Spätantik-frühmittelalterliche Kontinuität in der Toponymie der Romania Submersa

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Schlagwörter: Historische Linguistik , Sprachgeschichte , Romania submersa , Substrat , Toponym


1. Semiotische und diachronische Aspekte der Toponomastik

1.1. Namen im sozialen Raum

Die Struktur sozialer Räume zeigt sich in ganz unmittelbarer Weise in Siedlungsformen, den verbindenden Verkehrswegen sowie in der Art und Intensität der Flächennutzung außerhalb der Siedlungen; ein grundlegendes, wahrscheinlich unverzichtbares Organisationsprinzip dieser Räume besteht in der Vergabe von Namen, die es erlauben auf räumliche Gegebenheiten zu referenzieren und den Raum, in dem soziales Leben stattfindet, als solchen kommunizierbar zu machen1. In technischen Anwendungen werden die Namen durch Koordinaten / Zifferncodes (Link) ergänzt oder auch ersetzt, die zwar in vergleichbarer Weise funktionieren, jedoch eine vollkommen eindeutige und punktgenaue Referenz gestatten. Unter den medialen Bedingungen der Gegenwart lässt sich jeder beliebige Punkt mit einem Geocodes identifizieren. Sowohl Ortsnamen als auch Geokoordinaten / Geocodes sind in semiotischer Hinsicht indexikalische Zeichen;  ohne sie können wir nicht auf den Raum referieren und die Orientierung ist nicht kommunizierbar. Aber jenseits ihrer funktionalen Äquivalenz unterscheiden sich Namen im eigentlichen Sinn von Geokoordinaten / Geocodes durch ihre Bindung an Einzelsprachen und durch die damit verbundene Tatsache, dass sie dem historischen Wandel ausgesetzt sind. Trotz ihrer unbestreitbaren Einzelsprachlichkeit (die sich nicht zuletzt in der Tatsache niederschlägt, dass oft ganz unterschiedliche Formen für identische Orte koexistieren, wie im Fall von deu. Sterzing / ita. Vipiteno) unterscheiden sich Namen jedoch von den anderen Zeichen einer Sprache durch ihre deutlich geringere Anfälligkeit für diachronen Wandel: In Namen erhalten sich oft ältere Sprachzustände2 oder sogar Sprachen, die in der jeweiligen Gegend gar nicht mehr gesprochen werden. Der Grund dafür liegt in der bereits genannten Indexikalität der Namen: Konstante Namen erleichtern die Orientierung auch in mehrsprachigen Räumen.  In derartigen Namen, die den (womöglich mehrfachen) Sprachwechsel einer Region überdauern, kann man daher Relikte zweisprachiger Phasen und den Nachweis kontinuierlicher Raumnutzung sehen. Toponyme und Hydronyme sind also ein privilegiertes Reservat von Substratsprachen, und die Toponomastik ist von grundlegender Bedeutung für die historische Rekonstruktion von Siedlungsräumen: Während Sprachen nur mittelbar – über den Aufenthalt ihrer Sprecher – mehr oder weniger charakteristisch für bestimmte Gegenden sind, zeichnen sich Ortsnamen durch eine ganz unmittelbare Ortsbindung aus.

1.2. Referenz und Semantik

Namen referieren, d.h. sie identifizieren ihre jeweiligen Referenten; darüber hinaus brauchen sie keine generische ‘Bedeutung’ zu haben. So sind Ortsnamen wie Köln, München, Bergnamen wie Kramer, Serles, Flussnamen wie Ache, Amper auch der Bevölkerung, die mit den jeweils identifizierten Orten/Flüssen vertraut ist, über die schiere Referenz hinaus absolut nicht verständlich. Allerdings gibt es durchaus bedeutungshaltige Namen, die durch bestimmte Attribute der bezeichneten Realität motiviert sind; die Trennung zwischen nomina propria (Eigennamen) und nomina appellativa (Appellative) ist also keineswegs kategorisch, denn Appellative werden ebenfall in der Funktion von Namen verwendet  (vgl. den Ort Mühldorf, den Berg Grasberg, das Gewässer Weißbach usw.); diese Namen sind sogar äußerst zahlreich. Die genannten Beispiele wurden ein wenig intuitiv, aber keineswegs zufällig gewählt. Sie sollen vielmehr darauf hinweisen, dass die Appellative, die in Namen eingegangen sind, zum frequenten Basiswortschatz gehören und ganz alltägliche Konzepte bezeichnen. Zudem wiederholen sie sich oft (vgl. die zahleichen ‘populated places’ im Portal geonames.org mit dem Namen Mühlbach).  Es ist vor diesem synchronen Hintergrund daher von vornherein nicht besonders sinnvoll, in der historischen Rekonstruktion semantisch sehr spezifische Etyma anzustreben.

1.3. Mehrsprachigkeit und Stratigraphie der Romania Submersa

Die Gebiete des Römischen Reichs, in denen heute keine romanischen Sprachen gesprochen werden, die sogenannte Romania Submersa, verdienen vor diesem Hintergrund ein besonderes Interesse: Wegen der sowohl in strategischer als auch in pragmatischer Hinsicht systematisch erscheinenden Raumerschließung durch die Römer ist einerseits mit Relikten vorrömischer Strata zu rechnen, und andererseits kann man davon ausgehen, dass sich in der Fortführung und Nachnutzung römischer Infrastruktur manche lateinisch-romanischen Namen erhalten haben. Es handelt sich also um substratale Räume, die man – genauer gesagt – als polystratal qualifizieren darf (vgl. Krefeld 2020o). Für die Rekonstruktion der mutmaßlichen Strata, d.h. für die geolinguistische Stratigraphie (vgl. DEFAULT) ist das infrastrukturelle Gerüst der Römerzeit von zentraler Bedeutung, denn in den Namen und appellativischen Bezeichnungen der  militärischen Einrichtungen, Siedlungsplätze und Straßen sowie in geringerem Maße auch der Häfen (lat. portus in deu. Piesport, Köln-Porz, Pforzheim), der heißen Quellen (lat. aquae in deu. Aachen) u.a., ist zunächst manches  Vorrömisches erhalten. Sodann ist diese römisch-romanische Schicht (inklusive der lateinisch adaptatierten vorrömischen Relikte) bis heute deutlich erkennbar: römische Namen und lateinisch-romanische Entlehnungen haben die dialektale Variation der ehemals römischen Gebiete auch über den Sprachwechsel zum Germanischen hinaus geprägt.

1.4. Toponomastische Kontinuität – zwischen Evidenz und abgestufter Plausibilität

Grundsätzlich muss zwischen evidenter und mehr oder weniger problematischer Kontinuität unterschieden werden. Evidente Kontinuität ist dann gegeben, wenn an einem Ort ein aus der Antike überlieferter Name noch in der heutigen Namensform mehr oder weniger eindeutig erkennbar ist, wie z.B. die Konstituente Augs- in Augsburg als Fortsetzer des antiken Augusta (Vindelicorum). Evidente Kontinuität ist aber auch dann gegeben, wenn ein Ortsname auf ein lateinisch-romanisches Appellativ zurückgeführt werden kann, das am Ort auf eine historisch-archäologisch über Bau- bzw. Bodendenkmäler gesicherte Realität referiert (vgl. die Beispiele in DEFAULT).

Eine problematische oder hypothetische Kontinuität kann unter bestimmten Bedingungen angenommen werden, wenn sich heutige Namensformen zwar aus dem Lat.-Rom. herleiten lassen, jedoch in loco keine antiken Vorläufer überliefert sind, die als Etymon in Frage kommen. Es ist aber angebracht, diese Bedingungen zu präzisieren, um daraus Plausibilitätsgrade abzuleiten, die im Folgenden durch Beispiele illustriert werden, die so gewählt wurden, dass die potenziellen Etyma wichtige Kategorien der römischen, spätantiken Infrastruktur bzw. der damit verbundenen Umwelt bezeichnen.

1.4.1. Das Beispiel Pähl

Die besten Argumente für die problematische Annahme von Kontinuität findet die Gruppe von Namen, die den folgenden drei Bedingungen entsprechen:

  • Bedingung (1): keine evidente deutsche bzw. niederländische Etymologie

Ein einfacher, d.h. weder zusammengesetzter noch mit einer Endung abgeleiteter Name oder aber eine Konstituente eines Namens, die mit einem deutschen Wort oder einer deutschen Endung zusammengesetzt ist, lassen sich aus dem Deutschen nicht befriedigend erklären, so z.B. Pähl im Kreis Weilheim (Oberbayern). In unmittelbarer Nähe von Pähl sind mehrere Römerstraßen und villae rusticae gesichert, wie der folgende Kartenausschnitt zeigt:

Pähl (Oberbayern) im archäologischen Fundkontext (mod. Ausschnitt aus https://vici.org/#13/47.90570714918235,11.175298895241776)
(Lizenz: CC BY SA)

  • Bedingung (2): Existenz einer semantisch und phonetisch plausiblen lateinisch-romanischen Etymologie

Im Fall von Pähl erfüllt lat. palus, palūdis ‘Sumpf’ (vgl. Georges <http://www.zeno.org/nid/20002540711>) diese Bedingung. Sie passt gut zum Verlandungs- und Überschwemmungsgebiet an der Südspitze des Ammersees, das zum (heutigen) Gemeindegebiet gehört.

  • Bedingung (3): Existenz von romanischen Kognaten, möglichst in der nah gelegenen aktuellen Romania

Auch dieser Bedingung wird eine Rückführung von Pähl < palus (bzw. palūdem) gerecht, wie die appellativen und onomastischen Entsprechungen im heutigen Frankreich ([La] Palu[d]; vgl. Geonames <https://www.geonames.org/search.html?q=palu&country=FR>), in Graubünden (Palù; vgl.  <https://search.ortsnamen.ch/de?query=palu> und <https://search.ortsnamen.ch/de?query=palu>) und in Italien (Palù; vgl. Geonames <https://www.geonames.org/search.html?q=palu&country=IT>) zeigen.

Es ist natürlich auffällig, dass das initiale [p‑] nicht die zweite Lautverschiebung mitgemacht hat und nicht zu [pf-] affriziert wurde; dergleichen Erscheinungen findet man immer wieder, wenngleich meistens nicht als Regel. Eine Erklärung für ausbleibende Adaptation an den Lautwandel findet sich schnell in der Annahme, dass der Name erst aus der lateinisch-romanischen Kontaktsprache übernommen wurde, nachdem der Sprachwandel bereits eingetreten war. Im Übrigen sind Ortsnamen, wie bereits gesagt, tendenziell immer konservativ.

Es ist methodologisch wichtig festzuhalten, dass hier großer Wert auf die Erfüllung der Bedingung (3) gelegt wird, die in der toponomastischen Literatur oft vernachlässigt wird. Sie trägt jedoch ganz erheblich zur Überzeugungskraft einer Etymologie aus dem Lateinisch-Romanischen bei (vgl. das Beispiel Arzl in DEFAULT).

Unsicherer sind Namen, die zwar formal – und auch nicht unbedingt ohne semantische Plausibilität – aus dem Deutschen hergeleitet werden können, für die es jedoch gleichzeitig formal hinreichend ähnliche und semantisch plausiblere Entsprechungen im heute romanischsprachigen Gebiet gibt.

1.4.2. Das Beispiel Aich

Exemplarisch ist der Name Aich bzw. die Konstituente Aich-/‑aich (<https://www.geonames.org/search.html?q=Aich&country=DE>), eine Form, die ausschließlich in Baden-Württemberg, in Bayern südlich der Donau und in Österreich (<https://www.geonames.org/search.html?q=Aich&country=AT>) belegt ist. Daneben gibt es die Namensform Eich in denselben Gegenden (<https://www.geonames.org/search.html?q=Eich&country=DE>) sowie häufig in der Schweiz (<https://www.geonames.org/search.html?q=Eich&country=CH>) – d.h. in der Romania Submersa – aber gelegentlich auch in Mecklenburg, Thüringen und in Hessen jenseits des Limes. Es erheben sich nun drei Fragen:

  • Soll man in beiden Formen rein graphische Varianten ein und desselben etymologischen Typs sehen?
  • Soll man den formalen (graphischen) Unterschied kategorisch auf zwei (oder mehrere) etymologische Typen zurückführen?
  • Soll man zwei (oder mehrere) etymologische Typen ansetzen, die sich jedoch jeweils gerade nicht eindeutig auf die eine oder andere Form abbilden lassen?

Die nächstliegende Antwort auf die erste Frage bestünde darin, in der Form Aich eine rein graphische Variante von Eich sehen und als einziges Etymon die Baumbezeichnung deu. Eiche ansetzen; das lässt jedoch die dominante Verbreitung beider Typen in der Romania Submersa außer Acht. Es wäre nun alternativ wenig überzeugend, diese Herleitung aus dem Deutschen kategorisch auszuschließen und beide Varianten auf einen anderen, alternativen Typ zurückzuführen. Vielmehr scheint es im Hinblick auf die areale Verbreitung durchaus sinnvoll, einen zweiten etymologischen Typ anzusetzen und in Aich eine Variante des oben vorgestellten, vollkommen unproblematischen Ortsnamens Aachen zu sehen und analog dazu ebenfalls eine Ableitung von lat. aqua in Betracht zu ziehen. Die Form Aich passt ja sehr gut zu den romanischen Entsprechungen im Ladinischen und Friaulischen (ega, ɛga, aga), die sich südlich anschließen. Vgl. dazu den folgenden Ausschnitt aus AIS 1037 ACQUA zeigt:

1.4.3. Das Beispiel Arzl 

Am problematischsten sind die Namen (Typ 2.3), für die es Entsprechungen

  • weder im Deutschen,
  • noch im angrenzenden, heute romanischsprachigen Gebiet gibt, so dass lateinische bzw. vorrömische Ausgangsformen angenommen werden müssen, die sich im Romanischen selbst weder in toponymischer noch appellativischer Funktion erhalten haben.

Ein illustratives Beispiel ist die Herleitung des Tiroler Ortsnamens Arzl (am Eingang des Pitztals) < lat. arcella ‘kleines Lager’ (in Fritz o.J. a); dieser Vorschlag wird durch die Wikipedia mit der leicht modifizierten Bedeutung ‘kleine Burg’ wiederaufgenommen (vgl. <https://de.wikipedia.org/wiki/Arzl_im_Pitztal#Ortsname>). Implizit wird also von einem lat. Diminutiv von arx ‘feste Höhe, – Anhöhe, – Berghöhe, Feste, Zitadelle, Burg, Zwingburg’ (vgl. Georges <http://www.zeno.org/nid/2000222982X>) ausgegangen. Die Etymologie ist zweifellos möglich und passt auch gut zu den „Relikte[n] einer Befestigungsanlage“ aus römischer Zeit (Fritz o.J. a), die im Ort freigelegt wurden. Allerdings erhebt sich ein ganz grundsätzlicher Einwand, insofern sich das Etymon arx allem Anschein nach nirgendwo in der Romania als Appellativ erhalten hat (im REW 613 findet sich ein offenkundig homonymes arcĕlla ‘kleiner Kasten’, dessen Bedeutung jedoch nicht zum Ortsnamen passt). Stattdessen sollte man in Arzl eher eine Entsprechung zu ita. argine ‘Deich’ annehmen, für das im Altital. etliche Varianten belegt sind (der TLIO nennt arçaro, arçer, arçero, argele, argeli, argene, argiele, argigni, argili, argine, argini; vgl. auch venez. àrzare in Boerio 1867, 45 [<https://archive.org/details/dizionariodeldi00boergoog/page/n48/mode/2up>]); auch entsprechende Toponyme dieses Typs existieren in Italien (<https://www.geonames.org/search.html?q=argine&country=IT>, <https://www.geonames.org/search.html?q=arzare&country=IT>). Die Etymologie ist lat. arger ‘Damm, Wall’ (Georges <http://www.zeno.org/nid/20002226154>, <https://www.geonames.org/search.html?q=argile>), eine Variante von gleichbedeutendem lat. agger (Georges <http://www.zeno.org/nid/20002200511>). Zwei weitere Arzl-Toponyme, die etymologisch ähnlich eingeschätzt werden können, bezeichnen einen Stadtteil von Innsbruck und eine Häusergruppe bei Lesach in Osttirol (vgl. <https://www.openstreetmap.org/login?cookie_test=true&referer=%2Fedit#map=15/46.99116/12.64298>). Rekonstruktionen dieser Art sind als ultima ratio zu betrachten und sollten unbedingt vermieden werden. 

Die folgende Tabelle schematisiert die skizzierten onomastischen Kontinuitätstypen:

Typen aktueller Toponyme
Kriterien Kontinuität
(i)
Name
antik
bezeugt
(ii)
archäol. Befund
(iii)
substrat.
Appellativ
(iv)
analoge
rom. Top.
Kürzel  
(+) (+) (+/-) (+/-) K+ evident
(-) (+) (+) (+)
(-) (-) (+) (+) K? zunehm.
problem.

(-) (+) (+) (-) K??
(-) (-) (+) (-) K???

Plausibilitätskriterien für die Annahme onomastischer Kontinuität (Beschränkung auf relevante Kriterienkombinationen)

2. Provinciae, Coloniae und Civitates

Die oberste regionale Einheit der römischen Administration war die provincia (vgl. Hirt 2012); ihre innere Struktur skizziert Alfred Hirt wie folgt:

„Die Provinzen gliederten sich räumlich und politisch in Gebietskörperschaften wie städt. Gemeinden unterschiedl. Rechts (Coloniae, Civitates), Stammes- oder Tempelgebiete und möglicherweise auch Domänen- und Bergwerksbezirke. Die Städte mit ihrem Umland wie etwa die Kolonie Augusta Raurica oder Aventicum als Hauptort der Civitas der Helvetier oder auch Legionslager wie Vindonissa bildeten für die Bewohner der Provinzen die zentralen Bezugspunkte des alltägl. Lebens.“ (Hirt 2012)  

Im erwähnten Nebeneinander von coloniae und civitates zeigt sich die zwei unterschiedliche, aber koordinierte Strategien der Aneignung. Einerseits werden in Gestalt der coloniae Stadtgesellschaften mit römischem oder latinischem Recht errichtet (vgl. Frei-Stolba 2005). Andererseits wird in der Einrichtung der civitates deutlich, dass  die vorrömische Infrastruktur nicht einfach zerstört, sondern auch adaptiert wurde:

“Zur Etablierung der Herrschaft nutzte die röm. Verwaltung die schon bestehenden stammesstaatl. Einrichtungen. Das lat. Wort C. bezeichnete zunächst einen solchen organisierten Stamm und dessen Territorium, später dann eine Verwaltungseinheit unter röm. Kontrolle. Die Civitates waren somit vorwiegend ländl. Gebietseinheiten unterschiedl. Grösse, die von einem Hauptort aus, in der Regel der wichtigsten Marktsiedlung, geleitet wurden. Der Ausdruck C. bezog sich auch auf die in diesem Gebiet ansässige, politisch organisierte Gemeinschaft. Die Berücksichtigung der vorröm. Strukturen ermöglichte, zusammen mit dem stetigen Ausbau der administrativen Kontrolle und der fortschreitenden Urbanisierung, die allmähl. Eingliederung der indigenen Bevölkerung in das röm. System. Am Ende dieses Prozesses in der späten Kaiserzeit erhielt der Ausdruck C. v.a. in Gallien allgemein die Bedeutung ‘Stadt’.“ (Frei-Stolba/Bielman 2006a)

Im semantischen Gegensatz zu civitas als Bezeichnung administrativ eingebundener Ethnien und ihrer Siedlungen steht der Ausdruck gens für Völkerschaften jenseits der römischen Provinzen.3 Die Doppelstrategie aus dem Aufbau neuer Strukturen und der Adaptation bestehender Verhältnisse bildet sich in der Onomastik klar ab, denn die Toponyme sind teils  funktional, teils ethnisch, nämlich durch Verweis auf die erwähnten civitates (vgl. Frei-Stolba/Bielman 2006a), motiviert. Zur heute deutsch- bzw. niederländischsprachigen Romania Submersa  gehörten die folgenden Provinzen, die mit ihren Hauptstädten und gegebenenfalls weiteren wichtigen Zentren genannt werden:

  • Belgica (vgl. Frei-Stolba), mit Durocortorum (heute: Reims [K+] nach dem keltischen Ethnonym der Remi), Augusta Treverorum (heute: Trier [K+]);
  • Germania Inferior mit Colonia Claudia Ara Agrippinensium (heute: Köln [K+]);
  • Germania Superior (vgl. Frei-Stolba 2006), mit Mogontiacum (Link, heute: Mainz [K+]) und den drei folgenden coloniae, die Ende des 3. Jahrhunderts mitsamt ihren civitates zur neu geschaffenen Provinz Sequania / Maxima Sequanorum geschlagen wurden (vgl. Frei-Stolba 2009):
    – Aventicum,
    offiziell Colonia Pia Flavia Constans Emerita Helvetiorum Foederata (vgl. Bridel/Fuchs 2006; heute: Avenches [K+]);
    Augusta Raurica, offiziell Colonia [Paterna Munatia Felix Apollin]aris [Augusta E]merita [Raur]ica(?) (vgl. Furger 2006; heute Augst [K+]);
    – Noviodunum, offiziell Colonia Iulia Equestris (vgl. Paunier 2005; heute Nyon [K+]); 
  • Raetia (vgl. Hirt 2011), geteilt in die R. Prima mit Curia Raetorum (heute: Chur [K+])  und R. Secunda mit Augusta Vindelicum (heute: Augsburg [K+]);
  • Noricum mit Virunum (Link).

Lediglich die Hauptstadt von Noricum wurde nicht in loco als Stadt weitergeführt. Alle anderen genannten Zentren blieben nicht nur als Siedlungen bestehen, sondern setzen bis heute zudem antike Namensformen fort. Nur ganz schwache toponomastische Spuren haben sich dagegen von den  Provinznamen erhalten, so die Landschaftsbezeichnung Ries (K+) < lat. Raetia.

In der Art und Weise, wie die Namen tradiert wurden, lassen sich nun sehr klar zwei semantische Prozesse unterscheiden: Während in einigen Fällen generische und appellativische Konstituenten  der mehrgliedrigen Namen erhalten blieben, handelt es sich in anderen Fällen um spezifizierende Konstituenten.4 Illustrativ ist der Gegensatz von Augusta Raurica, Augusta Vindelicum einerseits und von Augusta Treverorum andererseits; die Basis der drei Toponyme, Augusta, ist ein

„Name oder Beiname zahlreicher Städte in Italien und in den Provinzen, hinweisend auf eine Koloniegründung bzw. die Verleihung des Kolonialrechts durch Augustus oder auch durch einen späteren Kaiser“ (KP 1979, 1, 736).

Die spezifizierenden Zusätze referieren dagegen auf die keltischen Ethnien der Vindeliker (vgl. Frei-Stolba 2011), Rauriker (Schwarz 2010) und Treverer (Link), in deren Siedlungsgebieten die Städte lagen.

römisch-lateinisch   deutsch
appellativische
Basis
proprietäre ethnische Referenz   erhaltene Konstituente (K+)
Augusta Vindelicum > Augs burg
Augusta Raurica > Augst  
Augusta Treverorum >   Trier

In manchen Fällen sind ethnische Spezifizierungen bereits in römischer Zeit durch Umbenennungen verschwunden, wie sich am Beispiel des bedeutenden Zentrums Köln zeigen lässt: Die Stadt wurde bei ihrer Gründung (19 v. Chr.) mit ethnischer Referenz auf einen von Agrippa auf das linksrheinische Ufer umgesiedelten (germanischen?5) Stamm als Oppidum Ubiorum benannt. Einige Jahrzehnte später erhielt sie den Status einer colonia (mit römischem Recht), der im Namen ebenso festgeschrieben wurde, wie die Ehrung des Kaisers Claudius, der die diese Statuserhebung verantwortete, sowie seiner Frau Agrippina, die ebendort geboren worden war. 

Oppidum  Ubiorum Colonia Claudia Ara Agrippinensium > Köln
19 v. Chr.
Gründungsname
mit ethn. Referenz

  50 n. Chr.
Umbennung mit Status- und doppelter
Personenreferenz
  bis heute
teilweise
erhalten
(K+)

Es erhebt sich nun die vielleicht gar nicht beantwortbare Frage, ob man die alternativ – im Status der Siedlung (Augusta, Colonia) oder in der Ethnie (Treverorum) – motivierte Kontinuität der Namen mit einer etwaigen Persistenz von Zweisprachigkeit  in Verbindung bringen darf. Immerhin spricht die Erhaltung einer Referenz auf die civitates  für das Bewusstsein einer regionalen Identität. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass sich in manchen Fällen eben nicht, nicht einmal teilweise, die römisch-lateinischen Namen, sondern vorrömische Namen erhalten haben, wie im Fall der Colonia Iulia Equestris (vgl. Paunier 2005); der nachantike Name dieser Stadt, die heute Nyon (K+) heißt, geht auf das keltische Noviodunum ‘neue Festung’ zurück: Der vorrömische Name muss also während der gesamten Römerzeit parallel zum lateinischen Namen weiterbestanden haben.

Ethnische Verhältnisse scheinen – wenngleich in uneindeutiger Weise – auch bei der Umgestaltung der provinciae  mitgespielt zu haben; denn die beiden Provinzen Germania Inferior und Germania Superior wurden um 89 n. Chr. aus der ehemals umfassenden Belgica herausgelöst  (vgl. Frei-Stolba 2006) und aus der großen Germania Superior heraus wurde sodann die Provinz Sequana, später Maxima Sequanorum (vgl. Frei-Stolba 2009) für die civitates  der Rauriker und der Helvetier gegründet; man beachte dass diese regionale Differenzierung, die gut 300 Jahre nach der Romanisierung erfolgte, noch an vorrömische Verhältnisse erinnert. Die grundlegende Bedeutung dieser regionalen Alterität kommt sehr klar im Bedeutungswandel zum Ausdruck, den civitas ‘administrativ eingebundene ethnische Gruppe’ gemacht hat: Die romanischen Kognaten wie spa. ciudad, altfra. cité, ita. città, rum. cetate usw. bedeuten allgemein ‘Stadt’ und/oder ‘Festung’, ohne mit ethnischer Besonderheit konnotiert zu sein.

2.1. Interaktive Karte: Provinzhauptstädte und coloniae der deutsch- bzw. niederländischsprachigen Romania Submersa

– mit Namenkontinuität: Belgica, ⬣ Germania Superior, Germania Inferior, Maxima Sequanorum, ⬣ Raetia prima,  Raetia Secunda
– ohne Kontinuität (als Siedlung aufgegeben): ⬣ Noricum
Kontinuität eines Provinznamens als kleinräumiger Landschaftsname: Raetia > Ries
 

2.2. Oppida

Die Kelten hatten einen charakteristischen Siedlungstyp entwickelt,

„der aus einer von einer Befestigung umgebenen grösseren Fläche besteht und ab Ende des 2. Jh. v.Chr. im gesamten kelt. Europa (Kelten) nördlich der Alpen Verbreitung fand. Diese ‘kelt. Stadt’ zeichnete sich durch ihre günstige topograf. Lage – meist auf einer Anhöhe – und eine wuchtige Wehranlage mit monumentalen Toren aus.“ (Kaenel 2017)

In der Archäologie wird diese keltische Form der befestigten Höhensiedlung (kelt. dūro-, duron, vgl. Holder 1896, 1383 f., Link, und dūnŏn vgl. Holder 1896, 1375 ff., Link) mit einem lateinischen Ausdruck als Oppidum bezeichnet (Link mit Ortsliste); dieser Sprachgebrauch scheint schon  auf Caesar zurückzugehen.6 Der Siedlungstyp war dem Anschein nach schon vor der Romanisierung im Niedergang begriffen:

„Viele grosse Oppida, v.a. auch in Süddeutschland, mit denen eine innere Entwicklung der kelt. Kultur ihren Endpunkt erreichte, wurden vor Mitte des 1. Jh. v.Chr. aufgegeben. In Gallien konnte sich diese Siedlungsform gegenüber den von der röm. Verwaltung eingeführten Neuerungen – Strassennetze und in der Ebene, abseits der Oppida gelegene neue Städte – nicht behaupten.“ (Kaenel 2017)

Manche oppida wurden jedoch in römischer Zeit als vici weitergeführt (vgl. Hirt/Cranach 2014)  fortgeführt. Für die Organisation der provinzialrömischen Infrastruktur waren jedenfalls die Siedlungen mit rechtlichem Status wichtiger; das sind neben den coloniae vor allem die municipia (vgl. Hans Volkmann in KP 1979, 3, 1465-1469). Es ist bezeichnet für den Zusammenbruch der römischen Infrastruktur, dass dieser adminstrativ bedeutsame Statusunterschied zwischen oppida einerseits und municipia andererseits aus onomastischer Sicht vollkommen irrelevant ist, denn weder der eine noch der andere Ausdruck hat sich als Toponym erhalten, Ebenso wenig haben beide Ausdrücke appellativische Fortsetzer in den romanischen Sprachen gefunden.

2.3. Keltisches Substrat im Umfeld des Limes (Kastelle und Hinterland)

Im auffälligen Gegensatz zur erwähnten Aufgabe der keltischen Siedlungen des Typs Oppidum steht die Tatsache, dass etliche römische Einrichtungen keltische Namen tragen. Dazu gehören nicht zuletzt auch Limeskastelle. In der folgenden interaktiven Karte wurden alle Kastellstandorte eingetragen; ein Klick auf das Symbol zeigt den aktuellen und – soweit bekannt – den antiken Ortsnamen; die Linie der Kastelle mit Dreiecksymbol markiert den obergermanisch-rätischen Limes und damit die maximale Ausdehnung der Romania Submersa; diese befestigte Grenze wurde 259/260 n. Chr. aufgegeben (‘Limesfall’) und an die durch Kreissymbole gekennzeichnete Rhein-Iller-Donau-Linie zurückgezogen. Es wär jedoch wohl zu einfach die Aufgabe der militärischen Sicherung dieses so genannten Dekumatlandes (lat. agri decumates; Link) mit dem Ende jeglicher Romanität gleichzusetzen:  Man beachte das gelbe Dreieck in Württemberg, das für das Kastell nahe des Ortes Donnstetten steht; der lateinische Name des Kastelle war wohl Clarenna, und hat sich offenkundig nicht erhalten. Die spezifizierende  Konstituente des heutige Ortsname Donnstetten, also Donn-,   ließe sich jedoch gut aus keltisch dunum herleiten (K?). Damit hätte der vorrömische Namen eine über den Limesfall hinaus bis in die Gegenwart reichende Kontinuität.  Analoges gilt für den Namen eines anderen Kastellstandorts, nämlich Walldürn (Link), dessen zweite Konstituente auf keltisch durum zurückgeführt werden kann (K?); gleichzeitig  lässt sich die erste Konstituente als Walchen-Name7 auffassen, so dass der Ortsname paradigmatisch beide Sprachwechsel, vom Keltischen zum Lateinisch-Romanischen und weiterhin zum Mainfränkischen, dokumentieren würde (vgl. DEFAULT).

2.3.1.  Interaktive Karte: keltisches Substrat

Kastelle und Legionslager am Limes (direkt oder rückwärtig)
 bis spätestens 260 n.Chr.  aufgegebene Kastelle (meistens im Rahmen des ‘Limesfall’; Link)
Ortsliste aus: Niedergermanischer Limes (Link), Obergermanisch-Raetischer Limes (Link), Donaus-Iller-Rhein-Limes (Link)
Onomastische Interpretation:
(1)○ Kontinuität (mindestens partiell) von Namen von Kastellen, Legionslagern und rückwärtigen Zivilsiedlungen, ohne Berücksichtigung etwaiger indirekter Kontinuität in Gestalt von Lehnübersetzungen, wie eventuell Baden  ← Aquae (Helvetiae)
(2) Kontinuität (mindestens partiell) keltischer Namen:
– kelt. dūro-, duron, latinisiert durum ‘Festung, Schloss’ (Holder 1896, 1383 f., Link):  nur antik überliefert, antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)
– kelt. dūnŏn latinisiert dunum ‘umwallte Burg, Festung’ (Holder 1896, 1375 ff., link):  nur antik überliefert,  antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)
kelt. magos ‘Feld, Ebene’ (Holder 1904, 384 f., Link): nur antik überliefert, antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)
kelt. brĭg- (brica, briga) ‘Berg, Hügel, Höhe’ (Holder 1896, 534, Link): nur antik überliefert, nur antik überliefert und Kastell am Oberg.-Rät.-Limes,  antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)
– Suffix -áco- ‘zugehörig’ (vgl. Holder 1896, 20-31, Link): nur antik überliefert (K+), antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)
Ethnonyme (civitates) –  nur antik überliefert,  antik und aktuell (K+), aktuell, eventuell etymologisch (K?)

3. Untergeordnete Raumstrukturen und Siedlungen

3.1. Pagi

Die civitates waren in pagi unterteilt:

„In der Antike sind solche pagi als Untereinteilungen von ital. Stämmen (Civitas) zur Zeit der Republik, von kelt. Stämmen in Gallien und Germanien und solchen in Nordafrika bezeugt. Caesar nennt vier pagi der Helvetier, von denen der recht selbstständige pagus Tigurinus am Kimbern- und Teutonenzug 113-101 v.Chr. teilnahm und nachher im Gebiet um Aventicum bezeugt ist. Augustus beliess den 65 belegten Stämmen bei der Neueinteilung Galliens ihre Struktur. Die Einteilung in pagi wurde beibehalten, ausserdem wurden als weitere unterste Verwaltungseinheiten Kleinstädte (Vicus) gegründet. Offenbar bestanden beide Einteilungen nebeneinander.“ (Schibler 2010)

Das Wort ist toponomastisch nicht greifbar; es finden sich auch keine appellativischen Kognaten in den romanischen Sprachen. Sehr gut erhalten ist jedoch in der Gallo- und Italoromania das abgeleitete Adjektiv pagē(n)sis (vgl. REW, 6145; Link); die romanischen Fortsetzer, fra. pays, ita paese, haben ebenso wie bereits das klassisch-lateinische pagus (vgl. Georges 1913 [1998]; Link)  zwei Bedeutungen, denn sie bezeichnen sowohl kleine Siedlungen (‘Dorf’) als auch ihre Umgebungen ( ‘Land’)8.

3.2. Vici

Toponomastisch erhalten hat sich im Unterschied zu pagus das lateinische Appellativ vicus. Es „dient zur Bezeichnung einer abgrenzbaren Siedlung innerhalb eines Flurbezirks bzw. Pagus (Gau), innerhalb einer Civitas oder einer Häuseransammlung an einer städt. Strasse, z.B. in Rom“ (Hirt/Cranach 2014).  Hier wiederholt sich allerdings die bereits im Fall von oppidum festgestellte Ambiguität, denn: 

„Neben den inschriftlich belegten werden von der provinzialröm. Archäologie auch mehrere nur archäologisch fassbare kleinstädt. Siedlungen als Vici betitelt, obwohl nicht feststeht, ob diese Orte in röm. Zeit diese Bezeichnung trugen.“ (Hirt/Cranach 2014)

In der provinzialrömischen Archäologie ist der Terminus eine Art Restkategorie für alle Zivilsiedlungen, die sich nicht als villa fassen lassen und die weder den administrativen Status eines municipium noch einer colonia hatten. Es kann sich also fallweise um sehr kleine Straßendörfer oder um „religiöse, soziale, kulturelle, wirtschaftl. und polit. Zentralorte für die umliegende Landschaft“ (Hirt/Cranach 2014) handeln. Der gerade genannte Aufsatz zitiert eine differenzierte Übersicht der vici  auf dem Gebiet der heutigen Schweiz mit den jeweiligen urbanistischen Charakteristika und der Siedlungsdauer (Link).  Es wird darauf hingewiesen, dass vici grundsätzlich auch in der Nähe militärischer Einrichtungen (Kastelle, Legionslager) entstanden: „Unbestritten ist heute, dass jedes Kastell mit einer gewissen Selbstständigkeit einen eigenen Kastellvicus besaß“ (Sommer 2008, 258). Mit der Spezialisierung auf bestimmte Warenproduktion (wie z.B. terra sigillata) ist ebenfalls zu rechnen (vgl. Bloier 2016). Während sich vicus als Appellativ in den romanischen Sprachen nur in ita. vico (Link) und bündnerrom. vitg (Link; vgl. auch AIS , Karte  817 IL VILLAGGIO, Punkte 1, 10, 11, 13) erhalten hat (vgl. REW, 9318; Link), ist es als Toponym – mit Ausnahme der Balkanromania – gut dokumentiert.

Vor dem Hintergrund der romanischen Situation ist es nun nicht überraschend, dass vicus auch in der gesamten germanophonen Romania Submersa vertreten ist. Die Belege bilden mit den Belegen in der aktuellen Romania praktisch ein zusammenhängendes Verteilungsgebiet; die fehlenden Belege im iberoromanischen Reconquista-Gebiet zeigen im Übrigen, dass es sich auch in der Romania um einen alten Bezeichnungstyp handeln muss. 9

Angesicht der Verbreitung diesseits und jenseits der romanisch-germanischen Sprachgrenze, erscheint es unnötig kompliziert, den Belegen in der Romania Submersa ein rekonstruiertes germanisches Etymon zu Grunde zu legen, wie auch Irmtraut Heitmeier im Sinne der germanistischen Tradition vorschlägt:

„Es handelt sich um Namen, die das im Althochdeutschen bereits nicht mehr belegte *wihs ‘Dorf’  enthalten, das in gotisch weihs ‘Dorf, Flecken’ eine Entsprechung besitzt […]. Das Wort ist urverwandt mit lat. vicus, kann jedoch nicht direkt von diesem abgeleitet werden, weil bei Entlehnung aus dem Lateinischen das Endungs-s geschwunden wäre.“  (Heitmeier 2019)

Gerade das auslautende –s spricht ebenfalls gegen den Vorschlag:  Denn im Fall der Graubündner Orte, die sowohl einen romanischen wie deutschen Namen haben, zeichnet sich die deutsche Variante durch ein –s aus, das ähnlich wie im Altfranzösischen als Relikt eines bündnerromanischen Nominativ (bzw. Rectus) –s  plausibel interpretiert werden kann. Im neueren Romanischen ist der ehemalige Subjektkasus mitsamt auslautendem –s bis auf wenige formale Reste geschwunden (vgl. Stimm/Linder 1989a, 767). Hier einige Beispiele

bündnerromanisch (-s > Ø) deutsch (-s)
Tschlin Schleins
Scuol Schuls
Tumein Tamins
Vetten Vättis
Trun Truns
Trin Trins
Breil Brigels
Flem Flims
Graubündner Ortsnamendubletten mit -s in den deutschen Varianten

Weiterhin ist eine Kognate von lateinisch vicus in manchen bündnerromanischen Dialekten als Appellativ erhalten; die deutsche Entsprechung des bündnerromanischen Ortsnamen Sumvitg (Audio-Datei / Hörbeispiel [ˈsʊmvit͡ɕ]) ‘oberstes Dorf’ ist Somvix, was ebenfalls auf ein erhaltenes etymologisches -s schließen lässt. Über Graubünden hinaus ist der Typ vicus, abgesehen von Rumänien, in der gesamten Romania als Toponym belegt, ohne dass sich ein spezifischer Regionalbezug erkennen ließe.

3.2.1. Interaktive Karte: vici

Die in der interaktiven Karte (DEFAULT dokumentierten germanischen Varianten sind niederländ. Wijk, deu. Wiechs, Visse, Weichs, Weis, Wyss u.a. (vgl. die Diskussion in Heitmeier, 593-600 ). Die von Irmtraut Heitmeier genannten Belege wurden übernommen und ergänzt, so u.a. durch den niederländischen Typ Wijk und den Mainzer Stadtteilnamen Weisenau.

lat. vicus als Toponym
in der germanophonen Romania Submersa (im Fall der niederländischen Wijk-Namen wurden nur Orte mit römerzeitlichen Funden und/oder solche in unmittelbarer Nachbarschaft von Limes-Kastellen berücksichtigt)
in der aktuellen Romania (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

3.3. Burgi 10

Angesichts des erheblichen Aufwands, der in die militärische Sicherung der Grenzprovinzen investiert wurde, verdient die entsprechende Infrastruktur, speziell in Gestalt der zahlreichen Kastelle, besondere Beachtung, wenn man nach einer möglichen Kontinuität des Romanischen fragt. Dabei zeigt sich in exemplarischer Weise die Notwendigkeit, archäologische und sprachgeschichtliche Aspekte miteinander zu verknüpfen.

„Nach dem Abzug der Truppen im frühen 5. Jh. gehörten die Grenzgebiete längs des Rheins zunächst zwar nominell noch zum Reich. Die Kastellstädte, in denen Lebensstandard und Bevölkerungszahl weiter gesunken sein dürften, waren jetzt aber zunehmend auf sich selbst gestellt. Trotzdem überdauerten viele befestigte Siedlungen das Ende des weström. Reiches. Die archäolog. Auswertung der Kastellfriedhöfe zeigt, dass die in den Kastellstädten am Hochrhein konzentrierte rom. Restbevölkerung ihre eigenständigen, in der spätröm. Zeit wurzelnden Traditionen bis mind. ins 7. Jh. bewahrt hat. Die fränk. Herrschafts- und Verwaltungsträger wählten häufig frühere K.e als Sitz (z.B. Burg bei Stein am Rhein).“ (Roth-Rubi 2014)

Eine ganz ähnliche Beobachtung macht auch Martin Thoma 2020: „Oft sind diese strategisch vorteilhaft gelegenen Befestigungen  überlagert von mittelalterlichen Burgen.“ Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die mit der Nachnutzung oder Überlagerung verbundene Tatsache, dass etliche Standorte von Kastellen oder die Orte, die den Kastellen unmittelbar benachbart sind, in ihren aktuellen deu. oder niederländischen Namen die Konstituente Burg tragen – gerade so wie das im vorhergehenden Zitat von Katrin Roth-Rubi genannte Burg bei Stein am Rhein; einen Überblickt gibt die nächste interaktive Karte. Darin könnte man eine naheliegende Bezeichnung der aufgegebenen römischen Bauwerke mit dem deu. Appellativ sehen. Diese Lesart ist jedoch für die Romania Submersa historisch wohl nicht adäquat; denn das deu. Wort ist seinerseits eine Entlehnung aus dem Lateinischen, die eben im ehemals römischen Gebiet erfolgt ist. 

Grundlage dieser Hypothese ist eine Bauinschrift aus Liesenich bei Mittelstrimmig in der Südeifel aus dem Jahr 270 n.Chr., in der das Gebäude explizit als burgus bezeichnet wird. . Dort heißt es:

“Qui burgum (a)edificaverunt Lup(ulinius) Am/minus pr(a)efectus Sab(inius) Acceptio Vid(ucius) / Perpetu(u)s Flavius Tasgillus CO() Lepidus / Min(ucius) Luppus cum C(a)es(ius) Ursulus paratus / est Victorino Augusto et / Sa(n)cto co(n)s(ulibus) X Kal(endas) Iunias” (Quelle)
‘Hier erbauten der Präfekt Lupulinus Amminus, Sabinius Acceptio Viducius, Perpetuus Flavius Tasgillus, CO(), Lepidus Minucius Luppus gemeinsam mit Caesius Ursulus einen Burgus; er wurde für den Herrscher Victorinus und für Sanctus, die Konsulen, eingerichtet, 10 Tage vor den Kalendae des Juni’  (Übersetzung Th.K.) 

Der Bau selbst konnte durch die Archäologie sehr genau rekonstruiert werden:

„Durch Widerstandsmessungen im Erdreich des Vicus bei Mittelstrimmig ließ sich die inschriftlich belegte Kleinfestung genau[e]stens lokalisieren. Mächtige Mauern schützten ein 13×18 m großes durch Räume unterteiltes Gebäude mit kleinem Innenhof. Der Festungsbau war von zwei Gräben umgeben. Die bis zu 48 m langen Gräben zeigen keine Unterbrechung, der Zugang führte über Brücken.“ (Thoma 2006b); vgl. auch die dort veröffentliche Rekonstruktion des Gebäudes; Link).

Bemerkenswert ist auch die frühe Datierung der Inschrift, denn erst ca. 100 Jahre später, im Zuge des Ausbaus des Limes unter Valentinian (Kaiser von 364–375) wurden Gebäude dieser Art zur Sicherung in regelmäßigen Abständen an der gesamten Reichsgrenze ausgeführt, wie durch Ammianus Marcellinus bezeugt wird:

„At Valentinianus magna animo concipiens et utilia, Rhenum omnem a Raetiarum exordio, ad usque fretalem Oceanum, magnis molibus communiebat, castra extollens altius et castella,  turresque assiduas per habiles locos et opportunos, qua Galliarum extenditur longitudo: non numquam etiam ultra flumen aedificiis positis, subradens barbaros fines.“
Englische Übersetzung: “But Valentinian, meditating important and useful plans, fortified the entire Rhine from the beginnings of Raetia as far as the strait of the Ocean with great earthworks, erecting lofty fortresses and castles, and towers at frequent intervals, in suitable and convenient places as far as the whole length of Gaul extends; in some places also works were constructed even on the farther bank of the river, which flows by the lands of the savages.” (Ammianus Marcellinus 1950, XVIII, 2, 1, 122)

Zwar wird der Ausdruck burgus wird nicht genannt; er findet sich jedoch bei einem anderen Autor, Vegetius, mit Bezug auf dasselbe Befestigungsprogramm. Vegetius empfiehlt in seinen Epitoma rei militaris (Ende des 4. Jhs.) die Sicherung von außerhalb gelegenen Wasserstellen durch Mauern und weiterhin durch Errichtung kleiner Kastelle, die als burgus bezeichnet werden:

“castellum paruulum, quem burgum vocant, inter ciuitatem et fontem conuenit fabricari ibique ballistas sagittariosque constitui ut aqua defendatur ab hostibus” (Flavius Vegetius Renatus 1885, IV, 10, S. 135)
Übersetzung: ‘es ist angebracht, zwischen Stadt und Quelle ein kleines Kastell zu errichten, das Burgus genannt wird, und dort Wurfmaschinen und Bogenschützen zu stationieren, damit das Wasser vor den Feinden verteidigt wird.’ (Übers. ThK.)

In der Germania Inferior ist der Ausdruck als Konstituente von drei Kastellnamen schon antik bezeugt: Quadriburgium (orangenes Kartensymbol), Burginatium (blaues Kartensymbol) und Asciburgium (blaues Kartensymbol). Die beiden zuletzt genannten Orte werden in der Tabula Peutingeriana erwähnt (vgl. den Link zur kartierten Tabula in VerbaAlpina).  Zwei Orte in der Pannonia Inferior kommen hinzu, nämlich  Tittobvrgo (das heutige Dalj im Nordosten Kroatiens; blaues Kartensymbol) und Burgenis (das heutige Novi Banovci bei Belgrad; blaues Kartensymbol). Das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL; Link) dokumentiert die appellativische Verwendung von burgus in drei weiteren römischen Bauinschriften. Alle drei stammen direkt von der Reichsgrenze, nämlich aus Ybbs an der Donau (Noricum, CIL 03, 05670a), aus Etzgen am Hochrhein (Germania superior, CIL 13, 11538 ) sowie  aus Esztergom (Pannonia superior, CIL 03, 03653) und beziehen sich explizit auf das valentinianische Bauprogramm. Die drei antiken Toponyme aus der Germania Inferior sollen kurz präsentiert werden.

3.3.1.  Quadriburgium

Der Name hat sich als Qualburg (orangenes Kartensymbol) in der Gemeinde Bedburg-Hau (Kreis Kleve; Link) erhalten; er wird von Ammianus Marcellinus (ca. 325–ca. 395) in einer Aufzählung mehrerer gut identifizierbarer Orte erwähnt, die Kaiser Iulian (Kaiser 360-363 n.Chr.) nach germanischen Überfällen wieder instand setzen ließ:

„Et utrumque perfectum est spe omnium citius. Nam et horrea veloci opere surrexerunt, alimentorumque in eisdem satias condita, et civitates occupatae sunt septem: Castra Herculis Quadriburgium Tricensima et Novesium, | Bonna Antennacum et Vingo, ubi laeto quodam eventu, etiam Florentius praefectus apparuit subito, partem militum ducens, et commeatuum perferens copiam, sufficientem usibus longis.“ (Ammianus 1950, 406/408) 
‘For not only did the granaries quickly rise, but a sufficiency of food was stored in them; and the cities were seized, to the number of seven: Castra Herculis [= Arnhem-Meinerswijk], Quadriburgium [= Qualburg],  Tricensima [= Xanten] and Novesium [= Neuss],  Bonna [=Bonn], | Antennacum [= Andernach] and Vingo [= Bingen], where by a happy stroke of fortune the prefect Florentius also appeared unexpectedly, leading a part of the forces and bringing a store of provisions sufficient to last a long time.’ (Ammianus 1950, 407/409)

Wenn man burgus in der Spätantike als ‘turmartige Kleinfestung’ verstehen darf, liegt es nahe Quadriburgium als Bezeichnung einer Konstruktion mit vier Ecktürmen zu interpretieren. 

3.3.2. Burginatium

Das halbkreisförmig von einer Zivilsiedlung umgebene Kastell liegt im heutigen Kalkar (Link); die Konstruktion ist im einzelnen nicht gut bekannt. In seiner letzten Phase war das Kastell mit einer steinernen Mauer gesichert. Von einem turmähnlichen burgus ist nicht die Rede, obwohl die Ableitung burginatium von burgus sich als Partizip oder als pseudopartizipiales Adjektiv im Sinne von ‘zum burgus gemacht’ verstehen lässt.11

3.3.3. Asciburgium

Dieser Name hat sich mindestens im ersten Teil der aktuellen Form Asberg erhalten (Link); die Konstituente Burg wurde offensichtlich durch lautlich ähnliches Berg ersetzt. Es handelt sich zweifellos um den interessantesten der drei antiken Burg-Namenbelege. Bereits Tacitus (ca. 58-120 n.Chr.) erwähnt ihn in seiner Germania (ca. 98 n.Chr.) als am Rhein gelegenen und bewohnten Ort:  „Asciburgium[…] quod in ripa Rheni situm hodieque incolitur“  (Tacitus 1914, 3 f., 134). Dieser frühe Beleg ist vor allem deshalb bemerkenswert, da es einen steinernen Kastellbau zu Tacitus Lebzeiten dort nicht gab; vermutlich stand die bereits zu augusteischen Zeiten entstandene Zivilsiedlung mit Gewerbe und einem Hafen im Vordergrund seiner Wahrnehmung und nicht die Palisaden-Befestigung aus Holz und Erde des frühen Kastells; dafür spricht im Übrigen auch das keineswegs militärisch konnotierte Verb incolere, das Tacitus hier gebraucht). Das Militär wurde 83-85 n.Chr. ganz abgezogen; ein steinerner burgus im oben skizzierten Sinne wurde nach dem detaillierten archäologischem Kenntnisstand erst im Rahmen der Valentinianischen Limes-Befestigungen (371 n.Chr.) fertiggestellt (vgl. Bechert 1989).

Siedlungen dieser Art waren den Germanen fremd, wie gerade Tacitus bezeugt. Der römische Historiograph insistiert auf der ihm sehr auffällig erscheinenden Tatsache, dass die Germanen weder Städte noch Steinbau kennen; als besonders bemerkenswert erscheint ihm dabei die Tatsache, dass die Gebäude jeweils freistehen und einander nicht berühren.

“Nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est, ne pati quidem inter se iunctas sedes, colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit. vicos Iocant non in nostrum morem conexis et cohaerentibus aedificiis: suam quisque domum spatio circumdat, sive adversus casus ignis remedium sive inscitia aedificandi. ne caementorum quidem apud illos aut tegularum usus: materia ad omnia utuntur informi et citra speciem aut delectationem. quaedam loca diligentius inlinunt terra ita pura ac splendente, ut picturam ac liniamenta colorum imitetur. soient et subterraneos specus aperire eosque multo insuper fimo onerant, suffugium hiemis et receptaculum frugibus, quia rigorem frigorum eius modi loci molliunt, et si quando hostis advenit, aperta populatur, abdita autem et defossa aut ignorantur aut eo ipso fallunt, quod quaerenda sunt.” (Tacitus 1914, 16) 
Englische Übersetzung: “It is well known that none of the German tribes live in cities, that even individually they do not permit houses to touch each other: they live separated and scattered, according as spring-water, meadow, or grove appeals to each man: they lay out their villages not, after our fashion, with buildings contiguous and connected; everyone keeps a clear space round his house, whether it be a precaution against the chances of fire, or just ignorance of building. They have not even learned to use quarry-stone or tiles: the timber they use for all purposes is unshaped, and stops short of all ornament or attraction; certain parts are smeared carefully with a stucco bright and glittering enough to be a substitute for paint and frescoes. They are in the habit also of opening pits in the earth and piling dung in quantities on the roof, as a refuge from the winter or a root-house, because such places mitigate the rigour of frost, and if an enemy comes, he lays waste the open; but the hidden and buried houses are either missed outright or escape detection just because they require a search.” (Tacitus 1914, 16)

Warum hätten die Römer zur Bezeichnung einer typisch provinzialrömischen Siedlungsform einen germanischen Ausdruck entlehnen sollen? Es ist in wortgeschichtlicher Sicht wichtig darauf hinzuweisen, dass auch die romanischen Entsprechungen von deu. Burg, also fra. bourg, ita. borgo usw.  gerade keine befestigten Orte bezeichnen. Die im FEW en ligne, 15/2, 15-23 gesammelten Dialektbelege bedeuten durchweg so viel wie ‘Weiler, Markflecken, kleines Dorf mit Kirche’ usw.; eine eventuelle Befestigung ist allenfalls sekundär. Dasselbe gilt für die alten Belege von ita. borgo im TLIO, s.v. borgo (Link), die sich unter den Bedeutungen ‘piccolo centro abitato / kleines bewohntes Zentrum’ oder ‘centro abitato posto all’esterno delle mura, soggetto alla giurisdizione cittadina / bewohntes Zentrum außerhalb der Stadtmauer, aber dem Stadtrecht unterworfen’ zusammenfassen lassen. Bis heute ist das typische Kennzeichen eines z.B. in Italien als borgo bezeichneten, älteren kleinen Siedlungskerns die direkte bauliche Verbindung aller Gebäude zu einem einzigen Komplex.

3.3.4. Zwei burgus-Namen aus der Pannonia Inferior

Zwei weitere Burgus-Namen bezeugt die Tabula Peutingeriana in der Pannonia Inferior, nämlich Tittobvrgo, das heutige Dalj (ganz im Nordosten Kroatiens; Link) und Bvrgenis, das heutige Novi Banovci (20 km. nordwestlich von Belgrad; vgl. RE, III,1, 1062). In beiden Fällen handelt es sich um Auxiliarkastelle die ebenfalls bereits auf augusteisch-tiberische Zeit (30 v. Chr.- 37 n.Chr.) zurückgehen. Ähnlich wie im Fall von Asciburgium ist auch Tittoburgum recht früh bezeugt, nämlich im zweiten Jahrhundert in der griechischen Form Τευτοθούργιον durch Claudius Ptolemaeus (Geographie 2, 15, 3). Man beachte, dass die Kastelle am Limes pannonicus, an dem sie liegen, schon früher als am niedergermanische Limes durch Steinbauten befestigt wurden  (unter Trajan, Kaiser von 98 – 117 n.Chr.; – Link). Womöglich wurde der oben skizzierte Konstruktionstyp (‘turmartige Kleinfestung’) also überhaupt im Osten entwickelt und dann weiter nach Westen gebracht. Das lat. burgus erhielt so eine neue Bedeutung, die sich jedoch in den heutigen romanischen Varietäten, d.h. in deutlicher Entfernung von der Reichsgrenze, gerade nicht erhalten hat, oder besser gesagt: sie hat sich nicht über die alten Grenzgebiete hinaus verbreitet, sondern ist gemeinsam mit deren Latein untergegangenen.

Vor diesem ‘pannonischen’ Entstehungsszenarium denkt man nun an den Einfluss des lautlich ähnlichen und etymologisch zweifellos auf dieselbe Ausgangsform wie burg(i)us zurückgehenden  griechischen πύργος12, d.h. an eine Bedeutungsentlehnung:

„πύργος, ὁ, tower, esp. such as were attached to the walls of a city, Il.7.219, al., Hes.Sc.242, Hdt.3.74, al., Th.2.17, al., Plb.5.99.9, etc.: in pl., city walls or ramparts with their towers, Il.7.338, 437; in sg., ἧντ’ ἐπὶ πύργῳ 3.153, cf. 22.447; πόλιος ἣν πέρι πύργος ὑψηλός Od.6.262; πέριξ δὲ πύργος εἶχ’ ἔτι πτόλιν E.Hec.1209; πύργους ἐπὶ τῶν γεφυρῶν ἐπιστῆσαι Pl.Criti.116a.“ (LSJ, The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon)

Diese Sachgeschichte führt somit zum selben Ergebnis wie die ausgehend von Asciburgium skizzierte Geschichte der Siedlungsform: Die übliche Rückführung des lat. burgus und seiner romanischen Kognaten auf eine germanische Etymologie ist unhaltbar, denn massiver Steinbautyp war den Germanen vollkommen fremd; sie haben ihn ja, wie im übrigen die gesamte Steinbauweise, gerade von den Römern13, oder im Fall der Goten eben von den Griechen übernommen; das gotisch. baurgs wird in Streitberg 1910, 18, als ‘Turm’, ‘Burg’, jedoch „häufig“ als ‘Stadt’, d.h. synonym mit griechisch πόλις glossiert; bevor die nomadisierenden Goten in Kontakt mit dem Griechentum gelangten, waren auch ihnen die Steinbauweise und städtische Siedlungsform ganz gewiss unbekannt. Die Entlehnung eines gotischen Worts dieses Bedeutungshorizontes ins Griechische muss man daher ausschließen  (so auch Kluge/Seebold 2011 s.v. Burg). Gewiss ist der Bezeichnungstyp – umgekehrt – vom Griechischen ins Gotische gelangt. Die Goten haben sich bekanntlich recht schnell akkulturiert, wie schon ihre frühe Christianisierung zeigt. So ergibt sich das folgende wortgeschichtliche Schema:

gemeinsame (mediterrane?) Ausgangsform des lat. und griech. Wortes
lat. burg(i)us   altgriech.  πύργος
‘Zivilsiedlung (auch bei einem Kastell)’     ‘Turm, Stadtmauer’
‘turmartige Kleinfestung’
Lehnbedeutung aus dem Griech.
2. Jh.
n. Chr.
 
fra. bourg,
ita. borgo
deu. Burg,    neugriech. πύργος ‘Turm’

3.3.5. Toponomastische Konsequenz

Bei den deutschen und niederländischen Toponymen mit der Konstituente Burg ist in historischer Perspektive scharf zwischen der Lokalisierung in der Romania Submersa und anderen Gebieten zu unterscheiden, denn in der Romania Submersa ist die toponymische Verwendung im engen Zusammenhang mit der Entlehnung des Appellativs deu. Burg < lat. burg(i)us zu sehen. Etliche befestigte Wohnstätten am Limes und in Limesnähe wurden – wie andere Elemente der materiellen und kulturellen Infrastruktur auch – nach dem Zusammenbruch der römischen Organisation weiter genutzt. Das wird, so wie die vorhergehenden Jahrzehnte auch, eine Phase mehr oder weniger verbreiteter Zweisprachigkeit gewesen sein, so dass die Namengebung in der verdrängenden Sprache (hier: Germanisch) nicht von der appellativischen Bezeichnung der benannten Orte in der verdrängten Sprache getrennt werden kann. Namengebung und Entlehnung sind – mit anderen Worten – unterschiedliche, aber eng mit einander verschränkte Aspekte derselben historischen Phase. Außerhalb der Romania Submersa, im einsprachigen Kontext, setzt die Benennung einer befestigten Stätte als Burg dagegen die Existenz des (andern Orts) entlehnten Appellativs voraus.

3.3.6. Interaktive Karte: burgi und Burgen

Kastelle und Legionslager am Limes (direkt oder rückwärtig)
 bis spätestens 260 n.Chr.  aufgegebene Kastelle (meistens im Rahmen des ‘Limesfall’; Link)
Kastelle und Legionslager am Limes (direkt oder rückwärtig) mit mindestens partieller formaler Namenkontinuität (ohne Berücksichtigung etwaiger indirekter Kontinuität in Gestalt von Lehnübersetzungen, wie eventuell Baden  ← Aquae (Helvetiae)
etymologisch wahrscheinlich, aber kein antiker Name überliefert
antike Bauinschrift mit der expliziten Bezeichnung des Gebäudes als  burgus und mit Bezug auf das valentinianische Bauprogramm
,  Kastellstandort mit der Konstituente Burg im aktuellen Ortsnamen
 Kastellstandort mit der Konstituente burg im antiken Ortsnamen
Kastellstandort mit der Konstituente burg im antiken und aktuellen Ortsnamen

3.4. Villae14

Eine kleine, aber für die Organisation der römischen Provinzen wichtige Siedlungsform war das Landgut (lat. villa (rustica)). Darunter versteht man eine ländliche „Einzelsiedlung [die] auf Überschussproduktion ausgerichtet“ (vgl. Päffgen 2019, 34) war. Dieser Typ, der von der Archäologie in überaus großer Zahl nachgewiesen werden konnte,  war von fundamentaler Bedeutung, denn er bildetet „das Rückgrat der Lebensmittelversorgung in den Grenzprovinzen des Imperium romanum“ (Konrad 2019, 247).15

Das Appellativ villa hat sich in den Ortsnamen mit der Basis Weil erhalten. Diese Gruppe von Namen ist zwar nicht sehr umfangreich, aber doch gut belegt; es handelt sich teils um Simplicia, teils um Komposita. Nun hat Irmtraut Heitmeier in einem wegweisenden Aufsatz darauf hingewiesen, dass in diesen Orten oder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft in der Regel tatsächlich große villae rusticae gesichert werden konnten, so in Weil am Lech, nördlich Landsberg, in Baisweil, bei Egweil und in Weildorf im Berchtesgadener Land. Alle liegen an wichtigen antiken Straßen, Straßenkreuzungen oder Flussübergängen. Diese Lage zeichnet auch dieWeil-Namen ohne archäologischen Siedlungsbefund aus, wie z.B. Rottweil am Neckar und Rankweil in Vorarlberg, so dass man dieselbe Etymologie annehmen darf. 

„Als Gemeinsamkeit der hier angeführten Weil-Namen zeichnet sich […] eine wichtige Verkehrslage an Straßen oder Straßenkreuzungen ab und die Qualität  als Herzogs- bzw. Königsgut. Weil-Namen scheinen im Frühmittelalter Domänen zu bezeichnen, die sich unmittelbar aus römischen Strukturen entwickelten und für die Herrschaftsbildung bzw. als Ressourcen der Herrschaftsausübung keine geringe Rolle spielten.“ (Heitmeier 2019, 605)  

Aus sprachgeschichtlicher Sicht kann man weiterhin feststellen, dass sich in den Weil-Namen offensichtlich keine römischen Namen einzelner Landgüter erhalten haben, sondern dass die generische Bezeichnung des Siedlungstyps (lat. villa) gelegentlich zum Namen einzelner Vertreter dieses Typs geworden ist. Auch die Tatsache, dass ein selbständiges  Appellativum ahd. *uuîla, das als Etymon von Weil angesetzt werden müsste, gar nicht belegt ist,16 spricht dafür, die Toponyme mit Weil jeweils als Fälle lokaler Kontinuität anzusehen. Man beachte schließlich, dass die mutmaßlich lateinisch-romanische Konstituente in zusammengesetzten Toponymen sowohl an erster Stelle, wie ein determinierendes Element (z.B. Rankweil), wie auch an zweiter Stelle, also wie ein detrminiertes Element (z.B. Weilheim) stehen kann.; diese Varianz zeichnet auch andere substratale Reste wie zum Beispiel die Reflexe von lat. portus ‘Hafen; Magazin‘ aus (vgl. Piesport vs. Pforzheim).

Aus archäologischer Sicht zeigen sich in der späten Kaiserzeit sehr deutliche Veränderungen des Siedlungstyps: In quantitativer Perspektive ist zunächst unübersehbar, dass im krisenhaften 3. Jahrhundert zahlreiche Villen aufgegeben wurden. Die Villen, die im 4. Jahrhundert weitergeführt werden konzentrieren sich „auf das unmittelbare Umfeld der Zentralorte und die „Nähe der Hauptverbindungswege“ (Konrad 2019, 254 f.). Außerdem änderte sich in qualitativer Hinsicht die wirtschaftliche Struktur durch „Einrichtung eines zweiten ökonomischen Standbeins in Form von Gewerbe“ (Konrad 2019, 256). In einigen Fällen, wie in der Villa Hambach 512 „liegt sogar ein Beispiel für einen kompletten Nutzungswandel vom Gutsbetrieb zu einer kleinen Gewerbesiedlung vor“ (Konrad 2019, 257). Die teilweise oder ganz aufgegebenen Villenareale wurden nicht selten wiederbesiedelt und mehr oder weniger nach- und umgenutzt; die dabei eingesetzte Bauweise sowie etwaige Reihengräber, die in Villenarealen angelegt wurden, lassen auf die zunehmende Präsenz von Germanen schließen:

„Allerdings wissen wir nicht, welche Funktion die germanischen Gruppen im sozialen Gefüge der Gutshöfe einnahmen, ob die zeitgleiche Präsenz einer römischen Bevölkerungsgruppe ausgeschlossen werden kann oder ob […] die im 4. Jahrhundert angesiedelten Germanen zu Trägern der Romanität wurden“ (Konrad 2019, 262 f.).

Man kann im Sinne der Klarheit hinzufügen, dass ‘Träger der Romanität’ nicht mehr als ‘Germanen’, sondern als ‘Romanen’ (mit germanischem Hintergrund) anzusehen sind; ‘Romanität’ ist ja nicht als genetische (oder: genealogische), sondern als kulturelle Kategorie zu verstehen. Außerdem tauchen schon in der späten Kaiserzeit im direkten Umfeld der Landgüter (villae) „weilerartige Kleinsiedlungen“ auf:

„Dieser neue Typ der spätantiken Kleinsiedlung, den wir archäologisch gut in der Raetia II greifen können, stellt möglicherweise ein bedeutendes ‘missing link’ zwischen Römer- und Völkerwanderungszeit dar“ (Konrad 2019, 289).

Natürlich sind regionale Unterschiede speziell zwischen dem Dekumatland nach der Aufgabe des obergermanischen Limes und den anderen Gebieten archäologisch greifbar, aber die im vorletzten Zitat aufgeworfenen Fragen gelten grundsätzlich für die gesamte heute niederländisch- und deutschsprachige (germanophone) Romania Submersa. Jedenfalls muss man angesichts dieser Befunde die Vorstellung eines dauerhaften Nebeneinanders von zwei sich alternativ gegenüberstehenden, scharf unterscheidbaren und womöglich homogenen «Ethnien», einer romanischen und einer germanischen, endgültig ad acta legen.17

Diese archäologisch fundierten Konstellationen sind zweifellos ideale Voraussetzungen für die Entstehung mehrsprachiger Gruppen, die je nach sozialer Organisation und Hierarchie  sowohl mit germanischem wie mit römischem Hintergrund  gleichermaßen plausibel sind. In den Weil-Namen drückt sich diese Phase der Zweisprachigkeit und spätantik-frühmittelalterlichen Kontinuität in geradezu emblematischer Weise aus, nicht zuletzt auch deshalb, da sie zur formalen Basis einer abgeleiteten appellativischen Bezeichnung wurden, die für den neuen Typ von Kleinsiedlung geprägt wurde und die ihrerseits wiederum zu einer produktiven Basis für die Bildung von Toponymen wurde: Die Rede ist von deu. Weiler, das auf eine lat.-rom. Adjektivableitung von  villa mit dem Suffix –āris zurückgeht (vgl. Georges 1913 [1998], s.v. villāris und REW 9332).18 Das Suffix bezeichnet Zugehörigkeit und passt damit semantisch genau zu den Siedlungen, die einer villa räumlich benachbart waren und ihr vielleicht auch funktional zugehörten, ohne mit ihr identisch zu sein. Die Verbreitung dieses Typs in den romanischen Sprachen, die ganz überwiegend in Toponymen und einigen lokalen Varianten (von Nordspanien bis in die Westschweiz und das westliche Piemont) besteht, weist eindeutig nach Westen und damit historisch gesehen ins Merowinger Reich; die Position von Irmtraut Heitmeier 2019 wird also klar bestätigt. Auch der Kommentar des FEW geht bereits in diese Richtung:

„Im gebiet des merowingischen reiches, soweit es von Franken und Alamannnen besiedelt war, ist es in grossem masstab [sic] zur bildung von ortsnamen verwendet worden während der ausbauzeit (7.-9. jh.), zum teil ist es auch an die stelle des fränk. suffixes -ingas getreten“ (FEW en ligne, s.v. vīllaris).

Allerdings ist der Passus zu präzisieren, denn es ist nicht plausibel, diesen lateinisch-romanischen Typ ausgerechnet auf die Franken und Alamannen der „ausbauzeit“ zurückzuführen; entscheidende Voraussetzung kann nur eine von den Archäologen diskutierte „gezielte[…], von Rom gesteuerte[…] Ansiedlungspolitik innerhalb und vor den spätantiken Grenzen“ (Konrad 2019, 288)19 gewesen sein. Der merowingische Ausbau steht – mit anderen Worten – selbst in spätantiker Kontinuität. Die von Bernd Päffgen gestellte Frage nach einem kontinuierlichen Weg „[v]on der römischen Villa zum fühmittelalterlichen Dorf?“ findet somit in der Wortgeschichte von deu. Weiler < lat. villāris eine positive sprachgeschichtliche Antwort (zur Verbreitung der Weiler-Orte in der Schweiz vgl. Ortsnamen.ch, s.v. Wiler, 212 Treffer; villiers, 4 Treffer; villar(s), 21 Treffer; vilier 1 Treffer).   

3.4.1. Interaktive Karte: villa

Toponyme mit der Basis Weil (< lat. villa[m] ‘Landgut’)

4. Verkehrswege

4.1. Straße

Ähnliche Überlegungen wie zu vicus, villa und vor allem burg(i)us lassen sich in Bezug auf Ortsnamen mit der Basis Straße/Strass/Strad  anstellen. Genau wie im Fall von Burg stehen auch bei deu. Straße (< lat. strata) appellativische und toponymische Verwendung nebeneinander. Die Toponyme sind ganz vorwiegend in der Romania Submersa  lokalisiert, so dass man den Eindruck hat, der Namenstyp referiere nicht auf einen irgendeinen Verkehrsweg, sondern grundsätzlich auf eine Römerstraße, die im verdrängten Lateinisch-Romanischen appellativisch als strata bezeichnet werden konnte:

Ortsnamen des Typs. lat. strata: ■ StraatStraß Strad,   Straßlach, Straßwalchen, Straßwend, Straßöd,  Steinstraß, Straßburg, Straßkirchen 

4.2. Kematen

Eher selten, aber im Zusammenhang mit der Basis Straß- (vgl. Krefeld 2020oLink) durchaus interessant ist der, wie es scheint, ganz ähnlich, nämlich über die Bezeichnung eines Verkehrswegs motivierte Ortsnamentyp Kematen.  Der Name ähnelt stark dem älteren deutschen Appellativ Kemenate  ‘heizbares Gemach, Zimmer’ (vgl. AWB, s.v. keminâta, Link und DWB 2011, s.v., Link), das auf ein Ableitung von lat. camīnus ‘Feuerstätte, Kamin zur Heizung’ (Georges s.v., Link) zurückzuführen ist; formal möglich  ist eine Ellipse aus lat. camera caminata ‘mit einem Kamin versehener Raum’ oder einer ähnlichen Nominalgruppe (z.B. casa caminata). Auf einen entsprechenden, um das Nomen verkürzten Ausdruck geht auch fra. cheminée ‘Kamin’ zurück (vgl. FEW en ligne, 138-142, Link). 

Semantisch viel plausibler ist allerdings die Ableitung von dem Wort, auf dem fra. chemin / ita. cammino usw. ‘Weg’ bzw. die Verben fra. cheminer / ita. camminare usw. ‘gehen’ beruhen. Dafür wurde eine vulgärlat. Entlehnung aus dem Gallischen, *cammīnus ‘Weg’, rekonstruiert (vgl. FEW en ligne, 144-148, s.v., Link). Zu diesem Vorschlag passt der etwas beiläufige Hinweis des FEW, die Form sei  

„als reliktwort auch in lothrd. kem «name der römerstrasse Metz-Trier»“ (2, 147, Link)

erhalten. Angesichts der zahlreichen gallischen Ortsnamen kann die Semantik der Entlehnung nicht überraschen; man mag darin auch einen Reflex der Nutzung bereits bestehender Verkehrsverbindungen beim Ausbau des römischen Straßen- und Wegenetzes sehen. Etymon des Ortsnamens wäre also das Partizip *camminata, das im Deutschen die reglhafte Verlagerung des Akzents auf die erste Silbe und eine Synkopierung der sowohl im lat.-romanischen Etymon wie in den deutschen Relikten unbetonten zweiten Silbe erfährt. Eine formal und semantisch analoge romanische Bezeichnug ʧəmə′nɛt ‘Fußweg’ (< *camminata) belegt der AIS (Karte 845 IL SENTIERO – DER FUSSWEG, P 123) in Brusson im Aostatal (Link); Ortsnamen.ch belegt einen Flurnamen via camminata in Bellinzona (Link). Die Grundform kamin(u) (P 190 und Sardinien) sowie unterschiedliche Ableitungen wie sard. kamineɖɖu finden sich ebenfalls auf der genannten AIS Karte; Tessiner Toponyme der Grundform liefert Ortsnamen.ch (s.v. camino).

(1) Die Kematen-Orte weisen durchweg einen Bezug zur römischen Infrastruktur auf; sie liegen teils an wichtigen Verkehrswegen, wie an

(2) Manche sind (teils zusätzlich zu 1) Fundorte römischer Inschriften:

(3) Alle anderen liegen in der Nähe von Orten, für die die Kriterien (1) und (2) gelten:

Lediglich Kematen in Taufers (eine Fraktion der Gemeinde Sand) entspricht nicht ganz diesem Szenario; zwar sind im gesamten Verlauf des nahegelegenen Pustertals etliche Inschriften belegt, nicht jedoch im Tauferertal und ebenso wenig im davon abzweigenden Ahrntal (römischer Kontext).

4.2.1. Interaktive Karte: strata und *camminata

Ortsname der Typen

lat. strata: ■ StraatStraß Strad,   Straßlach, Straßwalchen, Straßwend, Straßöd,  Steinstraß, Straßburg, Straßkirchen 
lat. *camminata:  Kematen
 

4.3. Rott22

Ganz überwiegend in der Romania Submersa verbreitet ist der Typ Rott/Rott‑;  er begegnet sowohl als Simplex wie auch in Komposita in Hydronymen und Toponymen. Grundsätzlich ist multipler Etymologie und volksetymologischen Reinterpretationen zu rechnen; zweifellos relevant sowohl für die Herkunft wie für die Umdeutung sind die Basen deu. roden und rot. Darüber hinaus muss jedoch die dominante Verbreitung in der Romania Submersa unbedingt berücksichtigt werden, so ein primär vorgermanischer Ursprung und eine sekundäre Überlagerung durch die Typen roden/reuten bzw. rot in Betracht kommt.  Ein geeigneter Kandidat ist das Partizip ruptus, rupta des lateinischen Verbs rŭmpere ‘brechen, zerbrechen, gewaltsam öffnen; unterbrechen, abbrechen’ (Georges s.v. rumpo). Dieses Verb, bzw. Partizip ist in unterschiedlichen Bedeutungen im Romanischen lexikalisiert worden.

Eine erste Lesart ergibt sich, wenn man die Grundbedeutung der Verbs auf Siedlung bezieht und als ‘zerstört’ spezifiziert. Speziell im Hinblick auf Rottweil (in römischer Zeit Arae Flaviae) und  Rottenburg (in römischer Zeit Sumelocenna), die beide größere römische Siedlungen waren (vgl. https://vici.org/#13/48.16630160135753,8.659975486353726), käme mit Bezug auf die Zerstörung der Städte durch den Alemanneneinfall im Jahr 260 nach Chr. gut rupta villa bzw. ruptus villae ‘zerstörte Villa’ (Rottweil) bzw. analog  ruptus burgus, bzw. ruptus burgi (Rottenburg) in Frage. Entsprechende Namen finden sich auch in der aktuellen Romania (vgl. ita. Villarotta  https://www.geonames.org/search.html?q=villarotta&country=, Torrotta ‘torre rotta, zerstörter Turm’ https://www.geonames.org/search.html?q=torrotta&country= >, Casalrotto https://www.geonames.org/3207481/casalrotto.html  usw.).

Weiterhin lässt die Lage der beiden genannten württembergischen Orte direkt am Neckar an eine andere, im Italienischen gut belegte Bedeutung der Kognaten von ruptus, rupta denken, denn ita. rotta, venez. rota bedeuten auch so viel wie ‘Deichbruch, Durchbruch einer Uferböschung’ (vgl. <https://www.treccani.it/enciclopedia/rotta>, (???)). So wird der Ortsname La Rotta (Pontedera) auf einem Flussdurchbruch des Arno zurückgeführt, durch den eine Schleife abgeschnitten abgeschnitten wurde (vgl.  https://it.wikipedia.org/wiki/La_Rotta_(Pontedera)).

Aber am bekanntesten ist aber zweifellos der aus der Verkürzung des Ausdrucks via rupta  (vgl. REW-online) hervorgegangene Typ fra. route ‘Landstraße’ / ita. rotta ‘Seeweg’. So liegt Rott (im Landkreis Landsberg am Lech) an der Römerstraße von Epfach (< lat. Abodiacum) nach Raisting (<? lat. Urusa):  

Rott bei Epfach < lat. Abodiacum (Quelle <https://vici.org/#12/47.90645569514953,10.98525013281253>), rote Linie: gesicherte Römerstraße

Auch die beiden oben erwähnten Orte Rottweil (Arae Flaviae) und Rottenburg (Sumelocenna) waren selbstverständlich an das Straßennetz angeschlossen. Während die phonetische Rückführung von Rott < ruptus/rupta analog zu fra. route < (via) rupta vollkommen unproblematisch ist, gibt die Semantik des Partizip jedoch zu denken. Im FEW 10, 573 (s.v. rumpere) heißt es:

„Zu den klat. ausdrücken viam rumpere, iter rumpere ist ein via rupta entstanden […]. Daraus dann rupta, das zweifellos zuerst einen weg bezeichnete, der durch den wald durchgebrochen wurde, indem man gestrüpp und niederholz niederriss […]. Die Übertragung des Wortes auf ausgebaute Strassen findet sich ungefähr seit der zeit, da dem bau derselben mehr aufmerksamkeit zugewendet wurde, seit dem 16. jh. Das Mittelalter hatte das von den Römern geschaffene strassennetz, dass sich noch etwa bis in die karolingerzeit erhalten hat, wenig gepflegt. Daneben hatten sich erdwege ausgebildet, die nur in guter jahreszeit ohne grössere schwierigkeit befahren werden konnten. Bei schlechtem zustand der strasse verbreiterte sich diese immer wieder und es war ein alltägliches vorkommnis, dass wagen in den aufgeweichten geleisen stecken blieben. Aus diesen zuständen erklärt es sich vor allem, dass das Wort | STRATA als appellativum im gallorom. untergegangen ist und dass die vertreter von RŬPTA zur benennung der gebauten strassen herangezogen wurden, da diese wohl meist dort angelegt wurden, wo vorher die primitiven erd- und waldwege durchgeführt hatten.“ (FEW s.v. rumpere)

Die hier skizzierte Wortgeschichte ist kultur- und sachgeschichtlich wenig überzeugend. Es ist zwar richtig, dass „die vertreter von RŬPTA“ in der Galloromania den Typ STRATA ersetzt haben; der Grund dafür sollte jedoch nicht in der Sachgeschichte gesucht werden. Vielmehr sollte als erstes festgestellt werden, dass auch STRATA bereits eine sekundäre Bezeichnung der Landstraße ist. Entscheidend ist die Tatsache, dass überall in der Romania der lat. Typ VIA ‘Landstraße’ ersetzt wurde (vgl. span. carretera, ita. strada/port. estrada, rum. drum usw.), obwohl er sich in anderer Bedeutung durchaus erhalten hat (vgl. fra. voie ‘Weg, Gleis, Fahrspur’, ita. via ‘Straße in der Stadt’). Es wurden also gerade die großen Straßen, d.h. die Fernverbindungen anders bezeichnet. Daraus darf man jedoch nicht schließen, die Römerstraßen seien nach Zusammenbruch der politischen Infrastruktur des Imperium unwichtig geworden – das Gegenteil war der Fall, und noch heute bewegen wir uns oft, zum Beispiel bei der Überquerung der Alpen mit dem Auto, auf Trassen, die seit der Antike genutzt werden. Einem radikalen Wandel sind dagegen der administrative Status und die damit einhergehenden Unterhaltungspflichten der römischen viae unterlegen, insbesondere im Fall der viae publicae, die den Fernverkehr und speziell den Ferntransport von Waren ermöglichten (vgl. KP 1979, 5, 1243-1246).

Vor diesem Hintergrund geben nun gerade manche süddeutsche Toponyme mit der Basis Rott Anlass die Semantik von (via) rupta (und damit auch die Wortgeschichte von fra. route) grundsätzlich zu überdenken. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist das vor allem bayerische und tirolische sogenannte Rottwesen. Der Ausdruck Rott (mitsamt der graphischen Variante Rod), wird  schon im ersten großen bayerischen Wörterbuch von Andreas Schmeller ausführlich beschrieben.

„Die Rott (Rod, vielleicht auch bester so geschrieben), a) Ordnung, Reihe, Tour, in welcher unter Mehrern von jedem eine Verrichtung, besonders unter den Salz-Fuhrleuten auf den Salzstraßen das Fahren, vorzunehmen ist, ndrd. Ghebeurte, Beurt (von ghebeuren, gebühren). „So haben die von Mitterwald eine Rott gemacht, daß keiner nicht fahr, dann es sey an ihm … daß er nicht fahr, dann es sey die Rott an ihm;“ Kr. Ldhl. I, 226, ad 1453. Das Salz wird von Station zu Station durch Roden, Rotfarten, Rodfueren spediert; tyr. L.O. v. 1603. Die Abwechslung im Beriseln (Bewässern) geschieht von den Flurnachbarn nach bestimmten Zeiträumen (Touren) oder Roden, Tagroden, Nachtroden; (Tirol). Zeitschr. III, 463: die Road, periodus, Wasserbezug aus dem Wâl (Wasserrunst durch öde Gründe und Wiesen) per turnum; Absatz beim Geläute. Per rotolo, im Turnus; (Levico). Firmenich I, 62,10: achter Rod, nach der Reihe; of. 501,78: geroden, getroffen. Als sich der Handel mit dem Orient noch nicht um das Cap der guten Hoffnung gezogen hatte, wurden die von Augsburg nach Italien und umgekehrt gehenden Kaufmannsgüter sowohl zu Lande als zu Wasser auf der Rott oder rottweise fortgeschafft. Eine Rottstrâß für Rottgüeter gieng von Augsburg auf bayrischem Boden über die Rottstätte (Stationen) Staingaden, Schwangau und Füßen, oder über Schongau, Achelsbach, Ammergau, Partenkirch, Mitterwald nach Innsbruck. In Füßen und Schongau, wo Niederlagen waren, bildeten die Rottfuerleute, Rottleute, Rottflößmaister zusammen die Rottzunft oder die Rott des Ortes. Lori. Lech.=R. 160. 171. 269. 275. 309. 330. 398. 415. 504. 537. 545. „Rodleuth;“ tyr. L.O. v. 1603. rodelweis, per turnum; Samml. f. T. 1,248. Cf. Roodpferd, roodweis und das Verb abrooden (tourweise vornehmen) bey Stoiber II, 282; auch „fihroutt (Viehrotte) Th. I, Sp. 161;“ Jac. Grimm.

Die Rott, wie hchd. Rotte, (etwa wie das vorige eigentlich eine Abtheilung Vieler, wie sie in ihrem Turnus aufzutreten und zu wirken hat?). […]“ (Schmeller 1877, 187)

Schmeller, auf den sich später auch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm bezieht (DWB 2011, s.v. Rotte 1c)differenziert in seiner Wortbeschreibung zwischen einer allgemeinen Verwendung („Ordnung, Reihe, Tour, in welcher unter Mehrern von jedem eine Verrichtung,[…] vorzunehmen ist“) und spezifischen Kontexten, in denen der Ausdruck lexikalisiert ist. Daebi nennt er z.B. das zeitlich befristete Bewässerungsrecht von Flurnachbarn. Vor allem führt er jedoch aus, dass es sich um einen Terminus des Fuhr- und Transportwesens handelt, der in eine ganze Serie von Komposita (Rottstraße, Rottstätte, Rottleute, Rottgüter, Rottpferde usw.) eingegangen ist. Gemeint ist die Gliederung der Transportstrecke in Abschnitte, dergestalt dass für jeden Abschnitt Fuhrleute (eben die Rott[leute]) oder auch Flößer eines bestimmten Ortes (der jeweiligen Rottstätte) zuständig waren.  Die Waren mussten also jeweils in Stationen mit einem speziellen Niederlagsrecht umgeladen und womöglich zwischengelagert („niedergelegt“) werden. Die Rott ist seit dem 14. Jahrhundert gut bezeugt; sie wurde vor allem im 15. und 16. Jahrhundert meist genossenschaftlich organisiert (vgl. zum Historischen ausführlich Haff 1910 sowie die Einträge im DRW s.v. Rod IV).

Wenn die detaillierten Regelungen der Rott auch spätmittelalterlich bzw. frühneuzeitlich sind, so ist das Prinzip des abschnittsweisen Transportes entschieden älter. Denn es liegt bereits der römischen Organisation des Ferntransports zu Grunde. Bereits der Privathandel war korporativ organisiert:

„Wie aus Inschriften hervorgeht, wurde der Fernhandel und damit wohl auch das Transportgewerbe in römischer Zeit von mächtigen, korporativ organisierten Unternehmern kontrolliert. Eine dieser überregionalen Gesellschaften, welche die Routen befuhr, die zu militärischen Zwecken erbaut worden waren, hiess splendissimum corpus cisalpinorum et transalpinorum («hochansehnliche Körperschaft der Händler dies- und jenseits der Alpen»). Solche Unternehmer waren auch im ebenfalls korporativ organisierten Flusstransportwesen tätig. So nannte sich die Gruppe der Schiffer auf dem Genfersee nautae lacus Lemanni, diejenigen auf den Aare- und Juragewässern hiessen nautae Ararunci Aramici. Aus Vindonissa ist eine Gesellschaft bekannt, die Verbindungen bis nach Italien hatte.“ (Glauser/Tissot 2015)

Aber auch das durch Augustus eingeführt, sehr aufwändige staatliche Postwesen, der so genannte cursus publicus, war streng nach stationes bzw. mutationes ‘Wechselstationen’ gegliedert (der semantische Unterschied zwischen beiden Ausdrücken ist unscharf) und mit mansiones ‘Herbergen’ und stabula ‘Ställen’ ausgestattet (vgl. auch  https://de.wikipedia.org/wiki/Cursus_publicus): 

„Erst Augustus schuf eine regelmässige Briefbeförderung, für die dem hochgebildeten und belesenen Manne der Bericht des Herodot über den persischen Nachrichtendienst (s. Bd. I S. 2185, 18ff.) die Anregung geboten haben mag. Gleich diesem diente sie nur den Zwecken des Staates, nicht auch der Privatcorrespondenz, und so ist es bis zum Ende des römischen Reiches geblieben. Auf den grossen Heerstrassen wurden kräftige Leute (iuvenes) in nicht zu weiten Abständen stationiert, welche die Depeschen empfingen und zur nächsten Station weitertrugen, um sie dort einem frischen Boten zu übergeben. So ging der Brief von Hand zu Hand, bis er in Rom an den Kaiser gelangte. Wenn noch Augustus selbst das Institut wieder änderte, so geschah dies weniger, um grössere Geschwindigkeit zu erzielen – denn in dieser Beziehung stellte es einen solchen Fortschritt gegen die frühere Art der Beförderung dar, dass es den bescheidenen Ansprüchen jener Zeit vollkommen genügte –, sondern er vermisste nur die Gelegenheit, welche vor seiner Reform bestanden hatte, einen Boten, der vom Orte der Ereignisse herkam, auch persönlich ausfragen zu können (Suet. Aug. 49: commodius id visum est, ut qui a loco perferunt litteras, interrogari quoque, si quid res exigant, possint). Er liess daher statt der Läufer auf den einzelnen Stationen Fuhrwerke zum Wechseln bereitstellen. So wurde aus der Briefpost eine Beförderung von Personen. Denn wenn diese auch zum grössten Teil Briefträger waren, so konnten die Wagen doch auch von anderen Leuten benutzt werden, für die ein besonders eiliges Reisen im Interesse des Staates erwünscht war. Diesen Charakter hat der C[ursus]. p[ublicus]. denn auch bis an sein Ende bewahrt.“ (Seeck 1901, 1848)

Es dürfte daher kein Zufall sein, dass die frühneuzeitlichen Rottstationen grosso modo an römerzeitlichen Straßenverbindungen lokalisiert sind. Ganz analoge Einrichtung zu den bayerisch-tirolischen Rottordnungen gab es in der Schweiz (vgl. Glauser 2011, Glauser/Tissot 2015 und Stadler 2012). Wenn man die im oben zitierten Artikel des bayerischen Wörterbuchs von Schmeller (unvollständig) aufgezählten Rottstationen auf der Verbindung von Augsburg nach Oberitalien in den Kontext dokumentierter römerzeitlicher Infrastruktur stellt, ergibt sich folgende Kartenausschnitt:

Rottstationen nach Schmeller 1877, 187; linke Reihe: Via Claudia Augusta, rechte Reihe: Via Raetia; kräftige rote Linie: belegte Römerstraße (ergänzte Quelle https://vici.org/#11/47.668973356764155,10.966583053594157)

Die Verzweigung ab Schongau in eine westliche und eine östliche Reihe entspricht einerseits – wenngleich östlich des Lech geführt – dem Verlauf der Via Claudia Augusta (im Westen) und andererseits der Via Raetia (im Osten). Man beachte das kleine gesicherte Straßenstück südlich von Bad Kohlgrub, zwischen Echelsbach (bei Schmeller Achelsbach) und Ammergau.

5. Sprachliche und archäologisch vermutete Kontinuität in der Synopse

Im Zusammenhang mit burg(i)us (DEFAULT) und villa (DEFAULT) wurde bereits auf den unmittelbaren sprachgeschichtlichen Wert einer archäologisch abgesicherten, sachgeschichtlichen Kontinuität hingewiesen; sie zeichnet sich auch im Fall der großen Römerstraßen (viae publicae) in ganz selbstverständlicher Weise toponomastisch ab (vgl. DEFAULT).23 Indizien für eine mögliche Kontinuität zwischen Spätantike und Frühmittelalter wurden seitens der Archäologie in manchen Fundorten  herausgearbeitet ohne auf toponomastische Befunde zu achten; einige dieser Orte wurden in der folgende Karte (Kartensymbol ) signalisiert (DEFAULT). Darunter sind aber auch Standorte, deren aktuelle Namen sich im Sinne einer korrespondierenden toponomastischen Kontinuität etymologisch leicht aus dem lateinisch-romanischen oder vorromanischen Substrat deuten lassen (Kartensymbol ); in der Mehrzahl erscheinen die bereits erfassten Typen:

Fundorte mit möglicher Korrespondenz von archäologischer und toponomastischer Kontinuität
Pützdorf (Ortsname) Pütz- < ? lat. puteus ‘Brunnen‘
Kinzweiler (Ortsname) Kinz- (< ? lat. quintus?) -weiler < lat. villarium
Steinstrass (Ortsname) strass < lat. strata
Kreuznach < ? kelt.-lat. Crucinacum
Bietigheim-Weilerlen (Flurname) Weil- < lat. villa
▲ Trossingen Tross- < ? vorlat. *drausa ‘Bergerle, Wacholder’ u.ä.

Unter diesen Orten sind sogar zwei (Bietigheim-Weilerlen und Trossingen), die  zwischen dem 260 n.Chr. aufgegebenen obergermanisch-rätischem Limes (Kartensymbol ) und dem späteren Rhein-Iller-Donau-Limes (Kartensymbole ○, ●) liegen und sich also in einem Gebiet befinden, für das man a priori eine sehr viel kürzere, weniger kontaktintensive Phase der Zweisprachigkeit erwartet hätte. Aber wie man sieht, schließt das frühe Aufgeben der militärischen Befestigung die archäologische Nutzungskontinuität ebenso wenig aus wie die toponomastische Kontinuität; das Vorkommen einiger Weil-Ortsnamen (Kartensymbol ) ebenfalls in Württemberg bekräftigt diesen Eindruck.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht interessant ist nun, woran die Archäologie ihre Kontinuitätsvermutung festmacht. Aussgekräftig ist zunächst der Garten- und Feldbau, denn es lässt sich feststellen, dass die entstehenden alamannischen Siedlungen in Fortführung römischer Traditionen Honig produzieren und bestimmte Pflanzen kultivieren:

„Der ausschließlich für die alamannischen Siedlungen des römischen Altsiedellandes charakteristische Nutzpflanzenbestand mit Gewürz- und Gemüsepflanzen sowie Obst, die sämtlich von den Römern eingeführt wurden, spricht im Hinblick auf die Kontinuitätsträger eine ebenso eindeutige Sprache wie die im frühmittelalterlichen Trossingen über Honig nachweisbare Existenz von Obst- und Nutzgärten römischer Tradition. Der Befund zeigt zugleich, wie wichtig bei der Kontinuitätsdiskussion die Berücksichtigung botanischer und geoarchäologischer Befunde ist.“ (vgl. Konrad 2019, 282)

Charakteristisch für diesen Sachbereich sind etliche alte Entlehnungen aus dem Lateinisch-Romanischen in die germanischen Kontaktvarietäten und mittelbar ins Deutsche. Die Kontinuität der Ortsnamen zeigt , dass auch die offenkundige Akkulturation der Alamannen in diesem militärisch früh geräumten Gebiet der Romania Submersa die Entstehung einer – wie auch immer gearteten – Zweisprachigkeit begründet und begünstigt hat, ohne die sich die Entlehnung zahlreicher Obst- und Nutzpflanzennamen sowie entsprechender Geräte- und Tätigkeitsbezeichnungen aus dem Lateinischen ins Germanische gar nicht verstehen ließe.

Hier einige hochdeutsche Beispiele, die auf frühe Entlehnungen zurückgehen und in der Romania Submersa – wo sonst? – vermittelt worden sein müssen; das ganz lateinisch geprägte Vokabular der (Süßwasser-)Fischerei und des Weinbaus bleibt unberücksichtigt (vgl. dazu Besse 2004-2020 und Kleiber 1980):

ahd., deu. lat.
Birne (vgl. Kluge/Seebold 2011, 126), ahd. bira (AWB) < pĭra 
Kappes, ahd. kabuz (AWB) < caputium, vgl. auch capĭtium (REW, 1637), Ableitung von caput ‘Kopf’
Kirsche (vgl. Kluge/Seebold 2011, 493), ahd. kirsa, kersa (AWB, Link) < ceras(i)um
Kohl (vgl. Kluge/Seebold 2011, 512), ahd kôl(i), chôlo (AWB, Link) < caulem, Akk. zu caulis
Kümmel (vgl. Kluge/Seebold 2011, 548), ahd. kumil, chumil (AWB, Link) < cumīnum
Kürbis (vgl. Kluge/Seebold 2011, 551), ahd. kurbiz, churbiz (AWB, Link) < (cu)curbita
Lattich [cite key=“7306″ pre=“vgl.“ p=“561″], ahd lat(t)uh(ha), lat(t)ih(ha) (AWB, Link) < lactūca
Petersilie < pĕtrŏsĕlĭnum (REW, 6448)
Pfeffer (vgl. Kluge/Seebold 2011, 697), ahd. pfeffar (AWB, Link) < piper
Pfirsich (vgl. Kluge/Seebold 2011, 698), ahd. phersih (AWB, Link) (mālum) persicum
pflanzen, Pflanze (vgl. Kluge/Seebold 2011, 698), ahd. phlanzôn (AWB, Link), phlanzunga (Link < plantare, planta
Pflaume (vgl. Kluge/Seebold 2011, 699), ahd. phrûma (AWB, Link) wohl < griech. proūmon, nicht aus lat. pruna (< griech. proūmon), aber in welcher Konstellation?
pfropfen, (AWB, Link) < prŏpāgo (REW, 6780)
pflücken (vgl. Kluge/Seebold 2011, 699), (AWB, Link) < piluccare
Rettich (vgl. Kluge/Seebold 2011, 763), (AWB, Link),  < rādīcem, Akk. zu rādīx
Quendel ‘wilder Thymian(vgl. Kluge/Seebold 2011, 738), ahd, q(u)enala, qenula (AWB, Link) < cunīla ‘Majoran’24
Sichel (vgl. Kluge/Seebold 2011, 847) < sicilem, Akk. zu sicilis
Veilchen (vgl. Kluge/Seebold 2011, 948) < viola
Zwiebel, ahd. cibulli, zibolla (AWB,Link) < cēpŭlla, Dim. zu cēpa (REW, 1820)

Auch die bereits angesprochene Entlehnungsdomäne des Haus- und Siedlungsbaus korrespondiert mit früher Akkulturation der Alamannen, wie Michaela Konradt am Beispiel einer Siedlung auf der Schwäbischen Alb, westlich von Heidenheim feststellt:

„Interessanterweise stellt gerade eine der ältesten elbgermanischen | Siedlungen auf der Ostalb, Sontheim im Stubental, mit seiner gehöftartigen Struktur eine Ausnahme dar, die möglicherweise auch in architektonischen Details, wie der giebelständigen Porticus, Elemente  römischer Streifenhäuser, wie sie vor allem in Kastellvici üblich sind, aufgreift.“ (vgl. Konrad 2019, 281 f.)

Als weiteren potentiellen Sektor lokaler Kontinuität nennt Bernd Päffgen exemplarisch  die Wassermühlen:

„Die im Paartal bei Dasing nachgewiesenen zwei Mühlenstandorte dürften auch im Sinne einer Kontinuität zwischen Römerzeit und Frühmittelalter zu bewerten sein.“ (vgl. Päffgen 2019, 44)

Wiederum finden sich zwei korresrepondierende frühe Lehnwörter:

Mühle (vgl. Kluge/Seebold 2011, 638), ahd. mulin, mulî (AWB, Link) < molina
Müller  (vgl. Kluge/Seebold 2011, 639), ahd. mulinâri  (AWB, Link) < molinārius

5.1. Interaktive Kombinationskarte: archäologische Kontinuität und substratale Toponomastik

Militärische Infrastruktur
Kastelle und Legionslager am Rhein-Iller-Donau-Limes (direkt oder rückwärtig)
 bis spätestens 260 n.Chr. (meistens im Rahmen des ‘Limesfall’; Link) aufgegebene Kastelle am Obergermanisch-Rätischen Limes

Toponyme
○ Kastelle und Legionslager am Limes (direkt oder rückwärtig) mit mindestens partieller formaler Namenkontinuität (ohne Berücksichtigung etwaiger indirekter Kontinuität in Gestalt von Lehnübersetzungen, wie eventuell Baden  ← Aquae (Helvetiae)
etymologisch wahrscheinlich, aber kein antiker Name überliefert
lat. vicus (im Fall der niederländischen Wijk-Namen wurden nur Orte mit römerzeitlichen Funden und/oder solche in unmittelbarer Nachbarschaft von Limes-Kastellen berücksichtigt)
Basis Weil (< lat. villa ‘Landgut’)
Weisweil (Kompositum aus vicus + villa?)
Archäologie
 Orte mit wahrscheinlicher Kontinuität (Spätantike – Frühmittelalter)
Orte mit wahrscheinlicher Kontinuität (Spätantike – Frühmittelalter) und etymologisch möglicher toponomastischer Kontinuität
 Orte mit wahrscheinlicher Kontinuität (Spätantike – Frühmittelalter) und etymologisch möglicher toponomastischer Kontinuität zwischen Obergerm.-Rät. und Rhein-Iller-Donau Limes

5.2. Trossingen und der Karpfen

Die auf der Kartenlegende zuletzt genannte Kategorie (Kartensymbol ) wurde nur ein einziges Mal vermerkt; das aus archäologischer Sicht bereits kommentierte Beispiel, Trossingen, ist toponomastisch schwierig und im Hinblick auf eine substratale Erklärung auch prekär, da eine antike Namensform nicht überliefert wurde. Der Ort liegt aber durchaus in römischem Kontext, nämlich zwischen Hüfingen und Rottweil. Auf der Tabula Peutingeriana erscheint Hüfingen unter dem antiken Namen Brigobanne, der ganz offensichtlich mit der keltischen Basis brĭg- (brica, briga) ‘Berg, Hügel, Höhe’ gebildet ist. Man beachte, dass es in Hüfingen auf dem sogenannten Fürstenberg wohl eine keltische Höhensiedlung gegeben hat (vgl. Wagner/Jenisch 2011 und diesen Link), was bestens zum antiken Namen passt. Zwischen Hüfingen/Brigobannis und Trossingen liegt Bad Dürrheim, das weder ein archäologischer Fundort ist, noch einen antik bezeugten Namen trägt; allerdings ist der aktuelle Name als Durroheim auf einer Urkunde aus dem Jahr 888 bezeugt (Link), so dass eine hypothetische Ableitung von kelt. dūro-, duron, latinisiert durum ‘Festung, Schloss’ keineswegs abwegig ist. Rottweil hieß in römischer Zeit (nach Auskunft der Tabula Peutingeriana) Arae Flaviae; es handelte sich um ein durchaus wichtiges municipium (Link). Ganz in der Nähe liegt Dunningen, wo eine villa rustica und eine  Römerstraße archäologisch gesichert wurden. Außerdem gibt es in diesem, bereits 786 n.Chr. erwähnten Ort merowingische Gräber aus dem 5.-6. Jahrhundert (Link); man sollte also das ebenfalls bereits diskutierte keltische dūnŏn, bzw. latinisiertes dunum ‘umwallte Burg, Festung’  Etymon in Betracht ziehen (dieselbe Etymologie käme auch für Tuningen, östlich von Bad Dürrheim, in Frage).

In diesem Umfeld verdient eben auch Trossingen ein – spekulative – Bemerkung, denn eine evidente Herleitung der Namenbasis aus dem Deutschen gibt es nicht. Die Form passt jedoch gut zu dem vorrömischen *drausa, das im Alpenraum als Appellativ zu Bezeichnung der  Bergerle und anderer strauchartiger Gewächse (z.B. Wacholder) weitverbreitet ist (vgl. bündnerrom   drossa, draus(sa) im DRG, Link) und sich auch in zahlreichen Ortsnamen nidergeschlagen hat (vgl. Ortsnamen.ch, s.v. Tros, Dros, Draus, Drossa und Schorta 1964, 130). In diesem möglichen substratalen Szenario drängt sich auch sofort eine Etymologie für den Namen des nicht sehr hohen, aber überaus markanten sogenannten  (Hohen)Karpfen (Link), in geringer Entfernung südöstlich von Trossingen, auf; denn mit Metathese des /r/ an den Beginn (Karpf– > Krapf-) ergibt sich einer der  häufigsten vorromanischen Flurnamen der Schweiz und darüber hinaus, nämlich crap ‘Fels’ (vgl Ortsnamen.ch, s.v. crap mit 949 Treffern), das ebenfalls auf eine vorrömische Wurzel zurückgeht (vgl. DRG; Link). 

6. Methologische Konsequenzen in der Perspektive der Digital Humanities

Die in DEFAULT skizzierten Kriterien wurden im Hinblick auf ihre Operationalisierbarkeit formuliert und in den vorhergehenden Kapitelen ansatzweise illustriert. Allerdings wurden die präsentierten Beispiele ‘von Hand‘ erarbeitet: Alle Kriterien müssten jedoch systematisch überprüft, d.h. quantitativ erfassbar werden, um die ansonsten schwer vermeidbare Beliebigkeit in der Auswahl der toponomastisch behandelten Materialien und der angelegten Kriterien zu überwinden. Die Voraussetzungen dafür sind mittlerweile durch die digitale Verfügbarkeit  umfangreicher Datenbestände gegeben; dazu gehören u.a. für die Archäologie: vici.org; für die aktuellen Ortsnamen: GeoNames, Ortsnamen.ch; für die antiken Ortsnamen: Pleiades 2000-, TP-Online; grundsätzlich für alle Bereiche: Wikimedia. Auch die oben gezeigten, manuellen Karten greifen ganz selektiv bereits auf diese Angebote zurück. Möglich und aus toponomastischer Sicht erforderlich ist jedoch eine exhaustiv angelegte quantitative Auswertung,25 denn nur so werden die historisch besonders aussagekräftigen regionalen Verdichtungen sichtbar. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bietet in diesem Zusammenhang auch die Befreiung der Präsentation vom Prinzip der alphabetischen Liste, das im Printformat nur schwer vermeidbar ist und das lokale / regionale Konstellationen verdeckt. Dazu ein Beispiel aus einem herkömmlichen onomastischen Lexikon. 

6.1. Beispiel Jachenau 

Im Eintrag zum Namen dieses Dorfs (südlich von Bad Tölz, Oberbayern) erwähnt Reitzenstein 1991 zunächst die Erstbelege, deren grundlegende Bedeutung für die Onomastik außer Frage steht. In diesem Fall liegen zwei verschiedene Formen vor, von denen die eine im Laufe der Geschichte durch die andere ersetzt wurde:

„Als ursprünglicher Name ist 1192 (Kopie des 15. Jh.) Nazareth überliefert, ebenso 1279 Nazareth.  In einer Quelle von 1295 findet sich Jachnawe und Nazareth“ (Reitzenstein 1991, 196).

Im untergegangenen, „ursprünglichen“ Namen, den Reitzenstein für den älteren hält, sieht er eine religiöse Umdeutung durch Mönche des Klosters Benediktbeuern „nach dem Geburtsort Christi“:

„Es liegt wohl lat. acer ‘Ahornbaum, Ahorn’, abgeleitet durch das Kollektivsuffix -ētum, in der Bedeutung ‘Ahornwald’ zugrunde; man vergleiche den rätoromanischen Namen Azareda. Der Anlaut ist wohl auf die Agglutination der Präposition in zurückzuführen, wenn man *in aceretu ansetzt“. (Reitzenstein 1991, 196)

Die Herleitung wird durch die erwähnte rom Parallele (vgl. https://search.ortsnamen.ch/de/record/3071508/) sowie einige (nicht genannte) zugehörigen Varianten, insbesondere solche mit weggefallenem initialem a‑, wie Schareida (vgl. https://search.ortsnamen.ch/de?query=schareida und Schorta 1964, 3f.)26. Da archäologische Evidenz fehlt, ist Nazareth als K? einzustufen. Bei genauerem Hinsehen ist der Beleg jedoch keineswegs so isoliert, wie er im Lexikon wirkt. Denn nördlich des Dorfkerns liegt eine Staffelalm (< lat. stabulum) und südlich eine als Staffel bezeichnete Bergkuppe. Dieser Typ wird im Lexikon im Zusammenhang mit dem Staffelsee, d.h. in der alphabetischen Logik an ganz anderer Stelle erwähnt. Dasselbe gilt für den teilweise zum Gemeindegebiet gehörenden Walchensee sowie die Walchenalm genannte Nachbaralm der Staffelalm. Der in der Romania Submersa nicht ganz seltene Typ Walch (mit der Varianten Wall- z.B. in Wallgau) ist eine ältere Variante des Adjektivs welsch und entspricht einer frühen Fremdbezeichnung der Romanen durch die germanische Bevölkerung; bei Vergabe dieses ursprünglichen ethnonymisch motivierten Namens müsssen also noch Romanen (Walchen) in der Gegend des Walchensees  und der Jachenau gelebt haben (vgl. Krefeld 2020c, Kap. 1.1.2). Die von Reitzenstein vorgeschlagene Herleitung von Nazareth wird so zusätzlich gestärkt. Bei genauerem Hinsehen tauchen im Abstand von wenigen Kilometern noch andere Toponyme mit lat.-romanischer Etymologie auf, denen man ebenfalls den Status K? zusprechen darf, so Großweil / Kleinweil < lat. villa und Weichs < lat. vicus (bei Ohlstadt). Schließlich ist auf das in der antiken Tabula Peutingeriana als Parteno bezeugte Partenkirchen (K+) hinzuweisen. So ergibt sich ein durchaus verdichteter Kontext von möglicher toponomastischer Kontinuität (K?). Vgl. dazu die folgende Karte:  

http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/Jachenau.jpg

Jachenau im Kontext möglicher onomastischer Kontinuität mit Weichs < lat. vicus, Staffel < lat. stabulum, Weil < lat. villa, Walch/Wall = ‘Romane‘ (Grundkarte mit römerzeitlichen Funden: https://vici.org/#12/47.585444599220665,11.319059885253912)
(Lizenz: CC BY SA)

Vor diesem Hintergrund verdient die Erklärung, die Reitzenstein 1991 für die Form Jachenau gibt einen Kommentar, für dessen Verständnis der Hinweis auf die Lage des Örtchens zwischen zwei Flüssen nützlich ist, nämlich der Jachen im Süden und der  Großen Laine im Norden:

„Der Fluß Jachen wiederum ist 1313 als Jachna, 1457 als Jachenaw und 1796 als Jachna, Jachnau, Fluß in Ober-Baiern bezeugt. 1930 wird für Fluß und Tal die mundartliche Form d’jåchna belegt. Daraus ist zu schließen, daß der Gewässername, der auf die Siedlung übertragen wurde, als Grundwort aha hatte. Als Bestimmungswort kann man den erschlossenen Personennamen *Jacho annehmen.“ (Reitzenstein 1991, 196)

Hier werden in wenigen Zeilen gleich drei sehr spekulative Annahmen miteinander verknüpft:

  1. Ohne einen stichhaltigen Grund zu nennen wird die Übertragungsrichtung vom Gewässer auf die Siedlung behauptet; gerade im Fall kleiner Flüsse und Bäche gibt es oft die umgekehrte Richtung (vgl. allein mit der Basis Ache die Leoganger Ache, Kitzbühler Ache, Krimmler Ache, Windauer Ache, Fuscher Ache, Kelchsauer Ache, Venter Ache u.a. (Quelle https://www.geonames.org/search.html?q=ache&country=AT);
  2. Trotz des Labials der Endung ‑au, ‑aw(e) ird das Toponym auf althochdeutsch aha zurückgeführt; bei Ableitung aus dem Germanischen läge jedoch der Typ von neuhochdeutsch Au(e) deutlich näher.
  3. Es wird spontan ein Personenname rekonstruiert; dieses Verfahren repräsentiert angesichts seiner Häufigkeit zwar das billige Allheilmittel der Onomastik, aber man kann nicht umhin darin den Ausdruck semantischer und historischer Hilflosigkeit zu sehen.

Vor dem lokalen Horizont der aufgezeigten Toponyme eventuell lateinisch-romanischer Herkunft (Kategorie K?) ist es jedoch zulässig auch für den Erstbeleg Jachnawe ganz hypothetisch eine substratale Herkunft in Betracht zu ziehen (Status K???); in Frage käme als Basis für die Komponente -awe lat. aqua ‘Wasser’, genauer gesagt ein früher romanischer Reflex, der dem rätoromanischen ava, ova ‘Bach’ entspricht (vgl. die sehr zahlreichen Toponyme unter https://search.ortsnamen.ch/de?query=ava bzw. https://search.ortsnamen.ch/de?query=ova). Nun wurde lat. aqua jedoch bereits als ein mögliches Etymon des Typs Aich / Ache vorgeschlagen (vgl. DEFAULT). Darin darf man keinen Widerspruch sehen.   Denn die lateinische velar-labiale Konsonantenverbindung [kw] (geschrieben qu)  wurde weithin im romanischsprachigen Alpenraum alternativ reduziert, so dass sich entweder die velare Komponente [k] (bzw. sonorisiert als [g]) erhalten hat (vgl. aga, ega, ayga usw.) oder aber die labiale Komponente [w] bzw. [v]  (vgl. ava, ova eva usw.). Interessant ist die lokale Verteilung dieser alternativen Variation, denn beide romanischen Varianten stehen gelegentlich direkt nebeneinander, wie die Ausschnitte aus dem AIS, 1037 zeigen:

Alternative Reduktion von lat. [kw] in aqua zu [k]/[g] vs. [w]/v] (Ausschnitte aus https://navigais-web.pd.istc.cnr.it?map=1037 )
(Lizenz: CC BY SA)

Zu erklären bleibt die Komponente Jachen-. Evidente lat.-romanische Entsprechungen fehlen; denkbar ist immerhin ein Ableitung aus lat. iacēre ‘liegen, lagern’ (vgl. REWOnline 2022 s.v. jacēre ) etwa in Gestalt von *iacium (vgl. Schorta 1964, 178)  und der Präposition in, also *iaciu(m) in aqua ‘Viehlager, Weide im Wasser’ > Jachenau (K???). Präpositionale Fügungen mit ova in der Funktion von Toponymen sind in Graubünden (unter https://search.ortsnamen.ch/de?query=ava bzw. https://search.ortsnamen.ch/de?query=ova) gut belegt, allerdings mit sur ‘über’, traunter ‘zwischen’, da ‘aus, von’ – und nicht mit in.

6.2. Die Walch-Namen

Vielversprechend erscheint auch eine systematische Kontextualisierung der bereits erwähnten Walch-/Wall-Namen. Dazu zwei punktuelle Beispiele. Eine größere Halbinsel in der Scheldemündung (niederländische Provinz Zeeland) zeigt einen vielfältigen Fundkontext mit einer (versunkenen) Siedlung, einem Kastell, einem Heiligtum und Kalkbrennereien: 

Die Halbinsel Walcheren in der Scheldemündung (Quelle: https://vici.org/#11/51.48998589365732,3.8408557758789192/38984 )
(Lizenz: CC BY SA)

In Walldorf (südlich von Heidelberg) finden sich gleich vier villae rusticae.

Vier villae rusticae in Walldorf (südlich Heidelberg) und zahlreiche weitere in der näheren Umgebung (Quelle: https://vici.org/#13/49.303798031641776,8.647342338623046/14668 )
(Lizenz: CC BY SA)

Ein ganz ähnlicher Befund ergibt sich für Großwallstadt (südlich Aschaffenburg) am Main usw.

6.2.1. Beispiel Pfünz 

Auf dem Gebiet des Kirchdorfs Pfünz (K+) an der Altmühl (Gemeinde Walting), wenige Kilometer östlich von Eichstätt, lag das Kohortenkastell Vetoniana; außerdem finden sich einige andere römerzeitliche Fundstellen (eine Villa Rustica, ein Straßenturm) sowie eine – womöglich mittelalterliche – Brücke über die Altmühl. Auch eine Römerstraße überquerte hier die Altmühl. Selbst wenn die bis heute erhaltene Brücke nicht antik sein sollte, wäre es in jedem Fall plausibel den Ortsnamen auf lat. pontem ‘Brücke’ (Akkusativ von pons) zurückführen oder eventuell eine Diminutivableitung davon auf -inu(m); beide Ansätze sind in der Schweiz als Ortsnamen sehr gut oder mindestens gut belegt (vgl. https://search.ortsnamen.ch/de?query=punthttps://search.ortsnamen.ch/de?query=ponte und https://search.ortsnamen.ch/de?query=pontino). Man darf in diesem Fall den Status K+ attestieren, da auch ein archäologischer Fundkontext gegeben ist:

Pfünz im archäologischen Fundkontext  (Quelle: https://vici.org/#15/48.884668508626135,11.269503173400885/4435)

Reitzenstein bemüht jedoch ganz willkürlich, ohne jede nähere Begründung, das Keltische:

Kirchdorf, Gemeinde Walting, Landkreis Eichstätt, Oberbayern
Der Siedlungsname ist wie folgt bezeugt: 889 Phuncina, 1166 (Kopie von 1527) Phonzen […] Es liegt wohl gallisch ponto(n) ‘Transportschiff, Fähre’ zugrunde, das durch das romanische Suffix in(u) abgeleitet ist. Der Name bezieht sich auf den Übergang über die Altmühl.“ (Reitzenstein 303 f.)

6.2.2. Beispiel Waal

Ein anderes, grundsätzliches Problem der etablierten Toponomastik in der Romania Submersa (und auch darüber hinaus) ist die Zuweisung einer rekonstruierten indogermanischen Etymologie. Etliche Beispiele dafür liefert wiederum Reitzenstein 1991; illustrativ ist der Eintrag zu Waal. Dieser Name ist  in Bayern zweimal vertreten, im Landkreis Ostallgäu und im Landkreis Pfaffenhofen a.d. Ilm. Zu einem der beiden heißt es:

„Waal Markt, Landkreis Ostallgäu, Schwaben
Der Siedlungsname ist 890 (Kopie des 12 Jh.) als Walo […] bezeugt. Der ursprüngliche Flurname ist zu indogermanisch *u̯el‑ ‘drehen’ zu stellen; als Bedeutung ergibt sich wohl ‘vom Wasser ausgewaschene Vertiefung’.“ (Reitzenstein 1991, 394)

Das Problem von dergleichen indogermanischen Wurzeln besteht darin, dass sie sich der historischen Stratigraphie der Sprachen in einer bestimmten Gegend entziehen und daher letztlich als unhistorisch anzusehen sind. In der heute bayerischen Romania Submersa lassen sich in der Rückperspektive ja mehrere Strata unterscheiden, die allesamt als ‘indogermanisch’ gelten und regional womöglich noch um mindestens ein – kaum greifbares – vorindogermanisches Stratum erweitert werden müssen (Rätisch/Etruskisch), das ja in wenigen, nicht verständlichen Inschriften sogar dokumentiert ist (vgl. Krefeld 2021k):

Indogerm. Germanisch  
    Slawisch
Lateinisch-Romanisch  
  Keltisch  
Keltisch Rät./ Etrusk.?
  Rätisch? Etruskisch? Vorindogerm.
Vaskonisch?
Vereinfachte Stratigraphie der heute bayerischen Romania Submersa 

Wenigstens im hypothetischen Sinn historisch wäre es dagegen, als Etymon lat. aquālis ‘Kanal, Wasserlauf, Abzugsgraben’  anzusetzen (FEW en ligne s.v. aquālis). Dieses Wort hat sich auch im Bairischen von Südtirol appellativisch als Waal ‘Bewässerungskanal’ erhalten. Da im Fall der beiden bayerischen Toponyme jedoch eine lokale archäologische Evidenz fehlt, sollte man den Ortsnamen Waal den Status K? zuordnen.

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  • Wikimedia = Wikimedia: A collection of 92,217,110 freely usable media files (17.04.2023) to which anyone can contribute (Link).
Der raumbasierte Zugriff auf sprachliche Verhältnisse versteht sich durchaus im Gegensatz zum philologischen – d.h. im Wesentlichen: nationalphilologischen – Zugriff, wie er in Europa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den universitären Disziplinen festgeschrieben wurde.
Man vgl. z.B. den fra. Ortsnamen Villedieu mit einem alten Obliquus, dieu, ohne Präposition in genitivischer Funktion oder den deu. Ortsnamen Baden (mit Belegen in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland), der auf einen alten Plural von Bad zurückgeht (neuhochdeutsch Bäder); ebenso verhalten sich Dorfen, Hausen, Felden anstatt neuhochdeutsch Dörfer, Häuser, Felder. Vgl. auch die Bemerkungen zum Erhalt des lat. Nominativ -s in DEFAULT)
Aufschlussreich ist die Inschrift des Tropaeum Alpium, auf der sämtliche unterworfene Stämme als gentes bezeichnet werden; nur die 15 Siedlungen der Cottii werden als civitates bezichnet, da sie durch die Lex Pompeia bereits zu Munizipien erhoben worden waren; vgl. Lücke 2020c. Weniger klar ist der Sprachgebrauch bei Caesar, der die gallischen Stämme unabhängig von ihrer administrativen Einbindung als civitates bezeichnet.
Zum Verhältnis appellatvischer und nicht-appellativischer, proprietärer Konstituenten von Eigennamen vgl. Krefeld 2020o.
Vgl. Schulze-Forster 2008/2009 zur aktuell breit diskutierten Problematik einer vorschnellen Zuordnung überlieferter Ethnonyme und Fundtypen zu Großgruppen wie ‘Kelten’ oder ‘Germanen’.
Vgl. Hans Volkmann in KP 1979, 4, 316 f.: „Caes.Gall. 5,21,3 gibt die bei den Kelten übliche Benennung ihrer Fluchtburgen, wohl dunum, mit o. wieder. […]  O. war eben urspr[ünglich] die Burg eines ital. Stammes, der durch Wall gesicherte Vorort einer → civitas (I) oder eines Gaues (pagus) […] Durch Bevölkerungskonzentration und soziale Differenzierung wurde die Burgsiedlung zur Stadt, o. zum übergeordneten Begriff für jede stadtähnliche Siedlung ohne Rücksicht auf ihre Rechtsstellung.“
Vgl. dazu Krefeld 2020c, insbesondere Kap. 1.1.2. und die aktuelle Übersichtsichtskarte der Walchen-Namen auf der Seite des Projekts VerbaAlpina.
Diese Polysemie dürfte bereits aus dem Lat. stammen, denn port. pais und spa. país,  die aus dem Fra. entlehnt wurden, bedeuten nur ‘Land’
Man beachte, nebenbei gesagt, die beiden okzitanischen Belege Neuvic / Nuòu Vic (Link) und Saint-Pardoux-et-Vielvic / Sent Pardol e Vièlh Vic (Link), beide in der Dordogne, mit vorangestelltem Attribut. Diese Abfolge muss also keineswegs fränkisch (bzw. germanisch) induziert sein, wie für die Ortsnamen des Typs Neuchâtel oft behauptet wird.
Vgl. zu diesem Kapitel Krefeld 2018ai.
Es ließe sich ein Verb *burginatiare ‘zum burgus machen’ ansetzen, aber in den Romanischen Sprachen sind dergleichen Bildungen auch ohne Infinitiv möglich: vgl. fra. accidenté ‘verunfallt’ vom Subst. accident, ohne ein Verb *accidenter als Ableitungsbasis.
Die formale Ähnlichkeit des lateinischen und griechischen  Wörter deutet, unabhängig von dieser relativ späten Bedeutungsentlehnung auf eine gemeinsame vorindogermanische (mediterrane?) Ausgangsform hin, wie auch Kluge 2011 (s.v. Burg) im Hinblick auf die Ähnlichkeit von griech. πύργος  mit Pérgamos ‛Burg von Troja’ vermutet.
Vgl. diese Liste entlehnter Appellative in Krefeld 2020p.
Dieses Kapitel wurde weitgehend aus Krefeld 2020o übernommen.
Die beiden soeben zitierten Arbeiten geben einen sehr gut dokumentierten archäologischen Überblick.
Für diesen Hinweis danke ich Brigitte Bulitta vom AWB.
Genau von dieser historischen Leitvorstellung wird – leider -noch die jüngst erschienene Publikation von Wiesinger/Greule 2019 getragen.
Brigitte Bulitta danke ich für den Hinweis, dass ahd. uuilarin (Dativ Plural) erstmals als Glossierung von lat. uuilulis (Dativ Plural des Diminutivs villula, zu villa) in einer im Rhein-Main-Gebiet entstandenen Handschrift des 9. Jahrhunderts belegt ist (Vatikanische Bibliothek  Ottob. lat. 3295, BStK 792) ; vgl. Mayer 1982, 32.
Relevante Grabungs- und Fundorte sind: in Bayern Unterhaching, Aschheim, Bergkirchen, Nassenfels, Pförring sowie Wyhl am Kaiserstuhl und Schleitheim-Hebsack am Hochrhein; vgl. Konrad 2019, 288.
Zum genauen Verlauf der alten Straße, die z.B. zwischen Zirl und Seefeld nicht der neuzeitlichen Trasse entspricht, vgl. Planta 1987.
Der römische Kontext wird hier auf Grundlage der überlieferten Inschriften definiert.
Vgl. ausführlicher  hierzu (Krefeld e).
Vgl. am Beispiel der Schweiz Schiedt 2015.
Dieses lateinische Wort hat in der Romania Continua kaum Kognaten; REW, 2397a nennt nur nur kat. conill ‘Löwenzahn’ und das ligurische Kompositum kornabüdʒa ‘Oregano’ (< cunīla bŭbŭla).
Mittel dafür wurden im Frühjahr 2023 gemeinsam mit Stephan Lücke vom Verfasser beantragt.
Anlautendes a– wird in den romanischen Sprachen oft als femininer Artikel (la/a), bzw. als dessen Auslaut interpretiert und fallen gelassen (vgl. lat. Apulia ‘Apulien‘ > it. la Puglia).