricht – EXPR
Abschließend steht nun auch für dieses Genre EXPRESSIVITÄT die Frage, welche Funktionen sich auf Basis der Funde für die Scritte Murali ableiten lassen. Dazu ist zunächst grundlegend festzuhalten, dass hier nicht Gefühle oder Emotionen444, sondern lediglich der schrift-sprachliche Ausdruck dieser komplexen Syndromkategorien untersucht wird, wenngleich – wie wir gleich sehen werden – die Wahl dieser spezifischen Kommunikationsform (quasi auf praxeologischer Ebene) bereits Ausdruck von Gefühlen oder Emotionen sein kann. Der Ausdruck der erlebten (oder gefühlten) Emotionen als kommunikativer Akt geschieht dabei nur in bestimmten Fällen auf solch direkte Weise, wie es bei den ti amo-Scritte der Fall ist, und es ist anzunehmen, dass es den Produzenten oftmals nicht leicht fällt, die konkret erlebten Emotionen in Worte zu fassen,445 was letztlich dazu führt, dass Emotionen nur schwer fass- und messbar sind (vgl. Langlotz 2015, 266). Generell wird also über die Sprachzeichen und bis zu einem bestimmten Grad auch über die Praxis der SM an sich indexikalisch auf die Emotionen verwiesen. Die expressiven Scritte sind komplexe Koordinationsmittel, im Sinne der coordination devices innerhalb von joint activities bei Clark (1996, 59-91), die in erster Linie Jugendlichen und jungen Erwachsenen dazu dienen, soziale Strukturen und intersubjektive Beziehungsdynamiken herzustellen, zu stabilisieren und auszuhandeln. Eine Teilbedeutung kommt hierbei der Katharsis als Antriebsfaktor zu und zwar nicht nur etwa dem Fluchen oder Schimpfen (etwa porco dio! oder vaffanculo!), sondern schon das Schreiben (auf Wände) an sich kann als kathartische Handlung verstanden werden, da es sich dabei ebenfalls um einen Tabubruch handelt, wenn auch nicht auf sprachlicher Ebene (vgl. Pustka 2015, 25-26 und 107). Die Wahl der Kommunikationsform Scritte Murali scheint generell von zentraler Bedeutung zu sein, da hier der informationelle und denotative Gehalt der SM wenig abwechslungsreich erscheint, wodurch der Spezifität der Praxis eine größere Bedeutung zukommt.446 Der scheinbar geringe (bzw. bei Liebesscritte höchst rekurrente) Informationsgehalt der Scritte soll dabei jedoch den expressiven Texten keinesfalls ihre Wichtigkeit absprechen. Wie Blommaert und Varis in ihrem Aufsatz The importance of unimportant language (2015) treffend beschreiben, ist bereits die Handlung des Schreibens an sich äußerst bedeutungsvoll, wie die Autoren u. a. am Beispiel von unzähligen Briefen, die während des Ersten Weltkrieges verschickt wurden und in Bezug auf den Inhalt ‘wenig zu bieten hatten’, darstellen:
The banality of the letters did not prevent their authors and addressees from attaching extraordinary importance to them—the sheer fact of writing, or better, of sending something, was enough to comfort and reassure people worried to the extreme about each other’s wellbeing. The simple act of communication itself was tremendously meaningful.(Blommaert/Varis 2015, 4-5)
Ähnliches gilt für die SM, da auch hier nicht selten banale und/oder bedeutungslose Inhalte übermittelt werden – ich möchte an dieser Stelle explizit auf das nächste Kapitel und die Domäne DIVERSES verweisen. „Conviviality stands for low-intensity social engagement, seemingly superficial but critical for, in fact, importantly assuring social cohesion, community belonging and social comfort” (Blommaert/Varis 2015, 8). Diese in der conviviality ausgelebte, scheinbare Oberflächlichkeit, die den Texten zugeschrieben könnte, ist demnach ein wichtiges Mittel, um sich in Sozialstrukturen zu positionieren und orientieren. Dies gilt ganz besonders für expressive Scritte, die, wie gezeigt wurde, besonders objekt- bzw. personenfundierte Emotionen verarbeiten, v. a. was die positiven Scritte betrifft, und somit die Intersubjektivität und sozialen Beziehungen fokussieren. Für einen nicht unerheblichen Teil bestimmter ULTRAS- und POLITIK-Scritte lassen sich vergleichsweise eher ereignisfundierte (etwa bei den Lulic ’71 Textpassagen) oder handlungsfundierte (bspw. bei den Israele assassino Scritte) Emotionsverarbeitung als treibende Faktoren erkennen.447
Für eine Bestimmung der Funktionalitäten der expressiven Scritte, muss der Faktor der Standorte und die Distribution der Texte im Gebiet berücksichtigt werden. Hierbei muss zwischen den oben beschriebenen ‘Hotspots’ und den vereinzelt auftretenden Texten differenziert und gesonderte, prototypische Funktionen beschrieben werden.
Wie man sehen konnte, sind die Texte an den Hotspots stark von der Hintergrundbühnensprache, wie sie bei Goffman (2011) beschrieben wird, geprägt. Neben den frequenten Liebes- und Zuneigungsscritte erscheinen auch provokative, beleidigende oder neckende Textpassagen, Flüche und bindende Namensblöcke auf den Trägerflächen. Die Texte sind einerseits von einer hohen Anonymität Richtung Öffentlichkeit geprägt, was u. a. an der Verwendung von Vornamen und Initialen erkennbar wird, und andererseits werden Adressaten direkt und häufig markiert. An den Hotspots fungieren die Scritte in erster Linie als oben genannte Koordinationsmittel, um gruppenintern soziale Beziehungen auszuhandeln, zu dirigieren und (gemeinsam) erlebte Emotionen zu verarbeiten. Die Texte der verschiedensten Prägungen sind dabei an eine begrenzte Zahl von Adressaten gerichtet, die sich höchstwahrscheinlich ebenfalls regelmäßig an den Standorten aufhalten und in die sozialen Beziehungsgeflechte der Produzenten eingebunden sind. Die Strukturen können in unterschiedlichen Dimensionen durch die Texte beeinflusst werden, etwa der Zusammenhalt mehrerer Personen untereinander (z. B. durch bindende Freundschaftstexte), das Verhältnis zwischen zwei Personen (bspw. Neckereien, sexuelle Anspielungen oder der Ausdruck von Zuneigung gegenüber einer konkret genannten Person) oder die individuelle Selbstverortung in der Peer-Gruppe (z. B. Flüche als Tabubruch mit der Intention bestimmte Reaktionen bei den Gruppenmitgliedern zu provozieren). Wie Clark zusammenfasst, verfolgen Teilnehmer bei joint activities meist mehrere Ziele gleichzeitig, etwa zwischenmenschliche Ziele, „such as maintaining contact with the other participants, impressing them, being polite, maintaining self-respect“ oder persönliche Interessen, „such as deceiving the others, getting rid of them, or working the situation for personal advantage” (1996, 34). Die Textproduzenten können über die oben beschriebenen Praktiken Adressaten direkt ansprechen und ihre Ziele publik machen (d. h. publik innerhalb der Gruppe), sich aber gleichzeitig hinter einem recht hohen Grad an Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit verbergen. Neben dem Ausdruck der empfundenen Emotionen und der Koordination der intersubjektiven Strukturen, funktionieren die SM auch als Markierungen der Standorte bzw. Treffpunkte der Gruppen (also des Nahbereiches der Teilnehmer). Jedoch ist die Markierung deutlich von den territorialen Markierungen durch politische und Ultrasscritte zu unterscheiden, die über spezifische Inhalte auf recht dominante und martialische Weise um bestimmte Gebiete konkurrieren. Expressive Scritte markieren erstens nicht so weite Gebiete wie politische Scritte oder auch Ultrasscritte, sondern verweisen indexikalisch auf die (regelmässige) Präsenz von (Jugend-) Gruppen an stark begrenzten Plätzen (den Hotspots), wobei die Texte auf einigen wenigen Trägerflächen meist im Kleinformat anhand von Filzstiften erstellt werden. Die Organisiertheit und v. a. die Senderkennung durch die Gruppe, wie sie bei politischen Gruppen und in der Ultraszene fundamental ist, ist hier nicht zu erkennen. Es handelt sich bei den Markierungen also in erster Linie um eine Markierung im Sinne von spurenartigen, gesamthaften Textsammlungen, die auf Gruppen schließen lassen, wobei die Inhalte nur implizit auf Jugendgruppen, nicht aber auf spezifische Gruppen, verweisen.
Die vereinzelt auftretenden Texte, teilen zwar grundlegende Funktionsaspekte, wie sie oben beschrieben sind, heben sich jedoch deutlich von den eben beschriebenen Hotspot-Scritte ab. Hier muss ausserdem zwischen positiven und negativen Texten unterschieden werden, die sich nicht nur formal unterscheiden, sondern auch auf funktionaler Ebene Differenzen zeigen. Die Intersubjektivität der positiven Texte sind stark individualisiert und meist wird direkt auf die empfundenen Emotionen hingedeutet (ti amo). Die praxeologische Ebene, d. h. die bewusste Wahl der SM als Kommunikationsmittel, wird dadurch hervorgehoben, da durch die gesprühten und in ihrer Form deutlichen Scritte ein monumentartiges Verewigen in der Öffentlichkeit der momentan erlebten oder empfundenen Emotion(en) stattfindet. Natürlich gilt dieses publik gezeigte ‘Verewigen’ von affektiven Botschaften auch für die Hotspot-Texte, aber das Verewigen ist dabei flüchtiger, geschieht ad-hoc und die Öffentlichkeit spielt eine weniger wichtige Bedeutung. Die Einzeltexte werden an strategisch gewählten Punkten platziert, die vermutlich besonders für Produzent und Adressat von großer persönlicher Bedeutung sind. Letztlich handelt es sich auch hier um eine Form von Ortsmarkierung, die jedoch weder mit den territorialen Markierungen der politischen Akteure, noch den indexikalischen Spuren der Jugendgruppen gleichzusetzen sind, sondern eher eine momentane Inbesitznahme eines geographischen Standortes für einen begrenzenten Zeitraum darstellt.
Negative Einzeltexte ähneln den positiven Einzeltexten in ihrer Funktion nur dann, wenn es sich um direkt adressierte Beleidigungen handelt, die jedoch nur selten vorkommen. (Häufiger sind solche Beleidigungen an den Hotspots zu finden.) Die Flüche und Obszönitäten, die meist in völliger Anonymität geschehen, dienen demnach der Katharsis und sind stark Ich-bezogen. Es handelt sich dabei also um eine Art ‘Hinausschreien’ der negativen Emotionen und Gefühle in der Öffentlichkeit unter dem Schutz der Anonymität, wobei möglicherweise das unerlaubte Beschriften von fremdem Eigentum bewusst gewählt wird und als Beiprodukt der negativ erlebten Emotionen zu sehen ist.
7.4. Funktionalität der DIVERSES-Scritte
Die viertgrößte Domäne des Korpus ist in etwa so groß wie die expressive Domäne und wird durch Texte gebildet, die entweder auf Frames verweisen, die recht vage sind – etwa Stasera cinquino!, oder aber schlichtweg zu selten auftreten, um in einer eigenen Gruppe analysiert zu werden, wie z. B. reine Gruß-Texte (Ciao Ozzy!). Außerdem sind hier Scritte gesammelt, die in gewisser Weise in einer Subkultur verhaftet sind, wobei es sich meist um antiautoritäre Texte (v. a. gegen die Polizeikräfte gerichtet, prototypisch wäre hier das Akronym ACAB) handelt oder auf kriminelle oder illegale Handlungen verwiesen wird, etwa Drogenkonsum oder ähnliches. Diese Prämisse erschwert grundsätzlich die Interpretation der Funktionen dieser Textkategorie, wodurch der Aspekt der Prototypikalität umso bedeutender und maßgebender erscheint. Die nachfolgende Interpretation der Funktionalitäten muss also, mehr noch als bei den anderen Domänen geschehen, auf prototypische Werte gestützt werden, wobei gegebenenfalls qualitative Einzeltextanalysen dienlich sein können. Besonders gewinnbringend ist hier der Aspekt der unscharfen Grenzen, der auf ein Viertel aller DIVERSES-Scritte zutrifft und diese v. a. mit expressiven und politischen Texten in Verbindung bringt. Wichtige Aspekte der Funktionsinterpretation vorwegnehmend, möchte ich bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich viele der domänenspezifischen Texte an den eben beschriebenen Hotspots der expressiven Scritte befinden und sich generell für große Teile der SM deutliche Parallelen zu expressiven Scritte erkennen lassen, mit dem Unterschied, dass der Ausdruck der Emotionen nicht der primäre Kommunikationszweck zu sein scheint. Vielmehr müssen viele der Texte als Teil der oben erwähnten Hintergrundbühnensprache bei Goffman (2011) verstanden werden, d. h. das ‘unbezwungene’ Kommunizieren und – auf informationeller Ebene – scheinbar ‘leere’ Gerede. Auch die Texte der Subdomäne SUBKULTUR gehören zu einem gewissen Grad zu diesen ‘inoffiziellen’ Kommunikaten, wenngleich sie in einigen Bereichen eher musterhaft in ihrer Form erscheinen. Neben dem Standort liegt ein weiterer Hinweis auf die enge Verbindung zur expressiven Domäne in den verwendeten Erstellungswerkzeugen und den Trägerflächen, die oftmals deutliche Anzeichen geben, dass es sich um die gleichen Teilnehmer bzw. Produzenten wie bei den expressiven Texten handelt. Bei der Betrachtung der einzelnen Kommunikationsfaktoren ergeben sich also Analogien zur expressiven (und auch politischen) Domäne oder die Interpretationen sind mit diesen möglicherweise deckungsgleich, wobei ich dann lediglich auf die entsprechenden Genres verweisen werde. Insgesamt wird die Analyse demnach vergleichsweise kürzer ausfallen, auch weil eine qualitative Analyse von Einzeltexten hier nur in Ausnahmefällen Platz findet und ich Interpretationen, die zu sehr auf Spekulationen beruhen, möglichst vermeiden möchte, was aufgrund des Wesens der Texte jedoch oftmals geschehen würde.
7.4.1. Kommunikationsteilnehmer – DIV
7.4.1.1. Produzenten – DIV
Die eben beschriebenen Grundbedingungen der DIVERSES-Scritte gelten bereits für die Kategorie der KommunikationsteilnehmerJAK und es lassen sich die in Kapitel erläuterten Beobachtungen zur Teilnehmerkonstellation auf diese Domäne übertragen. Betrachtet man die Korpusdaten der Domäne, so zeigt sich, dass nur etwas mehr als 50 (von insg. über 300) Verben auf morpho-syntaktischer Ebene auf die 1. Person verweisen, mit einem leicht höheren Anteil der Verbformen im Singular. Entscheidend ist hier, dass lediglich in einem Fall ein Hinweis auf die Autorenschaft des Textes (in Form eines Eigennamens) auftaucht und somit in dieser Hinsicht keine Informationen zu den Produzenten abzuleiten sind. Gleiches gilt für Possessivdeterminanten und Klitika, die vergleichsweise selten auftreten, und auch die Inhalte der bildgraphischen Zeichen geben nur in den seltensten Fällen Hinweise auf die Produzenten,448 wobei es sich dann meist um politische Gruppen handelt und die Texte dann mehreren Domänen zugeordnet wurden. Eigennamen werden zwar häufig verwendet (die zweitgrößte Wortartgruppe nach den Nomen), allerdings handelt es sich dabei jedoch entweder um generische Bezeichnungen (etwa von Polizeikräften, wie guardia oder cops) oder um Vornamen sowie Initialen, was meistens der Fall ist. Wie man bei den expressiven Texten sehen konnte, erlauben Vornamen jedoch keine ausreichende Referenz auf die Teilnehmer. Hinzu kommt, dass die Vornamen fast ausschließlich als Markierung von Adressaten Verwendung finden und nicht auf die Produzenten verweisen.
Insgesamt gestaltet sich die Produzentenkonstellation ähnlich zu den negativen Subdomänen der expressiven Texte, sprich, es liegt hier eine starke Anonymität vor. Tendenziell scheinen die Texte eher individualisiert zu sein, wobei dies – wie bei den expressiven Texten – nicht abschließend geklärt werden kann, da viele Scritte sowohl individualisiert als auch aus einer Gruppendynamik heraus erstellt worden sein können. So kann etwa die Scritta ACAB die Haltung einer Einzelperson kommunizieren und der Produzent dies auch so beabsichtigen. Gleichzeitig kann die Scritta auch aus einer Gruppenhaltung heraus entstanden sein, erst recht, wenn sich die Scritta an einem Hotspot (s. o.) befindet oder der Produzent mit der Ultra- oder extrempolitischen Szene in Verbindung steht, welche bekannterweise diese ablehnende Haltung gegenüber den Polizeikräften teilen.
Zentraler Deutungsschlüssel ist erneut der Standort der Texte (s. u.). Finden sich die DIVERSES-Texte an den Hotspots der expressiven Scritte, können sie (die Scritte der Domäne DIVERSES) als Teil der gruppenkonstituierenden Sprachhandlungen verstanden werden, wie dies für die expressiven Texte der Fall ist. Somit handelt es sich bei einem Teil der Texte vermutlich um jugendliche Produzenten, die Teil der Peer-Gruppen an den Hotspots sind und für die Öffentlichkeit zu großen Teilen anonym bleiben. Generell ist es schwierig Produzenten hinter den Texten der Subdomäne ‘Subkultur’ zu beschreiben, da prinzipiell jede Person mehr oder weniger fest in solche subkulturellen Strukturen eingebunden sein kann. Vergleicht man die Scritte der verschiedenen Domänen miteinander und berücksichtigt dabei die Standorte von bspw. politischen oder Ultrascritte, so liegt die Vermutung nahe, dass zumindest ein Teil der Produzenten der Subkultur-Texte auch in der politischen oder Ultraszene aktiv sind.
7.4.1.2. Rezipienten
Die Rezipientenkonstellation weist ebenfalls Ähnlichkeiten zur expressiven Domäne auf bzw. ist mit dieser deckungsgleich, wenn sie an den Hotspots zu finden sind. Die Texte visieren dann auf gruppeninterne Ebene Teilnehmer an, deren Kopräsenz als Voraussetzung gilt bzw. die mit den Produzenten ein Mindestmaß an Kommunikationsgeschichte teilen müssen. Bei diesen Texten ist ein deutlicher Hinweis auf die gruppenfokussierte Kommunikationskonstellation, dass die Inhalte und Textpassagen teilweise nur gruppenintern verstanden werden können und für Außenstehende nur geringfügig Sinn ergeben. Dies liegt daran, dass sich bei (Peer-)Gruppen aufgrund der gemeinsam erlebten Ereignisse, der geteilten Interessen und Wertevorstellungen sowie den gruppenintern üblichen Handlungsweisen nicht selten gruppenspezifische Sprachstile entwickeln. Der in die „sprachliche[n] Handlungskontexte“ eingebundene Wortschatz (wie auch Phrasen, Kose- oder Rufname usw.) ist dann meist nur in bestimmten Kontexten und v. a. von den Mitgliedern dieser Peer-Gruppen zu verstehen (vgl. Neuland/Schlobinski 2015, 294), etwa bei Textpassagen der Art Kagi daje! oder Sono un folle nella notte. Selbst wenn keine Rezipienten direkt an der Textoberfläche genannt werden, gilt in diesen Fällen, dass die Gruppenmitglieder als Adressaten intendiert sind. Neben dem Standort sind dabei die materiell-medialen Eigenschaften (verwendete Erstellungswerkzeuge und Trägerflächen) ausschlaggebend, die oftmals mit jenen der expressiven Texte übereinstimmen.
Die Korpuswerte liefern in Bezug auf Verbendungen und/oder Determinanten wenig Hinweise: weder treten Verben in der 2. Person (Singular oder Plural) auf und auch Possessivdeterminanten mit Referenz auf die 2. Person sind eher rar. Auch die verwendeten Eigennamen geben kaum Auskunft zu den Rezipienten, da auch hier hauptsächlich Vornamen genannt werden oder generisch auf Personengruppen (la guardia, DIGOS) verweisen. Zusätzlich wird nicht selten über Personen geschrieben (Liboni eroe, Giggi tocca la roba e non lo dice a nessuno) anstatt diese anzusprechen oder die gesamte Scritta besteht lediglich aus einem Namen (Romina, Alessio). Hierin unterscheidet sich die Domäne deutlich von der expressiven Gruppe, in der v. a. positive Emotionsverarbeitung direkt auf Personen bezogen wird (s. o.). Bei Scritte, die keine (zumindest szeneintern) bekannte Persönlichkeit nennt, wie z. B. Liboni (s. u.), gilt dann wieder, dass, abhängig vom Standort, die genannte, aber nicht direkt angesprochene, Person vermutlich Teil einer Gruppe ist und somit auf gruppeninterner Ebene angesprochen wird.
Bei vereinzelt auftretenden Scritte ist es weitaus schwieriger einen Rezipientenkreis zu bestimmen, wobei materielle Aspekte nützliche Hinweise geben können. Gesprühte und/oder eher ausgearbeitete Scritte (etwa Abb. 273) adressieren vermutlich die Öffentlichkeit und sind meist der Subdomäne SUBKULTUR zugehörig, mit einem großen Anteil von ACAB-Texten (s. u.). Da die Inhalte eher von effektiven Rezipienten verstanden und auch rezipiert werden können, da sie sich an geeigneten Standorten befinden, und weniger kryptisch sind, scheinen die Produzenten ihre Botschaft an die Öffentlichkeit zu richten. Je kryptischer die Inhalte, je kleiner das gewählte Format (also v. a. anhand von Filzstift erstellte Texte) und je isolierter Scritte auftreten, desto unwahrscheinlicher ist die Öffentlichkeit als Adressat zu bestimmen. Es kann in diesen Fällen nur über die intendierten Adressaten spekuliert werden, etwa dass es sich um Ad-Hoc-Texte handelt, die von Jugendgruppen an eher zufällig besuchten Plätzen erstellt haben, dass der Standort für einzelne Adressaten (und Produzenten) von Bedeutung ist,449 dass sich die Produzenten aus einem künstlerischen Schaffen heraus bewusst kryptisch an die Öffentlichkeit wenden oder dass es sich um kathartische Texte handelt, die auf besonders kryptische Weise mentale Zustände verschriftlichen.
7.4.2. Kontext (Ort, Zeit) – DIV
7.4.2.1. Ort – DIV
Der Standort ist für diese Domäne, die Textinhalte verschiedenster Ausprägung sammelt, von maßgebender Bedeutung, wobei auch materiell-formale Aspekte mitberücksichtigt werden müssen. Zwei Hauptperspektiven bieten sich bei der Interpretation der georeferenziellen Hinweise an: erstens die Suche nach Standorten mit einer hohen Zahl von Scritte, d. h. den oben genannten Hotspots, und zweitens die Betrachtung der isoliert auftretenden Texte.
IK 34: Standorte der Domäne DIVERSES – Vollbildanzeige
Vergleicht man die Karten mit den markierten Standorten der expressiven SM mit jenen der DIVERSES-Scritte, so zeigt sich, dass sich die Hotspots beider Domänen in vielen Fällen decken, etwa in Serpentara (Abb. 247 und Abb. 275), Val Melaina (Abb. 276 und Abb. 277), an der Conca D’Oro (Abb. 278 und Abb. 279), in San Lorenzo (Abb. 280 und Abb. 281) oder in Prati (Abb. 282 und Abb. 283). Auffällig ist hierbei, dass sich bei der Verteilung der Subdomänen an diesen Standorten Unterschiede erkennen lassen. An den Hotspots der Via Angiolo Cabrini und an der Via Cabrio Casati z. B. sind es einmal 14 Texte der Subdomäne SUBKULTUR, an der Via Angiolo Cabrini dagegen lediglich zwei (Abb. 284). Dies liegt möglicherweise daran, dass die jeweiligen Jugendgruppen an den Standorten unterschiedliche Interessen und Wertebilder vertreten und sich dies auch in den Texten niederschlägt.
Hotspots der expressiven Scritte | Hotspots der DIVERSES-Scritte |
Es zeigt sich ausserdem für die Domäne DIVERSES, dass eigene – d. h. bei der expressiven Domäne so bisher nicht erkennbar – Hotspots bestehen, wenn auch in vergleichsweise kleinerem Ausmaß. So etwa an der Treppe der Via Tremiti im Süden Tufellos. Es sind dort neben einigen Totenscritte (die man auch zur expressiven Domäne rechnen könnte) zahlreiche Texte der Subdomäne SUBKULTUR zu finden. Die Inhalte, die sich v. a. auf kriminelle Machenschaften und die Abwesenheit eines (vermutlich verstorbenen) Freundes beziehen, lassen auf eine völlig andere Gruppenkonstellation schließen, als dies bei den Hotspots der expressiven Domäne der Fall ist. Die Gewaltbereitschaft (Chi fa la spia deve morire subito) und Glorifizierung von Kriminalität mit einer klaren Abneigung gegenüber der Polizei (Onore ai ladri, morte a le guardie) ist in dieser Form an den oben erwähnten Hotspots nicht zu lesen.
Bei den vereinzelt auftretenden DIVERSES-Scritte lässt sich kein deutliches Muster erkennen. Ausgearbeitete Texte erscheinen an Standorten, die eine höhere Frequenz von Passanten gewährt, wobei es sich dann entweder um kampagnenartige Aufrufe in Bezug auf die Drogenpolitik (bzw. den Drogenkonsum; Abb. 271) oder ACAB-Scritte handelt. Diese meist Subkultur-bezogenen Texte setzen jedoch ein Mindestmaß an thematischem Wissen voraus, was bereits bei dem Akronym ACAB nicht unbedingt bei allen Rezipienten gegeben ist. Den Polizeikräften und anderen Personen, die mit einer diese Meinung vertretenden Subkultur oder Szene in Verbindung stehen, ist der Begriff auf jeden Fall verständlich, was letztlich zur Annahme führt, dass dann diese beiden Personengruppen als Adressaten anvisiert werden.
Wie in Kapitel beschrieben, kann zwischen (Peer-)Gruppen und Szenen, als Netzwerke solcher Gruppen, unterschieden werden. Die Gruppen produzieren an den Hotspots expressive Scritte und, da sie auf sprachlicher Ebene v. a. Gruppeninterna behandeln, eben auch solche Scritte, die hier als in der Subdomäne DIVERSES gesammelt wurden. Texte, die auf subkulturelle Hintergründe schließen lassen, wie etwa ACAB-Texte, können auch aus dieser Perspektive interpretiert werden, da Szenen sich zu Netzwerken verbinden und so Milieus und schließlich Subkulturen bilden (vgl. Neuland/Schlobinski 2015, 295). Die Textinhalte nehmen dann in ihrer Gruppenspezifität ab, d. h., sie werden für die Öffentlichkeit bzw. Szene-, Milieu- oder Subkulturmitglieder verständlich, wobei szene- oder subkulturtypische Praktiken, Lexik, Symbole usw. konstitutiv sind, und der Aktionsradius in gleichem Maße ansteigt (vgl. Neuland 2018 und Hitzler 2010). Peer-Gruppen produzieren also eher an lokal fixierten Treffpunkten, Szenen und Subkulturen dagegen hinterlassen ihre Spuren über weitaus größere Gebiete.
7.4.2.2. Zeit – DIV
Hinsichtlich der zeitlichen Aspekte der Domäne gelten die Bedingungen, wie sie bereits für die anderen Domänen, die bisher behandelt wurden, festgestellt wurden. Es muss nach den georeferenziellen Faktoren und der Teilnehmerkonstellation sowie den formalen Eigenschaften differenziert werden, wodurch sich folgende, typische Raster ergeben. Auf textinterner Ebene sind zeitliche Aspekte (etwa das Nennen von Jahrestagen usw.) von verschwindend geringer Bedeutung und gerade einmal 0.49 % der POS werden durch Datumsangaben gebildet, weshalb ich nicht weiter darauf eingehen werde.
Bei den Hotspot-Scritte der juvenilen Gruppen, spielt die Rezeptionszeit eine recht geringe Rolle. Wie bereits bei der expressiven Domäne festgestellt, dienen verkürzte Scritte, Namenskürzungen oder sonstige verdichtende Verfahren (Verwendung von Symbolen usw.) hier nicht dazu, um die rezipientenseitige Lektürezeit der Texte zu verringern, da die Adressaten selber Gruppenmitglieder der Lokalität sind und ihre (physische) Präsenz über längere Zeiträume vorausgesetzt wird (s. o.). Wie Schmidt/Deppermann für jugendliche Unterhaltungskultur festgestellt haben, sind die Redebeiträge unter den Jugendlichen „kurz und knapp“ und zeigen eine reduzierte Syntax, wenn sie aus Sicht der Jugendlichen unterhaltsam sein sollen (2001, 37). Verkürzende Verfahren in Textpassagen, die szenetypisch sind oder in den Bereich von Subkulturen fallen und an den Hotspots zu finden sind, sind eher über Inferenzen mit den szenetypischen Sprachpraktiken zu erklären, da innerhalb der Gruppennetzwerke von Szenen und Subkulturen Symbole und verdichtende Zeichen wichtig für das schnelle Wiedererkennen sind. Auf zeitlicher Ebene ist hier also v. a. die Kopräsenz der Gruppenmitglieder relevant.
Bei isoliert auftretenden Scritte muss wiederum unterschieden werden, ob es sich um Texte der Subdomäne SUBKULTUR handelt oder nicht. Subkultur-Scritte treten aus oben genannten Gründen in verkürzter Form auf, wobei nicht zwangsläufig die Rezeptionszeit ausschlaggebend ist, da bestimmte Inhalte (etwa bei ACAB) davon ausgegangen werden muss, dass lediglich Szeneanhänger vom Zeichen auf den Inhalt schließen können. Da diese Scritte jedoch über weitläufige Gebiete verstreut sind (wahrscheinlich über die ganze Stadt und sogar städteübergreifend, abhängig von der Subkultur oder Szene) und die Produzenten nicht von einer längeren Präsenz der Rezipienten ausgehen können, bieten sich verdichtende Formen an. Je mehr subkulturtypische Texte in Richtung Öffentlichkeit kommunizieren, wie z. B. bei den Legalize it-Texten im Quartiere Africano (Abb. 285 und Abb. 286), die eine Legalisierung von Cannabis propagieren, desto eher werden auf Techniken zurückgegriffen, welche die Rezeptionszeit verkürzt, wie dies für politische Texte beschrieben wurde. Es werden dabei eher kürzere Texte, Graphen in größerem Format und auch verdichtende Zeichen (etwa Ikone oder Ideogramme) eingesetzt. Ein weiterer Teil der isolierten Texte umfasst relativ viele Token (bis zu 100), wodurch die Lektürezeit stark erhöht wird. Es handelt sich dabei entweder um stark künstlerisch konnotierte Texte, die dann meist an geeignete Stellen platziert werden (etwa an der Station Termini), oder Einzeltexte, die scheinbar ad-hoc von den Produzenten erstellt werden und aufgrund ihrer äußeren Form nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Ersteller möglichst viele Rezipienten erreichen wollen. Eventuell ist hier aus zeitlicher Perspektive entscheidender, dass sich der Produzent zu einem bestimmten Zeitpunkt, mehr oder minder zufällig an diesem Standort für längere Zeit aufgehalten hat und diesen Zeitraum spontan für die Erstellung der Scritta genutzt hat. Da auch diese Texte nicht besonders häufig auftreten und deshalb auch nicht typisch sind, möchte ich es bei dieser Vermutung belassen.
7.4.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – DIV
Die Werte der Trägerflächen korrelieren mit den bisherigen Beobachtungen. Ein deutlicher Unterschied zur EXPRESSIVITÄT-Domäne lässt sich in Bezug auf die Wahl des Bodenbelags als Trägerfläche ausmachen, der in dieser Domäne kaum eine Rolle spielt.450 Für die DIVERSES-Texte an den Hotspots gelten die in Kapitel beschriebenen Bedingungen, wobei sowohl Trägerflächen wie auch Erstellungswerkzeuge eine der Hauptindikatoren dafür sind, dass es sich bei den Texten der DIVERSES- und EXPRESSIVITÄT-Domänen an den Hotspots um dieselben Produzenten (oder allgemein Teilnehmer) handeln muss, d. h., die Texte beider Domänen wurden auf der selben Trägerfläche mithilfe derselben Werkzeuge erstellt.
Bei vereinzelt auftretenden Texten muss dann wieder differenziert werden, wobei die Textlänge ein geeignetes Unterscheidungskriterium darstellt. Besonders kurze Texte – und dabei v. a. die ACAB-Scritte – können auf fast jeden beliebigen Träger erstellt werden, so z. B. auch auf Straßenschildern oder Sicherungskästen. Nichtsdestotrotz wurden die meisten Scritte auf freistehenden Wänden/Mauern oder an Hauswänden erstellt. Entscheidend ist hier die Verteilung im Stadtgebiet, wobei für kurze Scritte scheinbar jedwede Fläche als geeignet erachtet wurde. Dies gilt auch für etwas längere Texte, für die zwar eine ausreichend große Trägerfläche benötigt wird, aber nachdem weder eine strategische Platzierung im Sinne von territorialen Markierungen, wie dies bei politischen und teilweise ULTRAS-Texten der Fall ist, und auch oft mit Filzstiften operiert wird, gestaltet sich die Wahl der Flächen durch die Produzenten einfacher, als dies bei anderen Domänen der Fall ist. Einzig die besonders langen und großformatigen Texte, deren Inhalte an ein öffentliches Publikum adressiert sind, benötigen nicht nur Trägerflächen in geeigneten Maßen, sondern die Träger müssen zusätzlich an geeigneten Standorten zu finden sein. Es handelt sich in diesen Fällen v. a. um Scritte der Künstlern Melina Riccio und Luigi Ambrosetti Cardascia.
Der Anteil von Texten, die mit (Filz-) Stiften erstellt wurden, ist mit 34 % in dieser Domäne ähnlich hoch, wie in der EXPRESSIVITÄT-Domäne. Bei der Subdomäne DIVERSES steht die Verwendung von Stiften mit 42 % sogar noch knapp vor der Spraydose. Dies liegt an der hohen Frequenz von Texten an den Hotspots und hat nachhaltige Folgen für die zeitlichen Aspekte und die Benennung von Rezipientenkreisen, wie bereits für die expressiven Texte festgehalten wurde (siehe DEFAULT). Der höhere Anteil von Stencils, Wandfarbe und mithilfe von Pinseln erstellten Texten ist durch die oben erwähnten SM von Künstlern erklärbar, die besonders viele Token umfassen.
7.4.4. Kode – DIV
An den Hotspots gelten hinsichtlich der SM als Kode die für die expressiven Texte beschriebenen Beobachtungen (siehe DEFAULT). Die isoliert und im Erhebungsgebiet disparater auftretenden Texte der Subdomäne SUBKULTUR nähern sich diesbezüglich (SM als Kode) dagegen den politischen und Ultratexten an, mit dem Unterschied, dass es sich nicht um politische Gruppen oder Ultravereinigungen handelt, sondern diese SM als symbolische Zeichen mit hohem Wiedererkennungswert innerhalb bestimmter Subkulturen oder sogar subkulturübergreifend zu verstehen sind. Besonders bei den ACAB-Schriften, die in verschiedensten Szenen und Subkulturen, wie der Ultra-, Antifa- aber auch neofaschistischen Szene, verbreitet sind, wird die Botschaft der Ablehnung und Abwertung von Polizeikräften auch dadurch verstärkt, dass es sich bei den SM i. d. R. um illegal erstellte Bilder handelt.
Auf textinterner Ebene sind in erster Linie die Attribute SpracheATTclass und die Verwendung von dialektalen VariantenATTclass, KürzungsverfahrenATTclass, FarbwahlATTclass und typographische EigenschaftenATTclass zu beachten – die Tokenzahl pro ScrittaATTclass wurde bereits angesprochen und ist für diese Domäne von geringerer Bedeutung. Hinsichtlich der Sprachwahl fällt auf, dass das Englische mit 16 % einen weitaus größeren Anteil einnimmt, als dies bei den anderen Domänen der Fall ist. Italienisch ist mit 79 % Anteil zwar weiterhin die priorisierte Sprache, fällt aber erstmals unter 90 %. Der hohe Anteil des Englischen – andere Sprachen sind kaum von Bedeutung – ist in erster Linie auf zwei Faktoren zurückzuführen: erstens kommt es im Rahmen von Gruppenbezeichnungen (bspw. Cocaboyz, Serpentara Boys oder GDB Crew) oder bei der Konstruktion [fuck Eigenname/Nomen] (z. B. fuck the system oder fuck authority) zur Verwendung von englischen Wörtern und zweitens schlägt sich v. a. die hochfrequente Nutzung des Akronyms ACAB (all cops are bastards) in der Statistik nieder. Zusätzlich treten Texte oder Textpassagen mit englischen Wörtern auf, wobei die Sprachwahl zunächst nicht erklärt werden kann, etwa bei Never do the spia!, Only Peroni oder Archimede old school. Bei etwas mehr als der Hälfte der Scritte handelt es sich um Texte der Subdomäne SUBKULTUR und neben der Einheit ACAB verweisen auch andere Lexeme auf Subkulturen, die länderübergreifend verbreitet sind und die Verwendung von englischer Sprache rechtfertigt, wie z. B. die kampagnenartige Verbreitung des legalize it-Spruches zur Legalisierung von Marihuana. Der Anteil von dialektalen Varianten in dieser Domäne ist im Vergleich zu anderen Domänen besonders hoch, was primär auf den starken Einsatz der Hintergrundbühnensprache (vgl. Goffman 2011), wie sie oben beschrieben wurde (siehe DEFAULT), zurückzuführen ist.
Der Einsatz von Kürzungsverfahren in dieser Domäne zeigt sich einerseits heterogener verglichen mit den bisher analysierten Domänen, wie dies für eine solche ‘Mischdomäne’ erwartbar ist, d. h., der zweithäufigste Kürzungstyp liegt nicht ganz so weit von den erstplatzierten Akronymen entfernt. Andererseits sind die konkreten Kürzungsvarianten in den Frequenzen wieder recht deutlich (siehe DEFAULT), wobei das Akronym ACAB mit 45 % Anteil klar dominant ist und in den verschiedensten Ausformungen realisiert wird. So finden sich neben der ‘klassischen’ Schreibweisen A.C.A.B. oder ACAB auch die Varianten AKAB, acab, ACAB. oder die ebenfalls frequente Zuordnung von Zahlen an den korrespondierenden Buchstaben des Alphabets, also 1312, 1.3.1.2. oder sogar als I. III. I. II.. Wie oben bereits angesprochen wurde, wird über diese Kürzungsverfahren nicht auf eine verkürzte Lesezeit abgezielt, sondern das Akronym, das mittlerweile in weiten Teilen der Welt als Erkennungszeichen bestimmter Subkulturen bekannt ist (vgl. Guerra 2013e), erscheint hier als symbolhafte Einheit mit einem hohen Wiedererkennungswert. Das Akronym verdichtet auf einfache Weise eine im Laufe der Zeit gewachsene Semantik, die sich mittlerweile nicht mehr nur auf die Abwertung der Polizeikräfte beschränkt und von jeder Szene verwendet, die sich in irgendeiner Weise mit Obrigkeiten im Konflikt sieht, wie Guerra zusammenfasst:
Esso infatti si configura sempre più per la sua crescente estensione semantica che mira ad una manifestazione di disprezzo non più soltanto nei confronti delle forze dell’ordine, ma anche del sistema politico e sociale a guardia del quale sono percepite le forza di polizia. Dunque una estensione semantica che connota ACAB come espressione antisistema dai connotati sociali e politici estesi ma coerenti con quelli originari.(Guerra 2013e)
Das Akronym findet sowohl bei den politischen als auch bei den Ultra-Texten Verwendung und interessanterweise ist im gesamten Korpus kein Beleg über eine Modifizierung des Akronyms zu finden, was darauf zurückzuführen ist, dass ein genereller Konsens zwischen den verschiedenen Teilnehmergruppen über die im Akronym transportierte Botschaft besteht.
Auf den ersten Blick scheint es fraglich, bei einer solch heterogenen Domäne Rückschlüsse aus den statistischen Werten zur Farbwahl zu ziehen und für den Großteil der Texte würde dies auf reine Spekulation beruhen. Im Verbund mit weiteren Faktoren und dabei v. a. den Standorten der Texte, lassen sich dennoch verschiedene Aspekte beobachten. Wie generell bei den SM beobachtbar wird nach wie vor meist auf ausreichenden Kontrast zwischen Untergrund und Zeichenfarbe geachtet, auch wenn für diese Domäne häufiger erkennbar ist, dass dies nicht immer der Fall ist. Insgesamt entsteht nicht selten der Eindruck, dass die Farbwahl, wie auch die Wahl des Erstellungswerkzeuges, im Vorfeld weitaus weniger durchdacht wird, als dies bei politischen und Ultratexten Usus ist. Wie bereits bei expressiven Scritte an den Hotspots beobachtet werden konnte, scheinen sich die Produzenten oftmals mit Werkzeugen und somit schließlich auch Farben zufrieden zu geben, die kurzfristig und ohne größeren Aufwand verfügbar sind. Dafür spricht auch die Ausführung der Scritte, die zwar nicht selten eine Intention zur Elaboriertheit der Typographie vermuten lässt, gleichzeitig aber etwas unbeholfen wirkt, was die Handhabung der Sprühdosen betrifft. Ein noch stärkeres Argument für die ad-hoc-Wahl der Werkzeuge und Farben ist die häufige Verwendung von Filzstiften bei isolierten Scritte, da diese für Rezeption und Lektürezeit besonders kontraproduktiv scheinen. Erstmalig sinken die Werte für schwarze Farbe unter 60 %, gefolgt von weißer (20 %) und roter (12 %) Farbe. Diese vergleichsweise hohen Frequenzen lassen sich u. a. durch die Standorte der Texte erklären, da an bestimmten Hotspots v. a. weiße Farbe verwendet wurde und dort eine besonders hohe Zahl an DIVERSES-Scritte zu finden sind. Ähnliches gilt für rote Farbe, die besonders an einem Standort mit über 13 Texten verwendet wurde. Augenscheinlich wird an diesen Hotspots ein und das selbe Werkzeug für die Scritte verwendet und in bestimmten Fällen liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einige wenige Produzenten handelt, welche die Scritte erstellt haben, worauf die typographischen Eigenschaften hindeuten.
Damit ist bereits das Attribut TypographieATTclass angesprochen, wobei die insgesamt 70 % der elaborierten oder ornamentierten Token darauf hinweisen, dass produzentenseitig scheinbar versucht wird, die Typographie bewusst zu wählen. Neben den Stencils, die eine der besten Möglichkeiten bieten, die Graphen besonders auszuarbeiten, sind es v. a. die von Künstlern erstellten Texte, die offensichtlich eine elaborierte Typographie erkennen lassen und aufgrund der hohen Tokenzahl auch in den Statistiken erkennbar werden. Für diese Domäne auffällig ist außerdem, dass vermehrt Einflüsse der Graffitiszene bei der Realisierung der Graphen mit einfließen, etwa bei der Only Peroni-Scritta oder den Beispielen in Abb. 294 und Abb. 295. Auch Texte, die eine eher poetisch-philosophische Atmosphäre kreieren suchen, werden nicht selten in ‘passendem’ Schriftstil verfasst, wohl um den Inhalt zu potenzieren. Insgesamt lässt sich für diese, wie auch die expressive Domäne, eine weichere und v. a. weniger konventionalisierte Typographie feststellen, als dies für die Domänen POLITIK und ULTRAS gilt. Die Wirkkraft beim Verweis auf Sender oder Inhalte, wie sie etwa beim Fascio-Font oder den über ein weites Gebiet verteilten politischen Scritte besonders ausgeprägt ist, nimmt hier stark ab. Die Typographie wird wohl an die Inhalte angepasst, aber im Vergleich ist der Abgleich mit anderen Attributen wichtiger und der Bezug zu bestimmten Bereichen (z. B. den Produzenten) geschieht langsamer.
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Das letzte Attribut mit kodaler Relevanz ist die Verwendung von bildgraphischen Zeichen. Bei etwa einem Viertel aller domänenspezifischen Texte werden solche Zeichen verwendet, wobei das Herz mit knapp 35 % mit Abstand der frequenteste Inhalt ist. Ikone nehmen ebenfalls einen nicht zu übersehenden Anteil der Zeichentypen ein, wobei die Inhalte die unterschiedlichsten Bereiche umfassen. So werden nehmen Körperteilen auch Gesichter von berühmten Persönlichkeiten, Fahrräder, Pflanzen, Tiere oder Baguettes dargestellt. Wenn überhaupt ließen sich die Inhalte, die auf subkulturelle Bereiche (etwa brennende Joints) gruppieren. Die Heatmaps in Bezug auf die Anordnung im Sichtbild zeigt bei den Herzen ähnliche Werte, wie dies bei den expressiven Texten der Fall war, d. h., die Herzen werden in erster Linie aus dekorativen Zwecken verwendet und sind daher über das gesamte Bild verteilt. Ikone dagegen stehen meist zentral im Bild und werden durch schriftsprachliche Zeichen ergänzt (siehe DEFAULT).
7.4.5. Mitteilung – DIV
7.4.5.1. Information – DIV
Die in den Texten erscheinenden Lexeme (und teilweise bildgraphischen Zeichen) sind die Ankerpunkte (i. S. v. Frame-Identifier) zur Kategorisierung der Scritte (siehe DEFAULT). Folglich ist die Domäne – wie bereits die Bezeichnung DIVERSES vorwegnimmt – auf lexikaler Ebene besonders breitgefächert. Die fast 790 Lemmata spiegeln die hohe Vielfalt wider, wovon ca. 130 Lemmata 51 % der Realisierungen bilden, was zusätzlich von der (im Vergleich) geringeren Fixierung auf einen Kernwortschatz zeugt. Es lassen sich demzufolge auch wenige klar begrenzte Wortfelder finden, wobei dies am ehesten für die Subdomäne SUBKULTUR der Fall ist. Ein Blick auf die Frequenzen der häufigsten Verben zeigt, dass sich ein Wortfeld für den Bereich SUBKULTUR ausmachen lässt, auch dank der relativen Häufigkeit des Akronyms ACAB mit 5 %. Zu diesem Bereich können außerdem Einheiten wie droga, guardia, spia oder sbirro gerechnet werden. Im Vergleich zu den anderen Domänen sind die Frequenzen jedoch derart gering, dass keine der Wortfelder dominieren, sondern die semantischen Bereiche tatsächlich ‘divers’ sind. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass eine erhöhte Zahl an Kopulaverben auftreten, die eine Zuordnung zu einem greifbaren semantischen Frame nicht erlauben, wie z. B. bei essere (4 %) und eng. be (1 %), fare, dare, stare, volere, vivere usw..
Hinsichtlich der Eigennamen, die in dieser Domäne erscheinen, lassen sich mindestens drei Gruppen ausmachen. Erstens erscheinen Personenbezeichnungen in Form von (teilweise gekürzten) Vornamen (Alessio, Stefano usw.) oder seltener Nachnamen (Liboni, Schumacher) sowie Pseudonymen (Inoni, Partizan). Zweitens treten Gruppenbezeichnungen auf, wie z. B. Poeti del Trullo, ISIS oder (Clan di) Casamonica und drittens finden sich Lokalreferenzen, z. B. Roma, Serpentara, Pigneto, San Lorenzo oder Tufello. Auf die Verwendung der Personennamen und hier v. a. der Vornamen möchte ich nicht weiter eingehen, sondern auf das entsprechende Kapitel verweisen. Bei der Nennung von Nachnamen ist besonders die Referenz auf Luciano Liboni interessant, da dieser Name vergleichsweise oft auftritt (insgesamt liegt er an vierter Stelle der häufigsten Eigennamen) und sich generell an die Funktion der Personenbezeichnungen, wie sie für die Domänen POLITIK und ULTRAS (etwa Paolo Di Nella oder Gabriele) beschrieben wurden, annähert. Es handelt sich bei Luciano Liboni um einen Kriminellen, der durch seine jahrelange Flucht italienweit Bekanntheit erlangte. Liboni, der bereits seit seiner Jugendzeit als Kleinkrimineller auffiel und aufgrund seiner Persönlichkeit und seinen Verstecken in der Wildnis Il Lupo oder Cinghiale genannt wurde, wird 2004 schließlich auf aufsehenerregende Weise in der Nähe des Circo Massimo in Rom von Polizeikräfte erschossen, wobei er sich bis zum letzten Moment seines Lebens vehement wehrte. Während seiner Flucht schoss er immer wieder auf Carabinieri und Polizisten, was u. a. zum Tod eines Carabienieri führte (vgl. WikipediaLiboni). Auffällig ist bei den SM, dass Libonis Name meist nach dem Muster der politischen und Ultrascritte glorifiziert wird, etwa bei Liboni eroe oder Liboni sindaco, aber auch auf eher sarkastische Weise in Vota Liboni. Libonis Name steht demnach synonym für seine extrem gewalttätige Lebensweise, die sich ganz besonders gegenüber den Polizeikräften entlud, und kann daher als Teil einer subkultureller Strömung begriffen werden.
Die eher selten auftretenden Gruppenbezeichnungen stammen aus den verschiedensten Bereichen. Neben politischen Gruppen (NO TAV, Brigate Rosse) und Ultra-nahen Gruppierungen (VAPU – Violenza al pubblico ufficiale, Gente de Borgata), die Hinweise auf die unscharfen Grenzen zu den entsprechenden Domänen geben, verweisen die meist in Akronymen gesetzten Namen im Rahmen von Subkultur-bezogenen Texten auf Obrigkeiten (DIGOS), kriminelle Vereinigungen, wie z. B. den stadtbekannten Mafia-Clan Casamonica, oder Jugendbanden bzw. -gruppen, deren mutmaßliche Selbstbezeichnungen den Anschein erwecken, dass sie in Anlehnung an die amerikanischen Gangs entstanden sind, bspw. Cocaina Boyz oder Serpentara Boys.
Letztgenannte Gruppe verweist in ihrem Namen metareferenziell auf den Standort der Scritte und erhebt damit in gewisser Weise Machtansprüche auf diese Standorte, die zwar im Vergleich zur politischen oder Ultraszene weitaus begrenzter ausfallen, und dennoch als Ortsmarkierungen betrachtet werden können. Aufgrund der Gruppenkonstellation – es handelt sich hier um jugendliche Peer-Gruppen und nicht um organisierte Szenegruppierungen – und des geringen Radius liegen die Ortsmarkierungen hier einer geringen Organisiertheit zugrunde und erreichen bei weitem nicht die Wirkkraft der POLITIK- oder ULTRAS-Scritte. Bei den weiteren Ortsnamen handelt es sich fast ausschließlich um metareferenzielle Lokalbezeichnungen, die lediglich in den jeweiligen Stadtgebieten auftreten, etwa Tufello, Pigneto, San Lorenzo oder Garbatella. Einfache Ortsnennungen (Tufello!, Tufello town) sollen möglicherweise die Verbundenheit der Produzenten zu ‘ihrem’ Stadtviertel ausdrücken. Deutlicher wird dies in Textpassagen, welche das Gebiet in gewisser Weise aufwerten, wie z. B. in Garbatella regna sempre a Roma e ovunque oder Pigneto città aperta.
Die Frequenzen der Wortarten sind jenen der expressiven Domäne ähnlich, mit dem Unterschied, dass hier die Nomen an erster Stelle vor den Eigennamen stehen und die Wortarten insgesamt gleichmäßiger verteilt sind. Generell erscheint das Attribut ungewohnt unauffällig, wohl weil sich die Inhalte zu sehr unterscheiden und daher keine Auffälligkeiten in den Frequenzen erkennen zu sind. Gleiches gilt für die Mehrwortkombinationen, die sich weder hinsichtlich der Wortarten noch in Bezug auf die konkreten Wortkombinationen überauffällig zeigen. Die häufigste 2-Wortkombination ist etwa [ART NOUN], wie dies auch bei dem Vergleichskorpus TinTin der Fall ist. Kombinationen wie z. B. [NOUN NOUN], die zunächst auffällig erscheinen, lassen sich einfach erklären und sind in den ungesammelten, konkreten Kombinationen nicht mehr so deutlich zu erkennen. Es handelt sich dabei nämlich um die wenigen, aber umfangreichen, Texte der Künstlerin Riccio, in denen Nomen hintereinander gereiht werden. Auch die eigenartige Kombination von aufeinanderfolgenden Kardinalzahlen kann anhand einiger weniger Scritte erklärt werden, da es sich um eine seltsame Stencil-Serie mit den immer gleichen Token handelt. Ebenso die Verbindung [usare la bicicletta] erscheint wegen einer Serie von Stencils mit den Token usa la bici in Kombination mit der Abbildung eines Fahrrades. Lediglich zwei frequent auftretende Kombinationen – [la droga] und [Liboni NOUN] – heben sich etwas aus den Statistiken ab und nähern sich den deutlichen Ergebnissen der expressiven, politischen und ultraspezifischen Domänen an. Beim ersten Beispiel [la droga] ist zwar nicht die Kombination an sich [ART NOUN] auffällig, aber wohl die relative Häufigkeit des 2-Grammes, die hier nicht einer Stencil Serie geschuldet ist, sondern in verschiedenen Texten der subkulturelle Subdomäne auftaucht. Die Kombination [Liboni NOUN] muss an dieser Stelle nicht weiter kommentiert werden, da die Konstruktion parallel zu den bei den Ultras und politischen Gruppen typischen Auf- und Abwertungsstrategien verläuft.
Zusammenfassend kann für die Kategorie MitteilungJAK – Information festgehalten werden, dass sich aufgrund der hohen semantischen Diversität wenig konkrete Wortfelder feststellen lassen. Im Gegensatz zu den bisher behandelten Domänen fungiert diese Kategorie also in vermindertem Maße als Deutungskategorie, wobei noch am ehesten für die Subdomäne SUBKULTUR musterhafte Eigenschaften erkennbar sind. Aus diesem Grund müssen die Texte besonders stark im Kontext der Standorte gelesen werden und im Falle der Hotspots im Verbund mit den expressiven (und weiteren dort auftretenden) Texten verstanden werden. Isolierte Scritte liefern zwar vermehrt konkrete Informationen, da sie aber vereinzelt auftreten, wirken und erreichen sie ihr Publikum nur punktuell, was im deutlichen Kontrast zu den politischen und Ultras-Scritte, wie auch den expressiven Scritte steht, da letztere zwar ebenfalls isoliert auftreten können, dann aber meist Einzelpersonen adressieren. Eine Ausnahme bilden dabei die subkulturellen Texte (v. a. ACAB-Scritte), welche in einen größeren SM-Komplex eingebunden sind, anderen Domänen inhaltlich nahestehen und eher programmatische Meinungsbilder verkörpern.
7.4.5.2. Nachricht – DIV
Aufgrund der hohen Diversität der thematischen Inhalte scheint es schwierig, Funktionalitäten SM dieser Domäne abzuleiten und in der Tat kann die Frage nach den Funktionen für besonders kryptische Texte, wie die oben gezeigte Stencil-Serie mit den Zahlenfolgen (Abb. 301), nicht abschließend geklärt werden. Um dennoch einen Zugang zu den domänenspezifischen Texten zu erhalten, bietet sich v. a. die georeferenzielle Verteilung der Scritte als primärer Deutungsschlüssel an. Hier muss zwischen den Hotspots und isoliert auftretenden Einzeltexten unterschieden werden.
Die Funktionen der Hotspots wurden zu großen Teilen bereits im Kapitel zur EXPRESSIVITÄT-Domäne beschrieben, worauf ich an dieser Stelle verweisen möchte (siehe DEFAULT). Es handelt sich demnach typischerweise um sprachliche Koordinationsmittel, um, in erster Linie gruppeninterne, Strukturen zu schaffen und erhalten. Die Verarbeitung von Emotionen rückt dabei in den Hintergrund oder geschieht auf weitaus verdecktere Art und Weise, im Vergleich zu expressiven Texten. Besonders in den Fällen, an denen sich die Hotspots der expressiven und DIVERSES-Texte decken (s. o.) kann von den gleichen Teilnehmern i. S. v. jugendlichen (Peer-) Gruppen ausgegangen werden, wobei eine trennscharfe Unterscheidung zwischen emotionsverarbeitenden und sonstigen Scritte gar nicht möglich ist. Es handelt sich bei den Hotspots nämlich um sprachliche Spuren von juvenilen Gruppen, die sich in einer Phase der sozialen Selbstverortung und Identitätssuche befinden, weshalb Gefühle und Emotionen, Erfahrungen, Selbst- und Fremdbilder, Meinungen usw. miteinander vermischt werden (können). Zentral für die Stärkung der Gruppen-Identität ist der Treffpunkt und der regelmäßige persönliche Kontakt der Gruppenmitglieder (vgl. Neuland 2018, 279 und Hitzler 2010, 19-20). Dieser „unmittelbare persönliche Kontakt“ ist dabei Auslöse- und Wirkungskontext zugleich (Neuland 2018, 279), was sich auch in den Texten niederschlägt und u .a. zur Folge hat, dass bestimmte Nachrichten lediglich von der Gruppe verstanden werden können (vgl. Neuland/Schlobinski 2015, 294) und für Außenstehende kryptisch erscheinen. Die Katharsis, wie sie in Kapitel beschrieben wurde, spielt auch hier eine wichtige Rolle, da das ‘Schreiben um des Schreibens Willen’ sicherlich auf einen Teil der Scritte zutrifft. Sowohl expressive – und dabei positive und negative Texte – als auch DIVERSES-Scritte an den Hotspots müssen im Verbund begriffen werden und dienen sowohl der Stärkung der Gruppenidentität als auch der Abgrenzung gegenüber anderen. Allerdings lassen sich „[i]dentifikatorische und abgrenzende Interaktionen“ nicht klar voneinander unterscheiden, „vielmehr greifen sie in Prozessen der sozialen Distinktion stets ineinander“ (Neuland 2018, 283). Somit stehen auch die Textpassagen, die eindeutig auf subkulturelle Hintergründe verweisen, wie z. B. ACAB-Scritte oder Aussagen zu Betäubungsmitteln, oder auf szenetypische Frames deuten (Ultras- oder politische Texte), im Rahmen der gruppeninternen und -externen Koordination. Jedoch handelt es sich in diesen Fällen eher um nach innen gerichtete Nachrichten, d. h. an die Gruppe adressiert, wie man besonders deutlich an den formalen Aspekten und den von der Öffentlichkeit teilweise abgeschirmten Standorten sehen kann.
Für die isoliert auftretenden Scritte ist es weitaus schwieriger, typische Funktionen herzuleiten. Generell sind die Funktionen stark von den Inhalten abhängig, weshalb man die Einzeltexte gesondert analysieren müsste (man denke etwa an die Usa la bici-Stencils oder die großformatigen Scritte der Künstler), wozu im Rahmen dieser Arbeit nicht der nötige Platz ist. Da es sich in der Regel um Texte handelt, deren inhaltliche Thematiken lediglich in einer Scritta verarbeitet werden oder, im Falle von Stencil-Serien, nur an Einzelstandorten auftauchen, kann es sich hier nicht um eine Markierung von Gebieten handeln und die Scritte wirken weitaus weniger dominant, als dies bei den Domänen POLITIK und ULTRAS der Fall ist. Neben den Inhalten sind außerdem die formalen Attribute (Materialität und Medialität) höher gewichtet. Kleinformatige oder schlecht lesbare Texte scheinen nicht selten ad-hoc-Texte zu sein, wobei Katharsis ebenso als Motivationsfaktor gelten kann, wie möglicherweise auch Langeweile.
Gesondert zu betrachten sind die Scritte der Subdomäne SUBKULTUR, da die Inhalte stärker programmatisch sind und somit ein intertextueller Zusammenhang erkennbar wird. Entscheidend ist hier jedoch, dass eine Senderkennung fehlt, wodurch man auch hier nicht direkt von territorialen Markierungen sprechen kann, sondern maximal von einer lokal fixierten Inbesitznahme der Trägerfläche. Besonders die subversiven ACAB-Texte wirken dabei eher individualisiert mit einem starken kathartischen Moment. Die fehlende Markierung der Produzenten lässt keine klare Positionierung zu, wenn auch die Nähe zu Szenen und Milieus, die gleiche Gesinnungen und Meinungsbilder haben, deutlich wird, wodurch sie näher zu den Domänen ULTRAS und POLITIK rücken, ohne diese Verbindung zwingend oder primär herzustellen.
7.5. Funktionalität der IDEOLOGIE-Scritte
Bevor ich die Funktionen der IDEOLOGIE-Domäne zusammenfassen werde, seien einige wichtige Punkte vorangestellt. Die bisher in diesem Kapitel behandelten Genres451 bilden zusammen 97 % des Korpus, d. h., die ausstehenden Domänen IDEOLOGIE (1.60 %), RELIGION (1.23 %) und FEMINISMUS (0.94 %) betreffen gerade einmal 3 % des Korpus. Dies bedeutet, dass eine umfassende Analyse, wie sie bei den oben gezeigten Domänen geschehen ist, wenig sinnvoll erscheint, auch weil die verhältnismäßig geringe Anzahl an Texten eine verlässliche Interpretation erschwert. Aus diesem Grund werden die abschließenden drei Domänen in stark verkürzter Form erscheinen und – wenn möglich – mit Verweisen auf die bisher behandelten Domänen versehen sein. Aufgrund der geringen Quantität des Sprachmaterials müssen die Ableitungen mit einer stark spekulativen Grundausrichtung begriffen werden, wobei qualitative Analysen von Einzeltexten einen höheren Stellenwert einnehmen, als dies bisher der Fall war. Generell kann festgehalten werden, dass IDEOLOGIE-Scritte weder (proto)typisch für Scritte Murali allgemein, noch für ULTRAS- oder politische Scritte sind.
Die Domäne der IDEOLOGIE-Texte wird von gerade einmal 60 Texten gebildet, wobei die Verteilung der Nachbar- und Subdomänen besonders aussagekräftig sind. So lassen sich bei 87 % (!) der Texte zwei oder sogar drei Domänen erkennen, mit einer starken Überschneidung zur politischen und v. a. ULTRAS-Domäne. Interessant ist hier, dass ideologische Texte, die aus den beiden Untergruppen RASSISMUS und AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT gebildet werden, zu fast drei Viertel mit der ULTRAS-Domäne verbunden sind und ‘nur’ zu knapp einem Viertel mit der politischen bzw. rechtsextremen Domäne. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Ultras automatisch eine rassistische Grundhaltung einnehmen, da es sich eben nur um etwa 45 Texte handelt, die rassistisches oder ausländerfeindliches Gedankengut zeigen. Die enge Verknüpfung mit der ULTRAS- wie auch POLITIK-Domäne bedeutet jedoch, dass die in den entsprechenden Kapiteln (DEFAULT und DEFAULT) zusammengetragenen Beobachtungen zu großen Teilen vermutlich auch für die IDEOLOGIE-Domäne gültig sind, worauf ich hiermit ausdrücklich hinweise. Dennoch sollen die einzelnen Kommunikationsfaktoren nachfolgend knapp zusammengefasst werden.
7.5.1. Kommunikationsteilnehmer – IDEO
7.5.1.1. Produzenten – IDEO
Wohl auch aufgrund der geringen Zahl der Scritte, lassen sich auf morpho-syntaktischer Ebene so gut wie keine Hinweise zu den Textproduzenten finden: nur drei Verbformen stehen in der 1. Person, davon alle im Singular (sparo und accoltello), und genau zweimal tritt das Personalpronomen noi auf. Der Zugang zur Produzentenkonstellation liegt hier in den unscharfen Grenzen zu den Nachbardomänen, wie oben bereits angedeutet wurde. Da 45 der Scritte eine Markierung der ULTRAS- und 15 zur politischen Domäne zeigen, liegt die Vermutung nahe, dass aus einer Gruppenhaltung heraus geschrieben wurde, wie dies bei diesen Domänen typischerweise der Fall ist (s. o.). Dies gilt auch dann, wenn in den hier vorliegenden Texten keine expliziten Hinweise auf Gruppen – etwa politische Symbole, gekürzte Vereinsnahmen oder ähnliches – vorliegen. Für einen kleinen Teil von neun Scritte, die nicht mit den genannten Domänen verbunden sind, kann auf der Textoberfläche nicht abgelesen werden, ob die Scritta individualisiert oder gruppenperspektivisch erstellt wurde, wie z. B. bei francesi tutti appesi oder fuori le zecche. Festzuhalten ist jedoch, dass diesen Texten eine hohe Anonymität zugrunde liegt.
7.5.1.2. Rezipienten – IDEO
Ebenso rar sind morpho-syntaktische Hinweise auf die Rezipienten. Nur in vier Fällen werden Personen direkt adressiert (fate, lasciate, vattene) und in acht Fällen gibt es direkte Verweise über Klitika (tu/ti, voi). Für die Gruppe der Scritte, die gleichzeitig der ULTRAS-Domäne zugeordnet werden können, kann der Rezipientenkreis dementsprechend hier übernommen werden, d. h. in erster Linie gegnerische Ultragruppierungen (siehe DEFAULT). Die Kommunikation von rassistischem oder ausländerfeindlichem Gedankengut ist dann als Teil der hochfrequenten abwertenden Beurteilungen (Laziale albanese, Romanista ebreo) innerhalb der ULTRAS-Domäne zu begreifen. Bei Scritte die in Verbindung mit politischen Scritte stehen, gilt einerseits ebenfalls die Rezipientenkonstellation der politischen Texte – also abhängig vom Standort werden v. a. politische Kontrahenten oder die Öffentlichkeit anvisiert – und andererseits werden hier auch immer die Minderheiten bzw. Personengruppen, die konkret im Fokus der Texte stehen, angesprochen, also etwa Ausländer bei ausländerfeindlichen Texten.
Generell spielt die Adressierung der Öffentlichkeit für rassistische und ausländerfeindliche Texte eine größere Rolle, als dies bei ‘reinen’ ULTRAS- oder POLITIK-Scritte der Fall ist. Dies liegt daran, dass der Tabubruch für die Öffentlichkeit in diesen Fällen relevanter ist, als bei anderen Beleidigungswörtern, wie z. B. cazzo oder merda. Die anvisierten Personen oder Personengruppen (z. B. laziali oder romanisti) werden nämlich dadurch beleidigt, dass ihnen die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe zugesprochen wird, der – aus Sicht der Produzenten – Negativeigenschaften anhaften und somit pejorativ gemeint sind. D. h., die Abwertung geschieht rein auf der Basis der Personengruppen-Zugehörigkeit, wobei diese vermeintlichen Negativeigenschaften vom Leser pragmatisch erschlossen werden müssen (vgl. Technau 2018, 277). Würden z. B. bestimmte Ultragruppen Ausländern keine negativen Eigenschaften, die rein auf ihrer Herkunft beruhen (etwa bei albanesi), zuschreiben, so würde die Beleidigung Laziale albanese auf kommunikativer Ebene nicht mehr funktionieren. Aufgrund der Konstruktionsmuster bei Beleidigungen ([NPR Beleidigungswort]) und dem wesentlichen Freund-Feind-Schema, denen die ULTRAS-Scritte zugrunde liegen, muss es sich bei Laziale albanese ASR also um eine Beleidigung handeln, genauso wie bei den [NPR ebreo]-Scritte oder dem Hinzufügen von Davidsternen bei den Modifikationsroutinen. Somit befinden wir uns im Bereich der Hassrede (oder auch Hate Speech), die nach der Definition des Europarates
jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschliesslich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken(Europarat Ministerkomitee 1997, 2)
umfassen. Laut Technau muss Hassrede „von anderen pejorativen Verwendungsweisen […] deutlich unterschieden werden“, da hier nicht einzelne Personen sondern ganze Personengruppen (aufgrund ihrer Abstammung oder ähnlichem) abgewertet werden und „die zugrundeliegenden Emotionen scheinen bei anderen pejorativen Verwendungsweisen weniger stark zu sein und im Gegensatz zu Hass nicht in komplexe Ideologien zu münden“ (2018, 279). Die typischen ULTRAS- sowie teilweise auch politischen Scritte beuten die rassistischen Konventionen aus, um die anvisierten Personen/Gruppen zu beleidigen (vgl. Technau 2018, 272), wodurch nicht nur die anvisierte Gruppe beleidigt wird, sondern gleichzeitig das eigene (rassistische/ausländerfeindliche/diskriminierende) Gedankengut kommuniziert und die entsprechende Minderheit (etwa Ausländer) automatisch mitbeleidigt werden. Für den (effektiven) Rezipienten liegt nun der Unterschied darin, dass er oder sie der Tatsache, dass sich Ultragruppierungen untereinander bekämpfen und ablehnen, möglicherweise gleichgültig gegenübersteht, gleichzeitig aber eine rassistische Haltung entschieden ablehnt und somit von einer solchen Scritta in größerem Maße ‘angesprochen’ wird. Noch mehr gilt das offensichtlich für die Personengruppen, deren Bezeichnungen als Beleidigungswörter missbraucht werden (ebrei, albanesi, negri, zingari usw.),452 da diese nichts mit den Auseinandersetzungen der Ultras zu tun haben und dabei trotzdem massiv beleidigt und diskriminiert werden. In der extremsten Form geschieht dies in direkten Beleidigungs- oder Hasstexten, die tatsächlich auf diese Minderheiten abzielen (fuori gli ebrei e gli africani), wobei auch hier die Öffentlichkeit aufgrund des rassistischen Gedankenguts mitanvisiert wird. Solche Ethnophaulismen und die Verwendung dergleichen als Beleidigung stellen in dieser Hinsicht eine Besonderheit dar, wie Tenchini festhält:
Das Besondere an diesen Ausdrücken ist, dass sie immer die ganze Klasse, zu der ein Individuum gehört, negativ bezeichnen bzw. bewerten, obwohl die NPen (Nominalphrasen) in dem konkreten Sprechakt nur auf ein Individuum/einen Referenten bezogen werden oder bezogen werden können. Durch die Diskriminierung eines Einzelnen wird also eine ‘kollektive’ Diskriminierung vollzogen. Die expressive Stärke und die daraus folgenden perlokutiven Effekte dieser Ausdrücke sind aber nicht einheitlich.(Tenchini 2017, 247)
Die Stärke variiert insofern, als etwa negro oder Jude weitaus abwertender als etwa immigrato ist (vgl. Tenchini 2017, 247). Solche Bezeichnungen werden in weiten Teilen der Gesellschaft nicht nur als Tabubruch empfunden, sondern als unangebracht und „verboten“ (Tenchini 2017, 248), weshalb die Verwendung in den Scritte auch für größere Gesellschaftsgruppen – und damit effektive Rezipienten – von Bedeutung sein dürfte.
Modifikationen sind in dieser Domäne von großer Bedeutung (63 % aller Scritte wurden modifiziert), wobei es sich fast ausschließlich um Scritte, die mit der ULTRAS- oder POLITIK-Domäne verknüpft sind, handelt. Aus diesem Grund möchte ich auf die Ausführungen zu den Modifikationen in den entsprechenden Kapiteln zu ULTRAS und POLITIK verweisen.
7.5.2. Kontext (Ort und Zeit) – IDEO
7.5.2.1. Ort – IDEO
Bei einer solch geringen Menge an Scritte liegt die Vermutung nahe, dass sich keine oder kaum Muster bei der Verteilung im Raum ergeben. Bei genauerer Betrachtung und Gegenüberstellung mit anderen und dabei v. a. der politischen und Ultras-Domänen zeigen sich dennoch Auffälligkeiten. Besonders auffällig ist, dass diskriminierende Texte im eigentlich linkspolitisch dominierten Territorium (Tufello) zu finden sind. Interessanterweise sind es fast ausschließlich Texte, in denen die gegnerischen Vereinsanhänger auf dysphemistische Weise als ebrei abgewertet werden, also z. B. Romanista ebreo. Es wurden dann zwar fast alle Texte durch eine zweite Hand modifiziert, aber es hat meist den Anschein, dass es sich um eine Modifikation seitens der gegnerischen Ultragruppierungen handelt und nicht um politische Aktivisten. Eine besonders hohe Frequenz – wenn dies bei dieser geringen Zahl an Texten überhaupt möglich ist – an rassistischen oder ausländerfeindlichen Scritte in Gebieten von bekanntermaßen rechtsextremen Ultragruppen ist hier nicht zu erkennen. Die größte Auffälligkeit ist jedoch, dass domänenspezifische Texte meist in unmittelbarer Nähe voneinander erstellt werden, d. h., es sind Trägerflächen zu erkennen, die mehr als eine solcher Textpassagen zeigen (siehe Abb. 305). Diese sind dann auch meist, ganz nach dem Usus der ULTRAS-Scritte, anhand von Sprühdosen und in eher größerem Format erstellt worden. Rein rassistische oder xenophobe Texte, die außerdem eine höhere Tokenzahl (5 oder mehr) umfassen, erscheinen dann des Öfteren im Kleinformat und anhand von Filzstiften erstellt (siehe Abb. 302 und Abb. 306). Antisemitische oder rassistische Texte im Großformat sind wenn, dann in rechtspolitischen Territorien (bspw. der Piazza Bologna) zu finden.
IK 35: Standorte der Domäne IDEOLOGIE – Vollbildanzeige
7.5.2.2. Zeit – IDEO
Auf zeitliche Aspekte möchte ich hier nicht weiter eingehen, sondern auf die entsprechenden Kapitel zur Domäne ULTRAS (DEFAULT) und POLITIK (DEFAULT) verweisen.
7.5.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – IDEO
Eine der Grundlagen bei der Analyse der Prototypen ist die Gewichtung und Gradiertheit der Merkmale (siehe DEFAULT) und man konnte bei den bisher behandelten Domänen sehen, dass die Attribute für die einzelnen Prototypen mal von größerer, mal von geringerer Bedeutung (also höher bzw. niedriger gewichtet) sind. Die Attribute ErstellungswerkzeugATTclass und TrägerATTclass, die sich primär auf den Kommunikationsfaktor KontaktJAK beziehen, müssen stets im Verbund mit rezipienten- und standortsbezogenen Aspekten betrachtet und gewichtet werden. Da nun innerhalb der hier behandelten Domäne ein besonders großer Teil der Scritte der ULTRAS- und POLITIK-Domänen ebenfalls angehören, gelten für die betreffenden Scritte die dort festgehaltenen (DEFAULT) sowie grundlegende Beobachtungen für diese Attributsklassen. Dies zeigt sich auch darin, dass die Werte der Domäne (DEFAULT) recht unauffällig sind: prototypisch werden zu 84 % Spraydosen verwendet, gefolgt von Filzstiften zu 14 %. Erstellt werden die Texte auf Haus- oder freistehenden Wänden, wobei die geringe Anzahl hier von noch größerer Bedeutung ist. Da lediglich eine sehr geringe Anzahl an ausschließlich als rassistische oder ausländerfeindliche markierten Texten vorliegt, lassen sich bei diesen Scritte nur schwerlich Muster in Bezug auf die Attributsklassen festhalten. Auch der Aspekt der nicht-vorhandenen Scritte im Erhebungsgebiet, der bei den oben ausgeführten Analysen von Bedeutung ist, spielt hier nur in Verbund zur ULTRAS- und politischen Domäne eine Rolle, da schlichtweg die Quantität zu gering ist.
Sieben der Texte wurden anhand von Filzstift erstellt. Wie bereits an mehreren Stellen ausgeführt wurde, hat dies nachhaltig Folgen für die Rezeption der Texte, da Filzstifte i. d. R. die Rezeptionszeit erhöhen und den Text erst ab einem bestimmten Mindestabstand zur Scritta lesbar machen, da das Werkzeug das Größenformat stark begrenzt. Nun enthalten vier der sieben Texte (also 57 %) zwischen 10 und 12 Token und die Informationsübermittlung geht über ein schlichtes Beleidigen von Minderheiten hinaus, was die Vermutung nahelegen würde, dass die Produzenten die Öffentlichkeit über ihre Meinung informieren möchte oder diese propagandaartig beeinflussen zu sucht. Die formalen Aspekte widersprechen dieser Vermutung jedoch eindeutig, da die Texte aufgrund der verwendeten Filzstifte eben nicht von möglichst vielen effektiven Rezipienten gelesen werden können. Sowohl die erstellungstechnischen Merkmale wie auch die typographischen Eigenschaften – es hat oftmals den Anschein, dass die Produzenten im Umgang mit dem Schreibwerkzeug nicht besonders geübt sind – sprechen eher dafür, dass es sich hier um spontan erstellte Texte handelt, deren Ziel nicht die Adressierung der Öffentlichkeit sein kann. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Trägerflächen der Texte an Standorten zu finden sind, die nicht zu den expressiven oder DIVERSES-Hotspots (s. o.) zählen, sich gleichzeitig aber in unmittelbarer Nähe eine hohe Zahl an meist politischen oder ULTRAS-Scritte befinden. Diese wiederum sind fast ausschließlich anhand von Sprühdosen erstellt worden und es handelt sich dabei meist um sog. ‘Kampfwände’, wie sie oben beschrieben wurden und die auf formaler Ebene völlig anders aufgestellt sind als die Hotspot-Orte. Auch der adressierte Rezipientenkreis unterscheidet sich bei den Konflikt- oder Kampfwänden im Vergleich zu den Hotspots grundlegend. Die rassistischen und ausländerfeindlichen Filzstift-Texte in diesen ULTRAS- und POLITIK-Kampfzonen sind also in der Hinsicht auffällig, dass sie auf Form- und Standortebene besonders unauffällig erscheinen und somit insgesamt an Bedeutung verlieren.
7.5.4. Kode – IDEO
Für Kode-bezogene Attribute lassen sich ebenfalls nur wenige Auffälligkeiten feststellen bzw. lassen sich diese aufgrund der unscharfen Grenzen zu Nachbardomänen anhand der Beobachtungen zur ULTRAS- und POLITIK-Domänen erklären.
So liegt etwa die Tokenzahl pro Scritta bei 80 % der Texte zwischen zwei und vier Token, was in erster Linie über die abwertenden Konstruktionen ([NPR abwertendes Token]; s. o.) innerhalb der ULTRAS-Domäne erklärt werden kann, wobei die Abwertung hier aus einer rassistischen und/oder xenophoben Haltung heraus geschieht. Dies führt zur hohen Zahl der Texte der Art Laziale albanese ASR, Romanista zingaro, Laziale cinese usw..
42 % der Scritte zeigen bildgraphische Zeichen, wobei hier v. a. die Verbindung zur politischen Domäne ausschlaggebend ist. Erklärungsbedürftig ist lediglich das Zeichen <<Jüdischer Davidstern>>, das symbolisch für das israelische Volk bzw. das Judentum steht und den häufigsten Zeicheninhalt darstellt. Einerseits ist gerade dieses Zeichen der Grund für die Zuordnung der Scritta zur Domäne IDEOLOGIE (bzw. Subdomäne RASSISMUS), da es konstitutiv in Beleidigungskonstruktionen verwendet wird, wobei die Beleidigung nur abgeleitet werden kann.453 Andererseits hebt sich die Anordnung des Zeichens im Schriftbild von anderen Zeichen ab. So wird das Zeichen bspw. hinter den zu beleidigenden Referenten gesetzt, praktisch als abwertend gemeintes Erkennungszeichen. Normalerweise werden solche Symbole als Senderkennung (z. B. das Fascio Littorio oder Hammer und Sichel) hinter oder mittig in die Scritta gesetzt. Der Davidstern dagegen ist eine Tokenvariante innerhalb der Beleidigungskonstruktion. Eine zweite frequente Weise der Anordnung geschieht innerhalb der Modifikationen, d. h. durch eine zweite Hand: der Davidstern wird direkt über das Token aus Hand 1 (z. B. ASR) gesetzt (siehe Abb. 308-310).
Bezüglich der Sprachwahl und der dialektalen Varianten zeigen sich keinerlei Auffälligkeiten, da 99 % der Token auf italienischer Sprache verfasst wurden.454 Die Kürzungsverfahren erfolgen ausschließlich im Rahmen der ULTRAS-Texte und bei der Farbwahl wäre einzig die im Vergleich zur roten Farbe höhere Verwendung von blauer Farbe auffällig. Die höhere Affinität der rechtsextremen ULTRAS- und POLITIK-Texte zu blauer Farbe wurde weiter oben bereits angesprochen. Zuletzt zeigt der Bereich der Typographie einerseits, dass es sich bei den elaborierten Texten v. a. um ULTRAS-Scritte handelt und ansonsten ein nicht unerheblicher Teil an Texten zu finden ist, die entweder in augenscheinlich arbiträrem Schriftstil verfasst wurden (eine mögliche Erklärung wurde oben bereits gegeben) oder keine Angaben zur Typographie gemacht werden können. Auffällig ist, dass der Fascio-Font bei den Texten die gleichzeitig nicht der ULTRAS- oder POLITIK-Domäne angehören, überhaupt nicht verwendet wird.
7.5.5. Mitteilung – IDEO
7.5.5.1. Mitteilung – Information – IDEO
Bevor die Funktionen der IDEOLOGIE-Texte beschrieben werden, sollen die Faktoren, die sich auf die Information beziehen, kurz zusammengefasst werden, d. h. die Attribute der Lexik, Eigennamen, Wortarten und n-Gramme.
Bei der Auswertung der verwendeten Lemmata und ihrer Frequenzen zeigt sich, dass die Lexik455 klar von Wortfeldern gebildet wird, die mit Antisemitismus (ebreo, cane ebreo, olocausto, ghetto, circonciso, Jude), Fremdenhass (albanese, calabrese, immigrato, cinese) oder Rassismus (negro, colore – tricolore) in Verbindung stehen. Ebenfalls werden Lexeme in gewaltverherrlichenden Textpassagen verwendet (acoltellare, sparare, torna nel ghetto, Juden Club 6 milioni) und zu einem gewissen Grad wird eines der Motive für Fremdenhass erkennbar, wenn auf den Standpunkt der Produzenten verwiesen wird, dass Personen die eigene Lebensqualität begrenzt oder den eigenen Interesse entgegenwirkt, etwa bei den Italia ai italiani-, lavoro ai italiani– oder non fate che essi (ebrei) ridano di voi-Scritte (vgl. Technau 2018, 278). Allerdings sind die Frequenzen aufgrund der geringen Scritte-Anzahl derart niedrig, dass es sich hier maximal um Tendenzen handeln kann. Einzig die in antisemitischen und rassistischen Passagen verwendeten Lexeme (ebreo, zingaro usw.) treten in einer höheren Frequenzen auf, dass sich mit größerer Sicherheit Aussagen treffen lassen, wobei auf die n-Gramme bzw. Konstruktionen verwiesen sei (s. u.).
Hinsichtlich der verwendeten Eigennamen zeigt sich einmal mehr, wie sehr die Domäne mit der ULTRAS-Domäne verbunden ist, da 67 % der verwendeten Bezeichnungen auf diesen Bereich verweisen (etwa ASR, Banda Noantri oder Lulic). Insgesamt ist festzustellen, dass die Texte auf Personengruppen verweisen und nicht auf Einzelpersonen, was auch für den Namen Lulic gilt, da dieser symbolisch auf Ultragruppierungen verweist (s. o.). Ausnahmen bilden die Namen Berlusconi und Balotelli, wobei der Fußballspieler direkt Opfer von Rassimus wird.
Die Verteilung der Wortarten, bei denen Nomen (37 %), Eigennamen (13 %), bildgraphische Zeichen (6 %) und Verben (5 %) die Liste anführen, ist ebenfalls besonders stark durch die Muster und Routinen der ULTRAS-Domäne geprägt, wie ein Blick auf die frequentesten Mehrwortkombinationen zeigt. Trotz der geringen Textmenge zeigt sich hier eine auffällig hohe Frequenz von [NOUN NOUN], [NOUN ADJ] und [NOUN SENT] Kombinationen, die zusammen bereits 23 % der gesamten Kombinationen ausmachen und – wie oben gezeigt – in der ULTRAS- und teilweise politischen Domäne den Status von verfestigten Konstruktionen tragen. Bei der IDEOLOGIE-Domäne handelt es sich dabei ausschließlich um abwertende Konstruktionen, die rassistische oder fremdenfeindliche Konventionen über Ethnophaulismen (vgl. Tenchini 2017) ausbeuten, etwa bei laziale/romanista ebreo/zingaro/calabrese/albanese, d. h., das wertende Konstruktionselement an zweiter Stelle (NOUN oder ADJ) wird erst dadurch zur Beleidigung, indem aus der Kommunikationssituation deutlich wird, dass das Lexem nur aus einer antisemitischen oder rassistischen Haltung heraus als beleidigend empfunden werden kann und nicht etwa als ironisch oder humoristisch (vgl. Technau 2018, 272).
7.5.5.2. Mitteilung – Nachricht – IDEO
Die der IDEOLOGIE-Domäne zugehörigen Texte stehen in enger Verbindung zur ULTRAS- und teilweise POLITIK-Domäne, weshalb es sich anbietet die Funktionen perspektivisch in Bezug auf diese Nachbarkategorien zu fassen. Grundlegend gilt, dass die Verwendung von Ethnophaulismen sowie die Thematisierung von rassistischem und/oder fremdenfeindlichem Gedankengut als besonders starker Tabubruch empfunden wird und dies auch der Grund ist, weshalb die Texte in einer eigenen Domäne erfasst wurden.
Für Scritte, die ULTRAS als Nachbardomäne zeigen, gelten generell die für diese Domäne beschriebenen Funktionalitäten. Hier sind sie als Teil der abwertenden Texte zu verstehen, die innerhalb des Freund-Feind-Schemas als drastische Abgrenzung zu gegnerischen Gruppen fungieren. Abwertende Konstruktionen sind bei ULTRAS-Texten besonders verbreitet und typisch (Lazio merda) und die Beleidigung an sich daher nicht besonders auffällig. Die Tatsache, dass die Beleidigungen und Abwertungen über die Ausbeutung von rassistischen und fremdenfeindlichen Konventionen geschieht, hat jedoch zur Folge, dass die hier behandelten Texte von den sonst typischen Konstruktionen zu differenzieren sind. Der rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Kontext bedingt zunächst, dass die Texte für einen größeren Rezipientenkreis relevant wird. Das extreme Meinungsbild, das hier ganz bewusst von den Produzenten kommuniziert wird, dürfte nämlich die Öffentlichkeit in einem höheren Maße interessieren (und empören), als dies bei einem ULTRAS-Text der Art romanista boia der Fall ist. Es wird hier gewollt eine rechtsextreme Gesinnung vermittelt, die neben der Abgrenzung gegenüber der im Text benannten Person(engruppe) auch eine noch deutlichere Abgrenzung gegenüber großen Teilen der Bevölkerung bewirkt. Völlig unabhängig davon ob der effektive Betrachter an Fußball interessiert ist oder nicht, wird die Verwendung von Ethnophaulismen in den Beleidigungskonstruktionen nicht nur als sprachliche Aggression wahrgenommen, sondern als äußerst unangebrachter Tabubruch. Zusätzlich wird eine gesamte Personengruppe allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit beleidigt, wobei für diese Personen ein solcher Text von noch weitaus größerer Bedeutung ist und als besonders verletzend empfunden wird. Obwohl die Sprachhandlung über die Konstruktion [NPR/NOUN Beleidigungswort] eine Beleidigung bleibt, erscheint der Tabubruch bei Beleidigungen anhand von Ethnophaulismen gravierender, als bei Beleidigungswörtern, wie z. B. merda. Letztlich handelt es sich bei den IDEOLOGIE-Texten, die im Raster der ULTRAS-Domäne erscheinen, um eine Sonderform der Beleidigungsakte. Ultragruppierungen, die eine solche Form der Hassrede verwenden, tun dies ganz bewusst, mit dem Wissen, dass sie hier einen sog. Gesichtsverlust, wie er bei Goffman beschrieben wird (1955), nicht nur in Kauf nehmen, sondern diesen sogar angestreben.456 Auf diese Weise fungieren die Texte hier als besonders intensive Form der Abgrenzung und zwar nicht nur gegenüber dem gegnerischen Verein, sondern eben auch von der Gesellschaft. Zusätzlich dienen die Scritte dazu, die Öffentlichkeit über (rassistische/antisemitische/fremdenfeindliche) Gesinnungshaltungen und Meinungsbilder der Ultragruppierungen zu kommunizieren.
Für die Scritte, die unscharfe Grenzen mit der politischen Domäne teilen, gelten ähnliche Bedingungen, wobei bedacht werden muss, dass es lediglich fünf Texte sind, die nicht gleichzeitig auch mit der ULTRAS-Domäne verknüpft sind. Es handelt sich also lediglich um eine besonders kleine Textsammlung. Über die Scritte wird – wie bei den rassistischen und xenophoben Ultratexten – die Gesinnung des Produzenten kommuniziert und der Hass auf und die Ablehnung von Personengruppen explizit (L’Italia agli italiani fuori gli ebrei e gli africani <<Hakenkreuz>>) oder implizit (Berlusconi ebreo) benannt. Generell gelten hier ebenfalls die Funktionen der Nachbardomäne(n), wobei der Schwerpunkt bei diesen Texten auf der Kommunikation der Gesinnung, der Propaganda und dem Ausdruck der negativen Emotionen liegt.
Die letzte Gruppe von Texten, die hier gesondert betrachtet werden muss, wird von rassistischen oder fremdenfeindlichen Scritte gebildet, die nicht mit den oben genannten Domänen in Verbindung stehen. Auffällig ist, dass bei diesen Texten keine Gruppenzugehörigkeit angegeben wird und sie hoch individualisiert erscheinen. Sie dienen v. a. dem Ausdruck der persönlichen Meinungen und ihnen liegen starke Emotionen zugrunde. Die geringe Anzahl an Texten erlaubt keine genauere Beschreibung, weshalb die Ableitungen spekulativ bleiben. Die Daten und dabei v. a. die formalen und standortbezogenen Faktoren zeigen, dass die Texte nur eine begrenzte Öffentlichkeitswirkung erzielen können.
7.6. Funktionalität der RELIGION-Scritte
Die Domäne RELIGION nimmt mit 42 Scritte gerade einmal 1 % des Gesamtkorpus ein. Knapp die Hälfte der Texte sind mit zwei oder mehr Domänen belegt,457 wobei vorangestellt sei, dass acht Texte die in Kapitel bereits erwähnten Melina Riccio-Texte darstellen. Da diese Texte verhältnismässig viele Token umfassen und sich die verbleibenden Domänentexte recht heterogen in ihrer Form und Inhalt präsentieren, ist es hier noch schwieriger prototypische (Teil-) Funktionen zu extrahieren. Qualitative Einzelanalysen der Texte würden sich am ehesten anbieten, finden aber im Rahmen dieser Arbeit keinen Platz. Die nachfolgenden Beobachtungen sind also als stark tendenzielle Ansätze zu verstehen. Um die Domäne besser zu verstehen, möchte ich noch kurz die Zusammensetzung umreissen. Es lassen sich 18 PRO-RELIGIÖSE, 18 ANTI-RELIGIÖSE, vier SATANISTISCHE Texte feststellen und schließlich acht Scritte, die einen nicht näher zu beschreibenden Bezug zum Frame Religion herstellen. Acht der Texte, die sich aufgrund ihres Umfanges in den Frequenzen des Teilkorpus besonders dominant niederschlagen sind die Scritte der Künstlerin Melina Riccio. Neun Texte stellen den Fluch Porco dio! dar, welcher als Tabubruch mit Bezug zur Religion begriffen werden muss und demnach in seiner Funktionalität den in Kapitel beschriebenen Flüchen gleicht. Das Besondere hier ist die Bezugnahme auf Gott und die Religion, der als Tabubruch verstanden werden muss, wobei der Umfang der vorliegenden Arbeit keine weitere Vertiefung dieses Aspektes erlaubt. Eine letzte größere Textgruppe, die neun Scritte umfasst, als PRO-RELIGIÖS markiert wurde und inhaltlich den Melina Riccio-Texten nahesteht, ist wohl jene Untergruppe, die am deutlichsten die Domäne repräsentiert, wobei die geringe Zahl eine quantitav-orientierte Analyse wenig plausibel scheint. Wie sich in den Voranmerkungen zeigt, ist ein Verweis auf die entsprechenden Nachbardomänen und den dort zu findenden Ausführungen angebracht, weshalb die nachfolgenden Kapitel besonders knapp ausfallen werden.
7.6.1. Kommunikationsteilnehmer – REL
Selten kann für Scritte Murali mit einer solch großen Sicherheit der Produzent bzw. die Produzentin der Texte bestimmt werden, wie dies bei den Melina Riccio-Scritte der Fall ist. Einerseits taucht der Name selbst in zwei der Texte auf und formalen Aspekte erlauben dann die Textproduzentin auch für die Scritte zu erkennen, in denen die Autorin nicht genannt wird. Ob den Rezipienten der Name der Künstlerin ein Begriff ist, sei dahingestellt. Für Aussagen zu den Produzenten der Porco dio!-Flüche möchte ich auf das Kapitel verweisen. Gleiches gilt für die politischen Texte (siehe DEFAULT), welche die anti-religiöse Haltung der linkspolitischen bzw. pro-religiöse Haltung der rechtspolitischen Gruppen ausdrücken. Für die Textgruppe der PRO-RELIGIÖSEN-Texte sind auf der Textoberfläche keine Hinweise zu den Produzenten zu finden. Es ist davon auszugehen, dass die Texte nicht von ‘offizieller’ Seite (etwa der katholischen Kirche) erstellt wurden, sondern vermutlich von Gläubigen, die sich sozusagen als vermittelnde Laien an die Rezipienten wenden, um ihnen religionsbezogene Botschaften zu vermitteln.
Rezipientenseitig kann sowohl für die Melina Riccio- als auch die PRO-RELIGIÖSEN-Texte die Öffentlichkeit vermutet werden, da sich eine Art ‘Verkündigungssituation’ ergibt, in denen Glaubensinhalte an ein Publikum vermittelt werden (sollen). Entscheidend ist hier der Standort der Texte, wobei die Melina Riccio-Texte, die sich allesamt in der Nähe des vielfrequentierten Hauptbahnhofs von Rom (Termini) an prominenten Punkten befinden, ein besonders hoher effektiver Rezipientenkreis vermuten lässt. Die PRO-RELIGIÖSEN-Texte dagegen lassen eine solche strategische Anbringung nicht erkennen. Für Flüche und politischen Scritte gelten die Rezipientenkonstellationen der jeweiligen Domänen.
7.6.2. Kontext (Ort und Zeit) – REL
Die geringe Zahl der Texte machen es kaum möglich, georeferenzierte Muster auszumachen. Eine Ausnahme bilden dabei sicherlich die Texte von Melina Riccio, die sich in zentrumsnähe Befinden (s. o.), was sie insgesamt zu einer Besonderheit unter den Scritte Murali des Korpus macht, da SM -wie gezeigt wurde – in der Regel kaum und v. a. nicht in dieser Größe an zentralen Standorten zu finden sind. Ob die Texte von offizieller Seite bewilligt wurden und deshalb auch nicht entfernt worden sind, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die Fluchpassagen sind, wie zu vermuten war, v. a. an Hotspots zu finden oder in linkspolitischen Territorien, was eventuell auf die anti-religiöse Gesinnung der linkspolitischen Gruppen zurückzuführen ist. Da es sich jedoch um vergleichsweise wenige solcher Scritte in den linkspolitisch besetzten Gebieten handelt, muss es bei einer Vermutung bleiben. Auffällig ist, dass es bis auf eine Ausnahme in der Nähe des Petersdoms (La fine è sempre vicino se non credi <<Kreuz>>) keine Texte in der Nähe von christlichen Kirchenhäusern gibt.
Zu zeitlichen Aspekten sind auf der Textoberfläche keine expliziten Angaben zu finden. Interessant sind deshalb v. a. die zeitlichen Aspekte, die sich auf die Rezeptions- und Lektürezeit beziehen, wobei wieder die SM der Künstlerin Riccio hervorstechen. Sie wurden zwar einerseits an vielfrequentierten Standorten platziert, aber ihre formale Aufmachung wirkt einer schnellen oder verkürzten Lektürezeit eher entgegen. Die Texte erscheinen in auffälligem Weiß (auf einer blauen Trägerfläche), aber die vielen dekorativ gesetzten Elemente und die hohe Tokenzahl erfordern eine längere Rezeptionszeit. Dass die Texte vermutlich dennoch rezeptiert werden, liegt an dem auffälligen Gesamtbild der Texte, das sich doch deutlich von den sonst vielverbreiteten SM in Rom unterscheidet. Auch die ‘Exklusivität’ der Scritte, d. h., dass in der näheren Umgebung kaum SM zu finden sind, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Texte tatsächlich gelesen werden. Ist dies der Fall, dann benötigen die Rezipienten trotzdem vergleichsweise viel Zeit, um die Scritte zu lesen, was abgesehen von den formalen Aspekten auch an der syntaktischen Struktur liegt. Die übrigen Texte sind tendenziell eher in verkürzter Form erstellt worden und es sei auf die bisher wiederholten grundlegenden Ausführungen zur Rezeptionszeit verwiesen (siehe etwa DEFAULT), wobei die Einzeltexte jeweils für sich analysiert werden müssen.
7.6.3. Kontakt (Materialität und Medialität) – REL
Die Quantität der Scritte ist zu gering, als dass sich Aussagen zur Teilfunktion der beiden Attributsklassen treffen ließen. Da sieben der acht Riccio-Texte fast 250 Token umfassen, scheint es auf den ersten Blick, dass es eine domänenspezifische Eigenart ist, die Texte anhand von Pinseln und auf Baustellenschutzwände zu erstellen, was in der Tat eine Auffälligkeit gegenüber der sonst so dominanten Spraydose und Haus- oder freien Wände wäre. Wie in Kapitel beschrieben, müssen die Statistiken jedoch mit Hinblick auf die Riccio-Texte gelesen werden. Tatsächlich hat es den Anschein, dass die Künstlerin das spezielle Werkzeug bewusst wählt, um ihre Texte von typischen Scritte Murali abzuheben, um die Rezipienten zum lesen zu animieren. (Dass sieben der Scritte auf Baustellenschutzwänden erstellt wurden, mag eher Zufall oder vielleicht sogar der ausschlaggebende Grund für eine ‘offizielle’ Erlaubnis der Erstellung gewesen sein.)
7.6.4. Kode – REL
Die hohe Tokenzahl der Riccio-Texte bedingt auch die Werte hinsichtlich der kodalen Eigenschaften458 dieser Domäne. So sind die Werte der Tokenzahl pro Scritta dementsprechend zu lesen, d. h., Melina Riccio-Texte zeigen eine vergleichsweise hohe Zahl an Token, was deutlich im Kontrast zu den Flüchen (Porco dio!) steht. Für die mit der politischen Domäne in Verbindung stehenden Scritte gelten die dort beschriebenen (Teil-) Funktionen von längeren Texten (siehe DEFAULT). Auch die vermeintlich typisch hohe Verwendung von bildgraphischen Zeichen – dabei v. a. <<Herzen>> (62 %!), <<Punkte>> (7 %) und <<Sterne>> (4 %) – sind auf die künstlerischen Scritte zurückzuführen, da dort diese Elemente zu dekorativen und gestalterischen Zwecken verwendet werden. Gleiches gilt für den hohen Anteil an weißen Token und einem ornamentartigen Typographiestil, der in dieser Form ausschließlich bei den Riccio-Texten auftritt. Die übrigen Scritte verhalten sich recht unauffällig bzw. prototypisch für Scritte Murali allgemein, wie auch die entsprechenden Nachbardomänen. Die Sprachwahl oder Kürzungsverfahren betreffend lassen sich ebenfalls keine Besonderheiten erkennen: 98 % der Texte wurden auf Italienisch verfasst und gekürzte Token treten lediglich in den politischen oder ULTRAS-Scritte auf.
7.6.5. Mitteilung – REL
7.6.5.1. Mitteilung – Information – REL
Die Lexik ist jener Bereich, der sich am deutlichsten von den anderen Domänen abgrenzt und auch in Bezug auf die Nachbardomänen spezifisch erscheint, was nur plausibel ist, wenn man bedenkt, dass die Lexik einer der zentralen Faktoren für die Zuordnung zu Domänen ist. Es lassen sich insgesamt vier größere lexikalische Gruppen erkennen. Zunächst ist es der Fluch Porco dio! (und in einer Variante auch dio cane), welcher die hohen Frequenzen der beiden Lexeme bewirkt. Eine zweite Gruppe wird von Schlüsselbegriffen gebildet, die mit der christlich-katholischen Religion in Verbindung stehen und dabei zentrale Inhalte umfassen, wie z. B. dio, pace, santo, salvo, amare/amore, madonna, creare, parola, paradiso, gloria, sacramento, preghiera. Diese finden bei den Riccio- und den PRO-RELIGIÖSEN-Texten Verwendung. Religion-ablehnende Scritte beziehen sich ebenfalls auf zentrale Begriffe der (christlichen) Religion, dabei jedoch fast ausschließlich auf institutionalisierte Mittlerrollen oder Ämter, etwa clero, prete oder papa. Die Lexik der wenigen satanistischen Texte sind dann eher in ihrer Symbolik (Satanskreuze und die Zahl 666) oder dem Lexem odio auffällig, soweit man bei der geringen Menge an Scritte überhaupt von Auffälligkeiten sprechen kann.
Wie oben bereits erwähnt, werden bildgraphische Zeichen häufig verwendet (zu 48 %). Allerdings ist die hohe Frequenz auf die Riccio-Texte zurückzuführen und die Zeicheninhalte sind zu einem großen teil nicht spezifisch für Religion (73 % der Zeicheninhalte werden durch Herzen, gestalterische Punkte oder Sterne gebildet). Einzig die Verwendung von (christlichen) Kreuzen und Satanskreuzen verweisen symbolisch auf den semantischen Frame der Scritte.
Die verwendeten Eigennamen sind – ähnlich wie die Lexik an sich – selbsterklärend. Neben der Verwendung von Gesù, Cristo oder in einem Fall auch Jesus, wird auf Personen, die in der christlichen Religion von Bedeutung sind (Don Bosco) oder ein Amt innehaben oder -hatten (Ratzinger) referiert. Schließlich taucht der Künstlername Melina Riccio in Verwendung als Senderkennung auf und in einem Fall der Name Andrea Volpe zu dem ich bereits in Kapitel geschrieben habe.
Hinsichtlich der Verwendung von Wortarten und den n-Grammen möchte ich auf die knappe Ausführung in Kapitel verweisen.
7.6.5.2. Mitteilung – Nachricht – REL
Trotz der geringen Anzahl lassen sich letztlich – zumindest tendenziell – Funktionen für Untergruppen der Domänen ausdeuten. Die Porco dio!-Fluchpassagen sind als Sonderform der Flüche bzw. dem Ausdruck von negativen Emotionen zu verstehen, wie sie in Kapitel ausführlich beschrieben wurden. Der Tabubruch dieser speziellen Form von Flüchen geschieht hier über die Bezugnahme auf Religion bzw. Gott.
Bei den mit der politischen Domäne verknüpften Texten gelten die dort beschriebenen Funktionen (siehe DEFAULT), wobei in diesen Scritte neben einem spezifischen, die Religion betreffenden, programmatischen Inhalt, auch grundlegende Meinungsbilder vermittelt werden (bei linkspolitischen Texten eine anti-religiöse, bei rechtspolitischen eine pro-christliche Haltung). Grundsätzlich gilt hier jedoch, dass es äußerst wenige Scritte sind, die solche Inhalte teilen, was darauf schließen lässt, dass dies keine zentrale Thematik der POLITIK-Domäne ist.
Die PRO-RELIGIÖSEN-Scritte dagegen sind ein Novum innerhalb der bisher behandelten Scritte. Obwohl es wenige Texte sind, zeigt sich hier recht deutlich, dass eine Verkündigungssituation mit einer christlich-religiösen Botschaft im Zentrum geschaffen wird, welche an die Öffentlichkeit gerichtet ist. Dazu zählen neben den einfacheren und eher isoliert auftretenden Botschaften (Dio ti ama, La preghiera spezza le catene) auch die Melina Riccio-Texte, wobei dort die explizite Nennung der Autorin eventuell als ‘Eigenwerbung’ interpretiert werden könnte. Generell gilt für diese Textgruppe, dass die Standortwahl insofern von Bedeutung ist, als die Botschaft an die Öffentlichkeit gerichtet ist und idealerweise möglichst viele effektive Rezipienten erreichen sollte, was jedoch v. a. bei den Riccio-Texten der Fall ist. Eine Markierung von Gebieten steht ebenso wenig im Fokus, wie die primäre Inbesitznahme der Flächen. Die geringe Textanzahl führt außerdem dazu, dass durch diese domänenspezifischen Scritte keine Räume gebildet werden, wie dies bei den großen Genres der Domänen POLITIK, ULTRAS, EXPRESSIVITÄT und DIVERSES in unterschiedlichem Ausmaß der Fall ist.
7.7. Funktionalität der FEMINISMUS-Scritte
Die FEMINISMUS-Domäne umfasst die wenigstens Texte (35) des Korpus, wovon außerdem 31 mit der linkspolitischen Subdomäne in Verbindung stehen.459 Dennoch erscheinen die Texte in ihrer Gesamtheit recht stabil und musterhaft, was aufgrund der geringen Anzahl doch verwundert. Generell kann diese Domäne auch als Untergruppe (oder Subdomäne) der politischen Domäne begriffen werden, wobei es mir im Abstraktionsprozess der Domänenbildung angebrachter schien, eine gesonderte Domäne zu bilden, da die Inhalte weniger explizit auf politische Inhalte eingehen, obwohl die hinter den Texten stehenden Gruppen meist politisch aktiv sind. Die Form der Scritte hebt sich u. a. dann auch deutlich von denen des politischen Prototypen ab, worauf ich in erster Linie in den nachfolgenden Zusammenfassungen eingehen möchte. Grundlegend gelten für diese Domäne, die in Kapitel ausgeführten Beobachtungen, wenn auch ihre spezifischen Eigenschaften vermuten lassen, dass ihre Funktionen von den (links)politischen Texten mehr oder weniger stark abweichen. Besonders wichtig ist, dass es sich nicht nur um eine kleine Menge von SM handelt, sondern diese auch zu großen Teilen aus ca. fünf Stencilserien gebildet werden. Die Interpretation der (Teil-) Funktion(en) muss also eher spekulativ verstanden werden und kann sich nicht auf eine feste Datengrundlage stützen.
7.7.1. Kommunikationsteilnehmer – FEM
Wie dies auch in den Texten der linkspolitischen Subdomäne geschieht, werden bei den FEMINISMUS-Scritte mehr oder weniger eindeutige Senderkennungen angegeben. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass hier nicht über politische Symbole gearbeitet wird, sondern Gruppenbezeichnungen (Cagne Sciolte, Femministe (A)Morose, Non Una Di Meno) angegeben werden und dies bei fast allen Texten. Teilweise besteht die gesamte Scritta lediglich aus dem Gruppennamen, was für die Interpretation der Gesamtfunktion von Bedeutung ist (s. u.).
Hinsichtlich des anvisierten Rezipientenkreises sind v. a. drei Faktoren von Bedeutung: erstens werden programmatische Inhalte vermittelt (Mai più violenza sulle donne, Nè maternità forzate nè sterilità imposte), zweitens handelt sich bei einem Großteil um Stencilserien, d. h. eher kleinformatigen Scritte, die nicht selten ausschließlich den Namen der Gruppe zeigen, und drittens erscheinen sie fast ausschließlich in linkspolitischen Territorien. Dies suggeriert, dass einerseits die Texte an die Öffentlichkeit gerichtet sind, da sie Forderungen und Appelle darstellen, andererseits jedoch scheint die kleinformatige Form und die Anbringung in linkspolitischen Territorien nicht geeignet, möglichst viele effektive Rezipienten zu erreichen. Die serienartige Anbringung des immer gleichen Textes wirkt dem offensichtlich entgegen, da die Wahrscheinlichkeit eine höhere Anzahl an Lesern zu erreichen steigt, aber es verhält sich letztendlich dennoch, wie mit den linkspolitischen Scritte im eigenen Gebiet, d. h. Bewohner der ‘eigenen’ Territorien werden adressiert. Diesen werden auf jeden Fall die Präsenz und die grundlegenden Einstellungen und Meinungsbilder der feministischen Gruppen kommuniziert.
7.7.2. Kontext (Ort und Zeit) und Kontakt (Werkzeuge) – FEM
Interessanterweise lässt sich trotz der geringen Menge der domänenspezifischen Scritte recht deutliche Muster in den ortsbezogenen Daten erkennen. Zwar können weder besonders klar Hotspots oder Territorien erkannt werden und auch eine territoriale Markierung, wie dies bei den politischen Texten der Fall ist, ist aufgrund der minimalen Quantität schwerlich abzulesen. Nimmt man jedoch die politische Domäne zum Vergleich, so wird deutlich, dass sich die feministischen Texte ausschließlich in linkspolitischen Territorien befinden (siehe DEFAULT und Karte unten). Die Hälfte der Scritte sind im Szeneviertel San Lorenzo zu finden. Zwei Scritte befinden sich im Grenzgebiet zwischen dem rechtsextremen Quartiere Africano und dem linkspolitischen Tufello, wobei die formalen Aspekte (siehe Abb. 317 und Abb. 318) deutlich machen, dass es sich um eher unauffällige Scritte handelt. In diesem Zusammenhang ist auch auffällig, dass keiner (!) der feministischen Texte modifiziert wurde, was gegeben der verarbeiteten Inhalte doch verwunderlich ist, wenn man die Texte mit anderen Domänen vergleicht. Neben der geringen Zahl der Scritte, wodurch die Texte weniger oft Ziel von Modifikationen werden können, ist vermutlich auch ausschlaggebend, dass sich die Texte fast ausschließlich in den linkspolitischen Territorien befinden und dort offensichtlich geduldet sind, wofür auch die ideologisch-inhaltliche Nähe der Produzenten spricht.
IK 36: Standorte der Domäne POLITIK – Vollbildanzeige
Lediglich bei zwei Texten tauchen zeitliche Referenzen in Form von Datumsangaben auf der Textoberfläche auf, wobei es sich vermutlich um Ankündigungen zu oder Erinnerungen an Demonstrationen handelt. Die Zeitaspekte, die stark von der Formseite der Scritte abhängig sind, also die Lektüre-bzw. Rezeptionsdauer, wurden bereits ausführlich besprochen. Da die Texte im vergleichsweise kleinen Format erstellt wurden, wird die Rezeptionszeit eigentlich erhöht, wobei die klare Form der Graphen und v. a. die Erstellung in Serie die Wahrscheinlichkeit der Rezeption erhöhen. Diese spezielle Form der Scritte, die sich doch deutlich von den klassischen, d. h. lediglich mit Sprühdose erstellten, Texten abhebt und bei 73 % der Scritte verwendet wird, lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipienten zusätzlich auf die Scritte.
7.7.3. Kode – FEM
Der Aspekt, dass SM in ihrer Gesamtheit als Kode fungieren, wird für die FEMINISMUS-Texte von besonderer Bedeutung, da die typische Verwendung von Stencils und die serienartige Erstellung das Gebiet auf besondere Weise prägen. Einzig die geringe Zahl der Scritte minimiert diesen Kommunikationsfaktor, wobei man jedoch weitere Stencils aus anderen und v. a. der politischen Domänen miteinkalkulieren muss. Betrachtet man die Verteilung von Stencils in San Lorenzo, so wird deutlich, dass sich diese meist in unmittelbarer Nähe voneinander befinden und zu großen Teilen aus dem Bereich POLITIK oder FEMINISMUS stammen. Über die gemeinsame, für SM (aus quantitativer Perspektive) generell eher atypische Form entsteht durch die geolokale Nähe und dem Erstellen in politisch dominierten Gebieten auch eine inhaltliche Nähe, welche – konsultiert man die Internetseiten der feministischen Gruppen – mit großer Wahrscheinlichkeit gewollt ist. Dafür spricht auch die Tatsache, dass keine der Stencils modifiziert wurden. Nachfolgend sollen knapp die einzelnen, kodebezogenen Attribute betrachtet werden.
Zur Tokenzahl pro Scritta können kaum Aussagen getroffen werden, da statistisch gesehen nur wenig Werte vorliegen. Zwischen zwei und sieben Token treten pro Scritta auf, wobei die Daten stark durch die serienartigen Stencils bedingt sind. Meist handelt es sich um parolen- oder sloganartige Textstücke, die wiederholt auftreten und in verkürzter Form auftreten, wie z. B. bei anche la rabbia esplode.
Bei knapp der Hälfte der Texte sind bildgraphische Zeichen verwendet worden, wobei es sich hauptsächlich (d. h. zu 76 %) um das Gendersymbol für Frau (auch Venussymbol genannt) handelt. Auch hier ist das wiederholte Auftreten in den Stencils ausschlaggebend.
Die Farbwahl ist insofern interessant, als neben der üblichen Dominanz von Schwarz (57 %), fast ausschließlich Farben gewählt werden, die stereotypisch als feminine Farben bezeichnet werden könnten, d. h. Rot, Rosa, Lila oder Pink (insgesamt 32 %). Die geringe Zahl an Texten erlaubt zwar lediglich spekulative Aussage, aber dennoch ist die Farbwahl auffällig, da entweder Farben gewählt wurden, die nur schlecht auf hellem Untergrund lesbar sind (Silber, Gelb, Orange) oder eben aus den oben genannten Farbspektrum stammen. Farben wie Blau, Grün oder Braun wurden überhaupt nicht gewählt.
Das Attribut der Typographie ist durch die Tatsache, dass es sich typischerweise um Stencils handelt, selbsterklärend, da Stencils wesentlich eine bewusst elaborierte Typographie zeigen. Dies gilt auch für die Domäne FEMINISMUS.
(Die Attribute der Sprachwahl sowie des Einsatzes von dialektalen Varianten oder Kürzungsverfahren sind nicht Belang.)
7.7.4. Mitteilung – FEM
7.7.4.1. Mitteilung – Information – FEM
Die Lexik der Domäne ist recht beschränkt, d. h., sowohl die verwendeten Lemmata als auch die Frequenzen der Worteinheiten konzentrieren sich auf einige wenige Werte. Die serienartige Erstellung der Scritte verstärkt dies nachhaltig und hinzu kommt, dass einige der Lemmata, wie z. B. cagna, sciolta, femminista, amoroso moroso, im Verbund als Gruppenbezeichnungen betrachtet werden müssen. Dabei sind die gebildeten Gruppenbezeichnungen programmatisch zu verstehen und oftmals selbstsprechend (femministe (a)morose). Tendenziell betreffen die Wortfelder die programmatischen Inhalte der aktiven Gruppierungen, wie z. B. macho, donna, corpo, diritto, decidere, toccare, antisessismo. Auch hier müssen die Aussagen allerdings unter der Bedingung verstanden werden, dass es sich maximal um Tendenzen handeln kann, da die Frequenzen schlichtweg zu niedrig sind.
Die Frequenzen der Mehrwortkombinationen zeigen letztlich die Stencilserien der Domäne, d. h., Textpassagen der Art anche la rabbia esplode, cagne sciolte oder né maternità forzata né sterilità imposta treten in höheren Frequenzen auf.
7.7.4.2. Mitteilung – Nachricht – FEM
Trotz der verhältnismäßig geringen Anzahl der Scritte, liegt ein möglicher Deutungszugang zur funktionalen Ebene in der Verteilung der Standpunkte der Texte, die sich fast ausschließlich in linkspolitischen Territorien befinden. Da die Texte ausnahmslos keine Modifizierungen aufweisen und die verarbeiteten Inhalte auch aus politischer und/oder ideologischer, sicherlich aber gesellschaftlicher Sicht, brisant sein dürften, scheinen die linkspolitischen Gruppierungen der entsprechenden Gebiete diese feministischen Gruppen zu dulden oder zu wünschen. Viele der Gruppen, die hinter den Texten stehen, sind nach eigenen Aussagen linkspolitisch engagiert, wobei dennoch eine klare Ausrichtung zum Feminismus erkennbar ist. Es handelt sich also nicht zwangsläufig um Untergruppen der ortsansässigen Linksautonomen, sondern eher um eigenständige Gruppierungen, die sich über die Scritte problemlos in den Territorien sichtbar machen können. Durch die Nähe zu den linkspolitischen Gruppen scheinen auch die dort gültigen Funktionen der Kommunikation von programmatischen Inhalten und Ortsmarkierungen zentrale Funktionen zu sein. Die Inhalte werden dabei in erster Linie über die spezielle Form der Stencils, die eine Erstellung in Serie erlaubt, kommuniziert und durch die vergleichsweise atypische Form die Aufmerksamkeit der Rezipienten erreichen kann. Das Abweichen von Prototypen und der Nutzen davon wird hier also besonders deutlich. Die Ortsmarkierung spielt ebenso eine Rolle, wenn auch in weitaus geringerem Maße.460 Die Texte können aufgrund der niedrigen Zahl bei weitem nicht die gleiche Dominanz wie politische (oder auch ULTRAS-) Scritte erreichen und befinden sich außerdem in bereits ‘besetztem’ Gebiet. Dennoch wird durch die sich abhebenden Stencils eine gewisse Inbesitznahme des Raumes kommuniziert, die aber scheinbar geduldet wird. Weitere Untersuchungen mit einer höheren Zahl an Texten wäre wünschenswert und nötig, um sichere Aussagen treffen zu können.
8. Schlussteil und Ausblick
Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, ist es möglich diese komplexe Kommunikationsform aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren. Die Musterhaftigkeit und verfestigte Kommunikationsprozesse konnten herausgestellt und über Prototypen erfasst werden. Dabei gilt, dass die hier gezeigten Prototypen bis zu einem gewissen Grad als idealisiert begriffen werden müssen, da grundlegend davon ausgegangen wird, dass die Prototypen als solche von größeren Personen- und/oder Gesellschaftsgruppen erkannt werden, was sich an den Artefakten (also den Scritte) ablesen lässt. Es sei darauf hingewiesen, dass die Prototypen auch andersartig gruppiert werden könnten, etwa nach ihrer Ortsabhängigkeit oder ihren Funktionalitäten. Dennoch bleibt die thematisch-inhaltliche Kategorisierung, wie sie hier unter dem Begriff der Domänen stattgefunden hat, bleibt m. M. n. gültig und würde auch bei einer abweichenden Gruppierung von großem Nutzen bleiben.
In der Arbeit wurde evident, dass die Ortsabhängigkeit der Scritte Murali ein zentraler Deutungsschlüssel ist und somit nicht nur als Zugang zur Klärung der Genre-Funktionen unerlässlich sind, sondern in ihr die Distinktheit und Spezifität dieser Kommunikationsform zu finden ist. Das klassisch-postale Kommunikationsmodell (Sender – Nachricht – Empfänger) muss daher um diese Instanz (Ortsabhängigkeit bzw. Standort) erweitert werden (Teilnehmer – Nachricht – Standort), wobei eine nicht unerhebliche Menge an Wissensbeständen und Einstellungen der Teilnehmer zu einer gelungenen Kommunikation beitragen. Scritte Murali funktionieren dann über die Triangulation der schriftsprachlichen Inhalte, des Welt- und Hintergrundwissens der Einzelindividuen und deren Vernetzung in soziale Gruppen und Systeme und schließlich des konkreten Standortes als Genres, wie sie im Verlauf der Arbeit beschrieben wurden, d. h. sozio-kognitive Mittel in Form von strukturierten Komplexen, die der Sinnstiftung im Alltag dienen und denen normative und musterhafte Typisierungsprozesse zugrunde liegen (siehe DEFAULT). Hervorzuheben ist, dass die Ortsabhängigkeit dabei nicht als objektive Datengröße zu verstehen ist, da ‘nackte Ortsdaten’ im Sinne von geographischen Koordinaten streng genommen nichtssagend sind und immer in Hinsicht auf die Teilnehmer und ihrer räumlich-geographischen Einbettung interpretiert werden müssen. Die gesammelten Daten bzw. Artefakte zeigen also das Ergebnis der von den Produzenten kalkulierten Rezeptionsprozesse, um diese zielgerichtet zu steuern oder zu beeinflussen. Durch die Wahrnehmung, Interpretation und Reaktion (wozu auch das Nicht-Reagieren zählt) entstehen dann kommunikative Räume. Generell lässt sich für SM festhalten, dass sich die Produzenten an diesen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen der Empfänger orientieren und dementsprechend die texte an strategisch belangvollen Standorten erstellen, wobei sie sich ständig und dynamisch an die Nutzungsbedingungen anpassen. Die Aufrechterhaltung der subjektiv interpretierten Räume geschieht dann einerseits durch die stetige Erneuerung (bei größeren oder dominanteren Genres) der SM in den entsprechenden Gebieten. Intersubjektive Deutungsprozesse (etwa innerhalb von Szenen oder Milieus, aber auch der Anwohner oder Besucher bestimmter Gebiete) spielen dabei eine zentrale Rolle. Neben den zentralen schriftsprachlichen und inhaltlichen Faktoren ist die Bildhaftigkeit der SM als Ganzes für die Generierung der Räume ausschlaggebend. So dürfen auch Modalitäten wie Farbwahl, Größe der Scritte oder typographische Merkmale, wie auch das Nichtvorhandensein von SM, nicht unbeachtet bleiben. Auf Textebene geschieht die Zuordnung der Einzelscritte hauptsächlich über Schlüsseltoken (frame identifier), kann aber auch durch sekundäre (Farbwahl, Typographie) oder subsidiäre (Erstellungswerkzeuge, Träger) Attribute gesteuert werden. Senderinformationen bzw. -kennungen spielen bei der Kategorisierung der SM eine der grundlegendsten Funktionen461. Dabei wird besonders in den Genre-Domänen, die sich auf größere Gebiete erstrecken, auf verkürzende und verdichtende Verfahren zurückgegriffen (etwa Akronyme, Symbole, spezifische Farbwahl usw.).
Im Verlauf der Arbeit wurde demonstriert, dass die nach Domänen gruppierten Genres unterschiedliche Funktionen tragen und – wie bereits zusammenfassend bemerkt – auf Basis der Rezeptionsprozesse produziert werden. Die SM sind also Artefakte, an welchen sich die (Sprach-) Handlungen bestimmter Einzelpersonen und – im Kontext der SM – v. a. Gruppierungen ablesen lassen. Besonders die großen Domänen POLITIK, ULTRAS und EXPRESSIVITÄT lassen dabei einen gewissen Grad an Konventionalität erkennen, was sich besonders auf Textebene zeigt. Neben einigen Gemeinsamkeiten462 und den teils unscharfen Grenzen zwischen den domänenspezifischen Prototypen, ließen sich stabile Prototypen ausmachen, welche eine Interpretation der verschiedenen Hauptfunktionalitäten erlauben. So fungieren politische (und eventuell auch FEMINISMUS-) Scritte über weitgefasste Flächen (Territorien) und sind hinsichtlich ihrer Ortsverteilung meist deutlich abzugrenzen. ULTRAS-Texte funktionieren war ähnlich (v. a. hinsichtlich ihrer territorialen Markierung), treten dabei jedoch auf eher begrenzteren Flächen auf. Davon klar abweichend sind die Hotspots der DIVERSES- und EXPRESSIVITÄT-Genres zu werten, welcher eher als Artefakte der kommunikativen und sozialen Situation von Jugend- und Peergruppen darstellen und eher als ritualisierte In-Group-Kommunikation zu verstehen ist und weniger an die Öffentlichkeit gerichtet zu sein scheinen. Einzelscritte – besonders aus dem Bereich DIVERSES und EXPRESSIVITÄT – können hier als Momentaufnahmen mit weitaus geringerer Reichweite und einer starken Individualisierung in Bezug auf die Teilnehmer, sowie einer kathartischen Grundlage begriffen werden. Ausgehend von der Standortverteilung lässt sich also ein Kontinuum erkennen, beginnend mit dem Pol der politischen und Ultras-Texte, über die expressiven und DIVERSES-Hotspots, bis hin zu den Einzelscritte der Genres EXPRESSIVITÄT und DIVERSES. Die restlichen Genres (IDEOLOGIE, RELIGION und FEMINISMUS) sind weitaus weniger aussagekräftig, schon allein, weil sie viel seltener auftreten. Tendenziell lässt sich die Nähe zu bestimmten Nachbardomänen feststellen, etwa FEMINISMUS und POLITIK oder IDEOLOGIE und ULTRAS). Das Genre RELIGION hebt sich noch am meisten von den anderen Domänen ab, bietet jedoch schlichtweg zu wenig Texte, um handfestere Aussagen zu treffen. Zweifelsfrei ist jedenfalls davon auszugehen, dass Scritte Murali ohne die Berücksichtigung der Ortsdaten nicht als Genres interpretiert werden können. Eine Interpretation, die sich rein auf die sprachliche Ebene stützt, würde z. B. die zentrale Funktion der indexikalischen Markierung von Gebieten kaum herausstellen können, da explizite meta-referenzielle Verweise in den Texten nur in begrenztem Ausmaß auftreten.
Diese Ortsbedingtheit und damit letztlich die Distinktheit gilt eventuell auch für Graffiti generell, etwa wenn man aktuelle Beispiele des Street-Art-Künstlers Banksy betrachtet, da die bewusst gewählten Orte auch hier entschieden zur Funktion der Gesamtbotschaft beitragen. Auch American Graffiti, die zwar wahrscheinlich nicht von der gleichen Tragweite in der Öffentlichkeit wie die Werke von Bansky profitieren, sondern eher in der Graffiti-Szene Beachtung erfahren, werden durch die Wahl des Standortes bedingt. Eine (vergleichende) Studie wäre hier sicherlich interessant. Wünschenswert wäre ausserdem ein städte- oder länderübergreifender Vergleich von Scritte Murali, sowie Studien zu bestimmten Gebieten über längere Zeiträume, um Änderungen auf den verschiedenen Ebenen dokumentieren und analysieren zu können. Auch eine eingehendere Untersuchung einzelner, oben gezeigter Phänomene und/oder attributiver Auffälligkeiten (z. B. Kürzungsverfahren, Typographie, Farbwahl, Wortbildungen oder Konstruktionen) wäre ebenso ein Desiderat, wie teilnehmerorientierte Analysen und Vertiefungen, etwa durch Fragebögen oder Interviews.
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Die vorliegende Arbeit versteht sich als sprachwissenschaftliche Arbeit, deren Fragestellung sich nicht auf ein rein sprachliches Phänomen der Scritte Murali beschränkt, sondern diese holistisch zu betrachten versucht. Meiner Meinung nach ist eine holistische Fassung der konstitutiven Parameter des Phänomens Scritte Murali und v. a. eine davon abzuleitende Erklärung der Funktionalitäten nicht ohne interdisziplinäre Ansätze möglich. Zweifelsfrei ist die Sprache innerhalb dieser Kommunikationsform von zentraler Bedeutung, weshalb sich die Sprachwissenschaft ganz besonders als wissenschaftliche Disziplin für eine Analyse eignet.
I think [Rosch]’s work shows clearly that category membership is not simply a yes-or-no matter, but rather a matter of degree. Different people may have different category rankings depending on their experience or their knowledge or their beliefs, but the fact of hierarchical ranking seems to me to be indisputable. Robins simply are more typical of birds than chickens and chickens are more typical of birds than penguins, though all are birds to some extent. Suppose now that instead of asking about category membership we ask instead about the truth of sentences that assert category membership. If an X is a member of a category Y only to a certain degree, then the sentence ‚An X is a Y‘ should be true only to that degree, rather than being clearly true or false. (1973, 460)
– Prototypische Exemplare schneller kategorisiert werden, als dies bei peripheren Mitgliedern der Fall ist.
– Kinder erlernen prototypische Vertreter vor nicht-prototypischen.
– Prototypen fungieren als kognitive Referenzpunkte.
– Lässt man Sprecher Mitglieder einer Kategorie aufzählen, so werden normalerweise die Prototypen zuerst genannt. (vgl. Kleiber 1998, 38-39; Heider 1972)
„Actually, both basic levels and prototypes are, in a sense, theories about context itself. The basic level of abstraction is that level of abstraction that is appropriate for using, thinking about, or naming an object in most situations in which the objects occur [cite key="16700" nopar="true"]. And when a context is not specified in an experiment, people must contribute their own context. Presumably, they do not do so randomly. Indeed it seems likely that, in absence of a specified context, subjects assume what they consider the normal context or situation for occurrence of that object. To make such claims about categories appears to demand an analysis of the actual events in daily life in which objects occur.“ (Rosch 1978, 43)
Die Methodik der vorliegenden Arbeit basiert bekanntermaßen nicht auf Experimenten, sondern die Analyse geschieht auf Basis von heuristisch-interpretierenden Ansätzen, wobei der Kontext niemals neutral, sondern ganz konkret ist.
<<Anarchie>>.