Toponomastische Kontinuität in Bayern (und in der Romania Submersa)

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Schlagwörter: Archäologie , Kontinuität , Romania submersa , Substrat , Toponomastik

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  1. Referenz auf den gesamten Beitrag:
    Thomas Krefeld (2023): Toponomastische Kontinuität in Bayern – und in der Romania Submersa (Präsentation), Version 1 (10.11.2023, 13:09). In: Korpus im Text, Serie A, 111529, url: http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=111529&v=1
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  2. Referenz auf einen Abschnitt oder Nachweis eines Zitats: http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?p=111529&v=1#p:1
    Diese URL enthält einen Hinweis auf einen spezifischen Abschnitt (…p:1). In diesem Fall ist sie mit dem ersten Absatz verknüpft. Eine vollständige Referenz kann jeweils über die Ziffern in den grauen Quadraten am rechten Rand des Satzspiegels abgegriffen werden.

Das slawische Substrat wird in
diesem Beitrag nicht berücksichtigt.

1. Hinweis

  • kein Beitrag zur etablierten Toponomastik germanistischer Provenienz
  • komplementär dazu: den Abgrund zwischen Spätantike und (hoch)mittelalterlichem Beginn der Namenüberlieferung  toponomastisch in umkehrter Richtung überbrücken
    ⇒ ausgehend von archäologisch gesicherten Fundorten und -typen 

2. Synchronische Vorbemerkung zu Toponymen auf appellativischer Basis

in der Theorie:

  • Eigennamen (Nomina propria) ⇒ referieren auf unikale Ausschnitte der Realität (z.B. München)
  • Appellative (Nomina appellativa) ⇒ bezeichnen Klassen oder Kategorien von Realitätsausschnitten (z.B. deu. Stadt)

in der Praxis:

  • Appellative mit onomastischer Funktion, vor allem solche generischer und semantisch trivialer Bedeutung
  • häufig zirkuläre Motivation (Beispiel in der Nähe von Weißbach bei Lofer, Pinzgau; vgl.  Karte): Seehorn ↔Seehornsee

zirkuläre Motivation zwischen SEE und GIPFEL I (interaktive Karte https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=231&tk=4898&layer=1)

zirkuläre Motivation zwischen SEE und GIPFEL II (interaktive Karte https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=231&tk=5008&layer=1)

  • Onomastischer Zirkel

  • synchrone Toponomastik: weite Verbreitung semantisch elementarer appellativischer Basen
  • diachrone Toponomastik: appellativische Basis häufig verdeckt (Demotivation)
    • Konservierung von obsolet gewordenen Appellativen in toponomastischer Funktion

3. Substratale Toponomastik in der Romania submersa

    • elementare appellativische Basis
    • Konservativität

⇒ fundamental für die Toponomastik der Romania submersa

zwei Szenarien

3.1. Szenario I: evidente Kontinuität und Herkunft aus dem Substrat

Die Ortsnamen der Tabula Peutingeriana im Alpenraum (interaktive Originalkarte: https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de?page_id=133&noredirect=de_DE&db=xxx&tk=5017)

  • allerdings: nur wenige Toponyme bereits in der Antike bezeugt
  • deshalb: Fokus auf einen zweiten, zu wenig beachteten Typ toponomastischer Kontinuität
Toponyme auf Basis lat.-rom. Appellative mit Referenz auf eine archäologisch gesicherte Realität (Typ 1.2)

u.U. Rückschlüsse auf die aktuelle Romania (vgl. zu fra. bourg / ita. borgo Krefeld 2018ah, zu fra. route, ita. rotta, bair. Rott vgl. Krefeld 2020s, https://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?band=spaetantik-fruehmittelalterliche-kontinuitaet-in-der-romania-submersa&v=0#subchapter:4-3-rott22)

    • dringend wünschenswert: exhaustiver Abgleich mit dem Portal vici.org  
einige toponomastisch relevante Konzepte lat. Bezeichnungen (Nominativ und Akkusativ, falls ungleichsilbig) und entlehnte Appellative bzw. einzelne Toponyme ⇒ quantitativ zu überprüfen , durch suffigierte lat. Formen zu ergänzen
LANDGUT villa, villaris > Weil, Wyhl u.a., Weiler
ZIVILE KLEINSIEDLUNG vicus > Weichs, Weiß, Wies u.a.
MILITÄRISCHES LAGER castrum, castra > Kästrich u.a.
KLEINE MILITÄRISCHE BEFESTIGUNG burgus > Burg, A, T
EINFACHES ZIVILES GEBÄUDE taberna > Zabern
MAUER murus > Mauern
BRUNNEN puteus > Pütz
BRENNOFEN fornāx, fornācem > Fornach 
HAFEN portus > Porz, Pforz-
WASSER aqua > Aich ? Ache ? Aach im Allgäu 
THERMALQUELLE aquae > Aachen
QUELLE fons, fontem > Finthen (Mainz)
STRASSE strata > Straße, Strad, Strass-, u.a.
(via) rupta > Rott
caminata > Kematen
STRASSENSTATION statio, -nem > Stetten
HERBERGE mansio, -nem > Massen-
BRÜCKE pons, pontem > Pfünz, Pfunds, -pfunzen, Pont (Kr. Geldern)
EBENE FREIE FLÄCHE campus > Kempen (Niederrhein, Maas) ?
SEE lacus > Laach 
FLUSS flumen, fluminem > Flonheim, Le Flon
MÜNDUNG EINES FLUSSES IN EINEN ANDEREN confluentes > Koblenz
BERG mons, montem > Kellmünz, Mundingen, Munzingen?
HÜGEL *mŭtta (vorlat.) > Mutten?
collis > Kall (Eifel)?
SUMPF palus, paludem > Pähl (Obb.)?
WIESE pratum, + illum (pratellum) > Pratteln, Pradl (Innsbruck)

3.1.1. Beispiel lat. strata (via) 'gepflasterte Straße'

  • Beispiel: das winzige Dorf Strad, direkt an der Via Claudia Augusta (Tirol) < lat. strata (via) 'gepflasterte Straße' (vgl. http://www.zeno.org/Georges-1913/A/strata)
    • späte Übernahme, keine 2. Lautverschiebung
    • in unmittelbarer Nähe: Walchenbach und Tarrenz (< lat.torrĕnte(m)?)

Toponym Strad, rote Line: gesicherte Römerstraße (interaktive Grundkarte <https://vici.org/#9/47.27395367927852,11.32612749609747/18165>)

    • frühere Übernahmen, mit 2. Lautverschiebung: 

Strasslach, Straßwalchen gesicherte Römerstraße (interaktive Grundkarte https://vici.org/#10/47.976829067578905,12.563169441496964)

 Romania Submersa, lat. strata (via) (1) > deu. Toponyme, Strad, Straßlach
(2) > deu.  Appellativ Straße

3.1.2. Beispiel lat. villa (rustica) 'Landgut'

  • in der Galloromania emblematisch für die Kontinuität spätantiker Infrastruktur (villae rusticae
  • zahlreiche gesicherte Fundareale (mit regionalen Verdichtungen)

Villae rusticae (lila Symbol) in der Romania Submersa (Ausschnitt; interaktives Original <https://vici.org/#8/49.51513573813665,9.019756151543058>)

3.1.3. Beispiel lat. mansionem>  'Herberge'

Massenbach (< mansionem) an einer gesicherten Straße (Ausschnitt aus <https://vici.org/#13/49.05133831343957,10.94942510331033>)

  •  ähnlich Massenheim (bei Wiesbaden), im Umfeld: Weilbach, Wallau (link zu vici.org)

3.1.4. Beispiel lat. pontem 'Brücke'

Altmühlübergang bei Eichstätt

Pfünz (< pontem) an der Altmühl bei Eichstätt, mit einer eventuell auf die Antike zurückgehenden Brücke  und diversen anderen Funden (Ausschnitt aus <https://vici.org/#15/48.889825014019124,11.258197060629751/57960>)

4. Szenario II: mögliche aber problematische Kontinuität

erforderlich: explizite Plausibilitätskriterien für die Annahme substrataler Herkunft

4.1. Toponyme ohne plausible deutsche Etymologie

⇒ der plausibelste Typ (Typ 2.1):

(1) keine deutsche (germanische) Etymologie
(2) Existenz einer semantisch und phonetisch pausiblen lat.-rom. Etymologie
(3) Existenz romanischer Entsprechungen mit identischer Etymologie in den romanischen Nachbarvarietäten

Beispiel: Name einer Alm Teie(n), belegt in VALTS IV, mappa 73, in Langwies (Graubünden), Steeg und Häselgehr (Tirol)

      • entspricht dem lessikalischen Typ alem./bair. Teie(n) 'Sennhütte' (grünes Gebiet)
      • Entlehnung aus dem romanischen Substrat, wie die aktuelle Verbreitung im Rom. (rotes Gebiet) zeigt zo tegia ‘Sennhütte und ähnl.’ < prelat. (*tegia)

 

Der vorlateinische Typ *tegia als Almname in Langwies, Steeg, Häselgehr; Quelle VALTS IV, 73) und appellativische Kognaten desselben Typs (interaktive Originalkarte https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de?page_id=133&amp;db=xxx&amp;tk=5021)

4.2. Toponyme mit konkurrierenden Etymologien aus dem Deutschen und aus dem Substrat

  • deutsche Konstituenten
  • aber: ähnliche und semantisch plausiblere Entsprechungen in den aktuellen romanischen Dialekten  (Typ 2.2)

4.2.1. Beispiel Aich

Un esempio del toponimo Aich (carta interattiva originale)

drei Fragen:

  • rein graphische Varianten ein und desselben etymologischen Typs (= Eiche) ?
  • zwei etymologische Typen, graphisch eindeutig geschiedene?
  • zwei oder mehrere etymologische Typen, graphisch nicht eindeutig durch zwei Varianten geschrieben?

Aich = Variante des Toponyms Aachen < lat. Aquis [Granni], auf fra.: Aix-la-Chapelle, auf ita: Aquisgrana

  • phonetische Entsprechung romanischer Varianten, vgl. ladinisch und friaulisch ega, ɛga, aga ‘Wasser’ < lat. aqua(m), vgl.. AIS 1037 ACQUA:

Estratto da AIS 1037 ACQUA

  • Schwund des Auslautvokals und folgende Auslautverhärtung entsprechen den Regeln hist. Phonetik des Deutschen (vgl. lat. lactūca  > deu. Lattich).  

4.3. Toponyme mit substratalen Etymologien ohne aktuelle romanische Entsprechungen?

ultima ratio: Annahme lateinischer / vorlateinischer Etymologien ohne appellativische oder toponymische Kognaten im Romanischen
  • äußerst problematisch (Typ 2.3)

4.3.1. Beispiel Arzl

  • 3 toponymische Belege

Das Toponym Arzl (Grundkarte vici.org)

besser:

4.4. Schema der skizzierten toponomastischen Typen

 

Typen Kriterien Kontinuität
(i)
Topon. antik
bezeugt
(ii)
archäol.
Funde
(iii)
substratales
Appell.
(iv)
rom. Entsprech.
(1.1) + + +/- +/- evident
(1.2) - + + +
(2.1) - - + + abnehm.
Plausibilität


(2.2) - + + -
(2.3) - - + -
Plausibilität substrataler Kontinuität

4.5. Areale Verdichtungen

  • Stärkung der Plausibilität bei Kumulation von Fällen des Typs 2.1?

4.5.1. Beispiel Karwendel

  • Beispiele des Typs 2.1 (ohne deutsche Etymologie)

mögliche substratale Toponyme (Typ 2.1) im Karwendel

4.5.1.1. Etymologische Kommentare

Juifen < lat. iugum ‘Joch’ (cfr. Georges s.v.)

Auszug aus AIS 1240 GIOGO, JOCH

Larchetalm < lat. Akk. laricem (larix) ‘Lärche’ + Suffix -ētum ‘Lärchenwald’, vgl. ita. lariceto

Pleisenspitze < vorlat. *blese ‘steiler grasiger Hang’

Hochgleirschlat. glarea ‘Kies + Suffix -iciu

Lafatscher < lat. lapathium ‘Sauerampfer’ (cfr. Georges s.v.)

Auszug aus AIS 629 RUMEX ALPINUS, ALPENAMPFER

Vereiner Alm < lat. vēr ‘Frühling’ (Georges s.v.) + suffisso -ānum

      • vgl. spa. verano ‘estate’ (cfr. REW 2916), als Appellativ weder in rom. Alpendialekten noch im Italoromanischen außer im Kors. und Sard. (cfr. AIS 312)
      • aber als Toponym Vereina im heute alem. (wals.) Klosters (vgl. https://search.ortsnamen.ch/de?query=vereina)

Christlum < lat. crĭsta ‘Kamm’ + lŏnga ‘lang’

Beispiele des Typs 2.2 (mit konkurrierenden Etym. aus dem Deu. und aus dem Substrat)

Grabenkarspitze

Grawa Alm im Stubaital nahe Innsbruck

      • vorlat., gallisch? (so REW 3851, <https://www.rew-online.gwi.uni-muenchen.de/?id_entry=56392>)
      • Konstituente Kar, in zahlreichen Toponymen, Karwendel, Karerpass, Karawanken, jenseits der Alpen: Karpaten, die griechische Insel ΚάρπαθοςKárpathos - alles aus Kalk (helles Gestein) 

Krapfenkarspitze

5. Perspektive

  • offene online Dokumentation (FAIR) für archäologische (vici.org) und onomastische Daten (z.B. Ortsnamen.ch)
      • kartographische Darstellung (nach dem Modell von Verba Alpina)
      • Tool zur Erhebung der dialektalen Formen (fehlen auf den verfügbaren Karten weitestgehend)

Bibliographie

  • Boerio 1867 = Boerio, Giuseppe (31867 [1829]): Dizionario del dialetto veneziano, con l'indice italiano-veneto, Venezia, Giovanni Cecchini (Link).
  • DTT = DTT (o.J.): Dizionario Toponomastico Trentino (Link).
  • Fritz o.J. a = Fritz, Michael (o.J.): Arzl im Pitztal, in: Geschichte Tirol. Nordtirol - Südtirol - Osttirol, Innsbruck (Link).
  • Krefeld 2018ah = Krefeld, Thomas (2018): Tacitus, der linke Niederrhein und die Etymologie von fra. bourg, ita. borgo usw., in: Schäfer-Prieß / Schöntag 2018, 39-50.
  • Krefeld 2020s = Krefeld, Thomas (2020): Spätantik-frühmittelalterliche Kontinuität in der Toponymie der Romania Submersa, in: Korpus im Text, vol. 12, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2021l = Krefeld, Thomas (2021): Voci alpine, in: Metodologia, VerbaAlpina-it 23/1 (Link).
  • Krefeld 2023b = Krefeld, Thomas (2023): ‘Publikation’ geht in Revision, in: Korpus im Text, Serie A, 104645, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2023c = Krefeld, T. (2023): FELS, in: Lexicon Alpinum, VerbaAlpina-de 23/2 (Link).
  • Ortsnamen.ch = Ortsnamen.ch: Das Portal der schweizerischen Ortsnamenforschung (Link).
  • REWOnline 2022 = REWOnline (2022): Zacherl, Florian: Digitale Aufbereitung des Romanischen etymologischen Wörterbuches von Wilhelm Meyer-Lübke, München (Link).
  • TLIO = Leonardi, Lino (2017): Tesoro della Lingua Italiana delle Origini Il primo dizionario storico dell'italiano antico che nasce direttamente in rete fondato da Pietro G. Beltrami. Data di prima pubblicazione: 15.10.1997 (Link).
  • VALTS IV = Gabriel, Eugen / Klausmann, Hubert / Krefeld, Thomas (1991 ff.): Vorarlberger Sprachatlas. Band 4. Wortgeographie I, Bregenz, Vorarlberger Landesbibliothek.
  • Verba Alpina = Krefeld, Thomas / Lücke, Stephan (2014-): VerbaAlpina. Der alpine Kulturraum im Spiegel seiner Mehrsprachigkeit, München (Link).
  • vici.org = Voorburg, René (2014): veni, vidi, [wi:ki:]. Atlas zur Archäologie des Altertums (Link).

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